Die ‚Natoisierung‘ Europas

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Unsere Reaktionen auf den von Putin entfesselten Ukraine-Krieg standen von Anfang an unter dem spontanen Titel: Putin zwingt zur Re-Militarisierung, und zwar zur Re-Militarisierung des Denkes wie der Politik. (Siehe die Blogbeiträge vom 25.2.2022 – Aufgewacht in einer neuen Welt und 5.3.2022: Barbarei und Widerstand.)

So ist es gekommen, niemand hat das gewollt oder sich gar gewünscht. In die notwendige Verteidigung wird wieder mit hohen Summen und strategischem Denken investiert: gewaltig, gründlich und überraschend schnell. Der historische Natogipfel am 28. bis 30. Juni in Madrid bestätigt dies in aller Deutlichkeit, die Zahlen sind eindeutig.

Die Truppenstärke der schnellen Eingreifkräfte der Nato hat sich von bisher 40.000 auf 300.000 verachtfacht. Die Nato hat ein neues strategisches Konzept entwickelt, in dem der Feind, der abgeschreckt werden soll, klar benannt wird: Russland ist vom strategischen Partner (2010) zum strategischen Gegner geworden. Der „eiserne Vorhang“ (so Churchill 1946) zwischen der Nato und Russland geht nieder (Lawrow).

Die Nato, die vor kurzem noch als „hirntod“ (Macron) bezeichnet worden ist, ist jetzt grösser und stärker – genau das, was Putin strategisch verhindern wollte. „Sie ist nötiger denn je“, unterstreicht der amerikanische Präsident Biden zurecht. Die Präsenz der USA in Europa ist wieder da, nicht nur in Polen und an der Ostflanke, obwohl es im Pazifik eine zweite Front gegen China gibt, womit die USA ein großes weltpolitisches Risiko eingeht. Russland wird als „größte und unmittelbarste Bedrohung“ beschrieben, China als “ Herausforderung“, was ein Euphemismus ist.

Putin, der sich in seinem politischen Denken ein Bündnis freier Staaten gar nicht vorstellen kann, nennt dies „imperiale Ambitionen“. Er sieht sich auf der Höhe seines Hauptgegners USA, „die alles diktiert“, und benennt nun offen „Systemrisiken“ an einem Juristenforum in Sankt Petersburg am 30. 6.. Ex-Präsident Medwedew doppelt nach, indem er von den Sanktionen als „casus belli“ spricht (T-Online). Sollte Putin sterben, so ist Medwedew zur Stelle und wahrscheinlich noch viele mit ihm.

„Russland wollte weniger Nato und bekommt mehr Nato“(Stoltenberg). Statt einer ‚Finnlandisierung Europas‘ findet nun gleichsam eine ‚Natoisierung Europas‘ statt. Zugleich erhält die Ukraine weiterhin die nötige Unterstützung, die es braucht – sagen Biden, Johnson, Scholz und Macron unisono, ohne Vorbedingungen.

Ob dies reicht, bezweifeln zumindest alle kämpfenden Soldaten, die sich äußern. Militärtheoretiker zählen derweil schon wieder die Gründe auf, warum Russland gewinnen wird (von Creveld). Tatsächlich ist die Artillerieüberlegenheit im Donbass (15 zu 1) so groß, dass man sich über die ukrainische Widerstandsfähigkeit wundert. 

Da helfen auch sieben Panzerhaubitzen nicht viel, die als erste schwere Waffen mit großer Verspätung angekommen sind. Obwohl ukrainische Kampfpiloten bei CNN für Kampfflugzeuge gebettelt haben, werden solche ebenso wie Kampfpanzer nicht geliefert.

