Putins Angriffskrieg zwingt zur Militarisierung. Viele sagen, der 24. Februar sei eine Zäsur in der europäischen Geschichte, sie sind entsetzt und fassungslos.
Putin und seine Bewunderer wollten die EU gerne spalten, und von der Nato war schon lange nicht mehr ernsthaft die Rede, der französische Staatspräsident Macron erklärte sie vor kurzem noch als „hirntot“ und Trump als „obsolet“. Plötzlich ist die EU aber wieder so einig wie selten und die Nato attraktiv selbst für neutrale Länder wie Finnland und Schweden.
Die USA wiederum wendet sich im Rahmen des atlantischen Bündnisses wieder verstärkt Europa zu. Putin und die rechten Putinisten in Europa haben das Gegenteil bewirkt, denn nichts integriert so stark wie ein gemeinsamer Feind und der existiert nun in Gestalt von Putins imperialen Intentionen, mit denen er vor den Augen der Welt ernstgemacht hat.
Er betrachtet den russisch-ukrainischen Konflikt als innerrussische Angelegenheit und missachtet wie schon bei der Annexion der Krim 2014 nicht nur völkerrechtliche Normen, ja mehr noch, er droht Dritten, die sich einschalten wollen, nun unverhohlen mit einem Atomkrieg, der zuvor mit Belarus geübt worden ist. Russland hätte die besseren Waffen, wird selbstbewusst und aggressiv verkündet.
Begründet wird der Angriffskrieg mit einem „Völkermord“ an den ethnischen Russen in der Ukraine, der „Entnazifizierung“ des Landes und einem demokratisch nicht legitimierten korrupten Staat: einer „Bande von Drogenabhängigen, Neonazis und Terroristen“ (25.2.). Ziel des Krieges ist neben dem „Schutz“ der beiden sogenannten ‚Volksrepubliken‘ Donezk und Luhansk, der Sturz der Regierung Selenskyj und die Einsetzung einer russlandfreundlichen Marionettenregierung.
Militärisch wird das Land von allen Seiten her in die Zange genommen mit dem Ziel eines „Enthauptungsschlages“ (Machiavelli) in der Hauptstadt. Am 25. Februar scheint mit dem Vorstoß auf Kiew der militärisch ungleiche Kampf schon entschieden, obwohl man die Heimatfront nicht unterschätzen sollte. Politisch weiß indes niemand, wie es weitergehen soll.
Die russischen Militärs haben ihre Gegner zuvor offenbar lange studiert. Sie wussten um seine Schwächen nach dem Abzug aus Afghanistan. Sie wussten auch, dass die USA und die Nato der Ukraine nicht beistehen werden. Dennoch haben sie sich nicht nur im Sicherheitsrat international isoliert und blamiert, wohlverstanden Putin, Lawrow und ihre Machtclique, die man – brav wie eine Schulklasse – bei der entscheidenden Sicherheitsratssitzung (CNN live am 21. Februar) beobachten konnte, und nicht das russische Volk.
Und ob Putin wie bei der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim der Unterstützung seiner Bevölkerung noch sicher sein kann, steht in Frage. Entgegen Verboten protestierten immerhin Tausende mutig in 44 russischen Städten gegen den Krieg. Vielleicht bedeutet dieser Protest trotz der übermächtigen Staatspropaganda der Anfang des Endes von Putin, der sich verrechnet hat.
Die wahre Angst, die ihn treibt, ist die Angst vor einer Maidan-Revolution 2014 im eigenen Land. Die demokratische Ukraine in der unmittelbaren Nachbarschaft darf deshalb kein Erfolgsmodell werden. Seit den beeindruckenden Massenprotesten gegen Diktator Lukaschenko in Minsk 2020 hat sich der Ton und das Verhalten gegen Oppositionelle weiter verschärft.
Der Krieg in der Ukraine wirft große beunruhigende Fragen auf. Zum Beispiel nach der Bedrohung angrenzender kleiner Staaten wie der baltischen Staaten, die Nato-Mitglieder sind und einst Sowjetrepubliken mit russischen Bevölkerungsanteilen waren. Aber auch nach der Sicherheit von Europa insgesamt und seiner Verteidigungsfähigkeit wird gefragt. Was bedeutet das wiederum für die glaubwürdige Abschreckung der Nato, was für eine europäische Armee, was für die Bundeswehr? Die deutsche Verteidigungspolitik wird sich verändern.
Ist gar eine Europäisierung nuklearer Fähigkeiten nötig, aufbauend auf der französischen Force de frappe? Wird Frankreich der Taktgeber? Wie weit zieht die ‚pazifistische‘ Bundesrepublik mit? Der West-Ost-Konflikt lebt wieder auf, er hat sich nur nach Osten verschoben und eine neue Ernsthaftigkeit gewonnen, wenn sich Russland nun China zuwendet und möglicherweise eine Allianz bildet.
Dann geht es um nichts weniger als um die künftige Weltordnung und verschiedene Ordnungsmodelle. Wie reihen sich die EU und ihre Staaten hier ein, wenn die strategische Souveränität in Frage steht. Realistisch muss man anerkennen, dass es buchstäblich verschiedene Welten und ihre Logiken gibt, die sich in Konkurrenz befinden. Dies ist nach dem 24. Februar ein unbequemes Erwachen mit enormen Konsequenzen.
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