Barbarei und Widerstand

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Der 3. März wird ein weiterer schwarzer Tag für die Ukraine. Der Beschuss und die Einschließung der Städte intensiviert sich. Der Vormarsch auf Kiew geht unvermindert weiter. Nach Putin läuft alles „nach Plan“ im Krieg, der in Russland bei Strafe nicht so heißen darf. Putin sieht sich im Recht bei seiner „Spezialoperation“ gegen die „Neonazis“ an der Regierung (3. März).

Er wird die demokratisch legitimierte Regierung Selenskyj nach dem Sturm auf die Hauptstadt stürzen und durch eine autoritäre Marionettenregierung ersetzen. Genau hier liegt seine größte Fehlkalkulation. Danach wird Kiew aussehen wie Grosny und Aleppo. Die Bilder aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, geben davon eine Vorahnung. Ein so großes Land wird man nicht besetzt halten können gegen einen Partisanenkampf aus der Bevölkerung heraus. Nicht einmal der brutale Stalin hat es geschafft, im finnischen Winterkrieg 1939/1940 zu siegen.

Aus dem Blitzkrieg ist ein flächendeckender Angriffskrieg als „Urbizid“ (Schlögel) geworden. Zivile Opfer werden in Kauf genommen, selbst mit Vakuumbomben und Streumunition. Das Flächenbombardement führt zu einer riesigen Fluchtbewegung, Familien werden getrennt, weil die 18- bis 60-Jährigen an der Heimatfront kämpfen müssen: Barbarei und Widerstand. Nicht nur die selbstbestimmte Nation, auch die wehrfähige Zivilgesellschaft entsteht aus dieser heißen Antithese.

Am 3. März fordert Selenskyj die Einrichtung von Flugverbotszonen, die militärisch durchgesetzt und kontrolliert werden müssten. Das wiederum lehnt der amerikanische Präsident ab, weil es zu riskant wäre gegenüber einem Gegner, der unmissverständlich die atomare Karte auf den Tisch gelegt hat.

Auch der ukrainische Botschafter in Berlin fordert am 4. März verzweifelt weitere Waffen von Deutschland, darunter Flugzeuge, Flugabwehr (‚Patriot‘-Raketen) und Panzer. Die Nato lehnt bisher strikt direkte militärische Eingriffe ab, was unweigerlich zur unmittelbaren Konfrontation mit Russland führen und den Krieg ausweiten würde. Die Nato will abschrecken, aber nicht provozieren – ein schwieriger verbaler und politischer Balanceakt! Allein schon Lieferungen mit wirksamen Waffen zur Verteidigung sind heikel, weil sie das Risiko in sich bergen, selbst zur Kriegspartei zu werden. 

Putin wirft am 4. März tatsächlich den Nachbarländern vor, den „Konflikt anzuheizen“, die wiederum von den Nato-Verbündeten mehr fordern: die baltischen Staaten, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien. An dieser roten Linie allerdings muss das Verteidigungsbündnis militärisch glaubwürdig abschrecken können, was effektive Vorbereitungen erfordert. Am 5. März nimmt der amerikanische Außenminister Blinken in Polen noch einmal darauf Bezug, währenddessen Selenskyj, von der Nato enttäuscht, ihr eine Mitschuld gibt, die Städte nicht schützen zu können.

Biden und Scholz bleiben besonnen und bewahren kühlen Kopf, obwohl die Bilder des Krieges unerträglicher werden. Das ist auch eine Leistung der Politik in dieser schwierigen Situation. In der Nacht zum 4. März kommt es zum Beschuss auf das größte Atomkraftwerk Europas Saporischschja durch russische Panzer. Selenskyj sieht (wörtlich) das „Ende, auch für Europa“. Die Erinnerung an Tschernobyl 1986, das auch eine Zeitenwende war, ist bei der Bevölkerung noch wach. 

In Europa wächst die reale Angst vor einer Katastrophe. Am 3. März wurde jedoch auch verhandelt, was eine kleine positive Nachricht ist, obwohl nicht das erreicht werden konnte, was mindestens benötigt wird: nämlich eine Waffenruhe. Humanitäre Korridore soll (und muss) es geben, damit die Zivilbevölkerung aus den Städten herauskommt, bevor es zum Schlimmsten kommt.

Putin und seine gehorsame Militärmaschinerie, die kein ‚Bürger in Uniform‘ sind, ist nicht mehr zu stoppen. Kein guter Rat dringt mehr durch, auch Telefonate von Macron und Scholz sind vergeblich. Ist Putin verrückt geworden im pathologisch-psychologischen Sinne?