Die westlichen Waffenlieferungen müssen indes nicht nur weitergehen, sondern noch schneller und grösser werden. Das ist das Gebot der Stunde. Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie lange der Krieg noch dauert und ob er erfolgreich sein wird. Weiterhin kämpft eine Kriegsmaschinerie mit einem Raketenhagel über das ganze Land gegen ein Volk, das weiß, worum es kämpft. Dafür braucht es keine Theorie und keinen Diskurs. Es verdient jede Unterstützung. Die Beitrittsperspektive der 27 EU-Staaten für die Ukraine, auf die Putin erstaunlich gelassen reagiert hat, zeugt von einer ungewöhnlichen historischen Solidarität und Verantwortung.

„Die Situation sieht aus wie ein Patt, doch in Wirklichkeit ist Russland im Vorteil“, so resümiert die FAZ am 29.6.. Dennoch ist inzwischen auch dem letzten Beobachter klar geworden, dass es Russland um nicht weniger als die Unterwerfung und Auslöschung der ganzen Ukraine geht. In diesem Fall kann es keine Kapitulation geben.

Mit welchen realistischen Zielen wird noch gekämpft? Mit welchen Zeithorizonten? Angesichts der barbarischen russischen Kriegsführung sind diese Fragen scheinbar überflüssig geworden. Selenski bezeichnet nach dem Anschlag auf das Kaufhaus in Krementschuk am 29.6. Russland erneut als „Terrorstaat“ und fordert seinen Ausschluss aus dem UN-Sicherheitsrat, was das offizielle Russland besonders ärgert.

Schweden und Finnland mit langer historischer Tradition der Neutralität sind im westlichen Verteidigungsbündnis an wichtiger Stelle (Ostseeraum) neu dazugekommen, nachdem Erdogans Türkei – einmal mehr auf Kosten der Kurden – seinen Widerstand aufgegeben hat. Realpolitik als Machtpolitik hat mehrere Facetten! Mit Schweden und Finnland bereichern indes zwei vorbildliche wehrfähige Demokratien das Bündnis, was ein politischer Erfolg ist.

Wenn Russland jetzt mit Spannungen droht, kann man dazu nur sagen, das sind sich die Länder im Umgang mit ihrem mächtigen Nachbarn längst gewohnt. Russland droht zwar, eine zweite Front wird es jedoch trotz Aufrüstung nicht eröffnen, dafür ist die Nato militärisch zu stark und Russland zu schwach. Erst recht trifft dies auf das Verhältnis bei den konventionellen Streitkräften zu.

Dennoch ist der Konflikt mit Litauen wegen des Transitverkehrs nach Kaliningrad nicht zu unterschätzen. Die Exklave Kaliningrad (das ehemalige Königsberg), das zwischen Litauen und Polen liegt, ist für Russland wichtig, ebenso wie Belarus und die Ukraine. „Die Blockade von Kaliningrad“ soll die russische Bevölkerung an das schreckliche Aushungern von Leningrad erinnern, der 700 000 Menschen zum Opfer fielen (1941-44). Gut wäre, wenn es hier schnell eine zivile EU-Lösung zwischen Litauen und Russland geben könnte, bevor der Konflikt weiter eskaliert.

Putin und seine Propagandisten am Staatsfernsehen provozieren derweil ‚moralisch empört‘ hemmungslos weiter. Ihr Mussolini-Getue kann nur von den eigenen Leuten lächerlich gemacht werden. Ihre Papageien als Militärsprecher sollten sich einmal anschauen, welche Ziele sie konkret treffen. Das Live-Fernsehen würde als Quelle genügen.

Kaliningrad ist als wichtiger Militärstützpunkt gewissermaßen ein Brückenkopf nach Europa, dort sind Iksander- Raketen stationiert, die faktisch atomwaffenfähig sind. Putin hat dies zusammen mit Lukaschenko der Weltöffentlichkeit demonstriert und hält die Nato-Staaten in realer Atomkriegsgefahr. Auf diesen Bereich konzentriert sich die russische Forschung und Rüstung auch künftig, womit ein gefährlicher Rüstungswettlauf im Gange ist.

Bildnachweis: IMAGO / Xinhua