Das wäre zu einfach, auch die Vergleiche mit Zar, Hitler und Stalin helfen nicht, das neue Erschreckende zu erklären, das sich in seiner einstündigen Hassrede zur historischen Begründung des Krieges ausdrückte. Sie war unmissverständlich und in ihrer irren Begriffswahl für uns zugleich unverständlich. Die Physiognomik und der Ton machten sicht- und hörbar, was sich in dieser Person alles angestaut hat.

Doch Putin ist nicht allein und sein System nicht klein, obwohl von Anfang an bestimmte Machtcliquen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Das ideologische Gerüst, in dem er handelt, hat mehrere Stützen und wird von Vielen in den politischen, akademischen und wirtschaftlichen Eliten mitgetragen. Die Vorstellung ist verbreitet, dass Belarus und die Ukraine zum russischen Imperium gehören. 

Die theoretische Grundlage für den Angriffskrieg war schon letztes Jahr im Aufsatz „On the Historical Unity of Russians and Ukrainians “ nachzulesen: „Es gibt kein ukrainisches Volk und kein Recht auf einen Nationalstaat, dieser ist eine Erfindung Lenins“, so die Kurzzusammenfassung. Geopolitiker sagen seit langem, dass sich am Schicksal der Ukraine erweisen werde, ob das große Russland eine ‚ europäische‘ oder eine ‚asiatische‘ Macht werden wird. 

Dahinter verbirgt sich ein gefährliches extremes Denken, bei dem die demokratische Selbstbestimmung vielfältiger Menschen machtpolitisch-imperial übergangen wird. Die Ukrainer kämpfen nicht gegen die Russen, Klitschko: „Meine Mutter ist Russin, es geht nicht um Nationalitäten, es geht um Werte.“

Politiker sind auch das, was sie lesen oder zu lesen bekommen, und sie haben persönliche Erfahrungen, die prägend geworden sind. Sie verfolgen Ziele und Visionen. All das muss man genau kennen, wenn man Putins Handeln erklären will. Das können wir hier nicht rekonstruieren, seitdem er im Jahr 2000 Jelzins Erbe angetreten hat. Es ist eine komplizierte Geschichte, aber auch brutale Kriege wie der Tschetschenien- und Georgienkrieg liegen bereits auf diesem Weg.

Wir können an dieser Stelle lediglich festhalten, dass Träume von alter Größe gefährlich werden, wenn die Macht ungeteilt ist und wenn Widerspruch und zivile Widerstände unterdrückt werden. Die Armee, die auch vor den Augen der Welt für den Atomkrieg modernisiert worden ist, und die Sicherheitsdienste, mit denen der ehemalige Oberstleutnant des KGB groß geworden ist, sind zudem ein besonderer Machtfaktor, der von außen häufig unterschätzt wird.

Die sowjetischen Prägungen liegen auf der Hand. Bekannt ist das Statement von Putin, der 1989 in Dresden war, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20.Jahrhunderts gewesen sei. Russland suchte danach seinen Weg und sucht ihn noch immer, obwohl wir im Westen nur noch über Putin, seine Armee und die Oligarchen sprechen, während in vielen russischen Städten, insbesondere auch in Putins Heimatstadt Sankt Petersburg, zahlreiche mutige zivilgesellschaftliche Bewegungen unterwegs sind.

Der Informationsaustausch über den Krieg kommt langsam in Gang trotz Abschaltung kritischer Medien und mit harten Strafen belegter Zensur. Würde Putin gar das Kriegsrecht ausrufen, wie Gerüchte vermelden, würde er öffentlich seiner Propaganda der Befreiung widersprechen, gegen die nur schwer anzukommen ist. Und der russischen Bevölkerung würde klar werden, dass sie sich in einem Krieg mit einem Brudervolk befindet, der für Russland schädlich ist.

Ein Rätsel ist der ‚großrussische Nationalismus‘, obwohl Russland, der größte Flächenstaat der Erde, ein ‚multiethnischer Staat‘ ist, auch in der Armee. Auf beides ist Putin stolz, wie überhaupt der häufige Gebrauch des Wortes ‚Stolz‘ beim Mann aus einfachen Verhältnissen auffällt. Ihn kränkte zutiefst, dass Präsident Obama Russland als Regionalmacht eingestuft hat.

Putin will aber auf Augenhöhe mit den USA und China ein Weltzentrum sein. Geopolitische Ideologen, welche die Freiheit und Demokratie des Westens nicht nur verachten, sondern auch als schwach ansehen, geben ihm intellektuelle Nahrung. Sie können nicht verstehen, dass Menschen jetzt sagen: „Cherson ist Ukraine“.

Gegen den überlegenen Aggressor kämpfen die patriotischen Ukrainer heldenhaft. Sie werden diesen Kampf auch nach einer Besetzung als Partisanenkrieg fortsetzen. Solange die russische Fahne nicht über Kiew weht, ist der Krieg noch nicht verloren.

Bildnachweis: IMAGO / Xinhua