Zwischen Toleranz und Entschiedenheit. Toleranzedikt als Stadtgespräch 2008 – 2023ff 

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2008 sollte für die Wissenschaftsstadt Potsdam ein „neues Toleranzedikt“ geschrieben werden. Zu Jahresbeginn rief der Oberbürgermeister im Nikolaisaal dazu auf. 

Die inspirierende Steilvorlage aus der Geschichte bildete das historisch bekannte Edikt von Potsdam 1685, das zwar kein Toleranzedikt war – das Wort kommt in den 14 Artikeln auch gar nicht vor! –, das aber im Volksmund so heißt. 

Es war ein Einladungsedikt für die verfolgten Hugenotten zum richtigen Zeitpunkt mit Privilegien und Anreizen. Provozierend für die Gegenwart könnte man sagen: Es war viel mehr als ein Toleranzedikt! Seis drum! Lassen wir diese Diskussion für Historiker auf sich beruhen. 

Die interessantere Frage für uns lautet: Was könnte ein modernes Toleranzedikt von und für heute sein. Und wie macht man sowas?

Den alten Namen ‚Edikt‘ (als Erlass von oben) haben wir mit Bedacht beibehalten. Es schwingt in ihm noch mit, dass es etwas Verbindliches, zwar nicht im rechtlichen Sinne, wohl aber im moralischen Sinne (als ‚commitement‘) sein sollte, auch und gerade als bürgerschaftliches Stadtgespräch, das in die Breite geht und über Erlaubnistoleranz von oben weit hinausgeht.


Organisierte Dialoge 

‚Organisierte Dialoge‘ hieß das organisierende Stichwort für viele kleine alltägliche und große Diskussionen an den unterschiedlichsten Orten der Stadt über 8 Monate hinweg. Es war eine aufschlussreiche und intensive Zeit mit Enttäuschungen und einem großen Eklat (Steinbach).

Am auffälligsten waren die 66 Diskussionstafeln über die ganze Stadt verteilt. Die Bilder der Ausstellung vom 10.10. bis zum 10.11. im Eingangsbereich der öffentlichen Bibliothek am Platz der Einheit vermitteln einen Eindruck, sie sagen mehr als Worte. Die Überraschung war groß, die üblichen Befürchtungen und Vorbehalte auch, von denen sich keine eingestellt haben.

Einige Thesen dienten als Denkanstoß:

  • Nur demokratisch, tolerant und aufgeklärt kann heute noch auf die großen zivilisatorischen Probleme in sozialer und ökologischer Hinsicht noch reagiert werden.
  • Weltoffenheit und Toleranz bedingen sich: Die Entwicklung der eigenen Urteilsfähigkeit im Gespräch mit anderen ist die Grundlage einer lernfähigen Demokratie. Niemand wird als Demokrat geboren.
  • Liberaler Schein ist noch keine liberale Wirklichkeit. In vielen Debatten fehlt es an Toleranz.
  • Die Stadtbürgerschaft ist eine Einwohnerbürgerschaft, die Kinder und Jugendliche ebenso umfasst wie alle Ausländer.
  • Grundlage urbaner Toleranz ist die Verteidigung der Stadt gegenüber den Feinden der Demokratie.
  • So wie die Toleranz eine Konsequenz der Freiheit ist, ist die Solidarität eine Konsequenz der Toleranz.
  • Der Freiheit und Toleranz erwachsen heute in verschiedener Hinsicht – ökonomisch, sozial und kulturell – neue Aufgaben, die nicht geringer, sondern grösser werden.
  • Potsdam ist reich an Möglichkeiten, die zu mehr Toleranz und Solidarität geradezu verpflichten. Wir können heute zugleich freier und reicher, solidarischer und toleranter sein.
  • Eine neue Bürgerschaft fällt nicht vom Wertehimmel, sie bildet sich in Konflikt und Kooperation, Wahrnehmung und Neugierde, Unverständnis und Gespräch.
  • Statt zu stören, ist gelebte Vielfalt ein Grund, stolz auf die eigene Stadt zu sein. 


Wie beurteilen wir die zehn Thesen heute, nach mehr als 15 Jahren? 
Was würde man ergänzen? 
Was anders formulieren?
Was fehlt? 

Die Ausstellung nach mehr als 15 Jahren Toleranzedikt als Stadtgespräch lädt dazu ein, sich darüber und andere Fragen Gedanken zu machen. Wir wollen es weiterführen.

Die Ausstellung soll argumentativ sein und zugleich anschaulich dokumentieren und erinnern. 
An das Erreichte ist anzuknüpfen, und es ist weiterzudenken. Selbständiges Denken bedeutet immer weiterdenken, beginnt aber nicht bei null. 

Ein demokratisch-bürgerschaftliches Toleranzedikt bleibt offen und unabgeschlossen. 
Trotzdem versucht es, Geschichtsbewusstsein zu wahren – und das heute in einer überaus schnellen, auch schnell vergesslichen, von Medienereignissen überfluteten Welt, die uns alle überfordert und die Öffentlichkeit strukturell verändert.

Toleranzdefinition

Ein Ergebnis des Stadtgesprächs war die folgende Definition: 
„Toleranz ist mehrdeutig und bedeutet Geduld, Offenheit und die Zivilisierung von Differenz“ (Neues Potsdamer Toleranzedikt 2008, Seite 22). 

Was ist zu ergänzen? 
Was zu präzisieren? Und: 

Was heißt ‚Zivilisierung von Differenzen‘ (Walzer)? 
Vorschläge sind: 

  • Entschärfung des Tons? 
  • Realismus? Statt Moralismus? 
  • mehr Kompromissbereitschaft? 
  • Lösungsorientierung? 

Oder etwas Anderes? 

So viel als Einstieg in das Toleranzedikt als Stadtgespräch von 2008, in das moderne Toleranzedikt, das erste Richtige, das seinem Namen gerecht zu werden versucht.

Ergebnis war die Broschüre „Neues Potsdamer Toleranzedikt. Für eine offene und tolerante Stadt der Bürgerschaft“. 17.500 Exemplare sind in der Stadt verteilt worden. Heute ist es im Netz: www.potsdamer-toleranzedikt.de 

Wie lässt sich das Toleranzedikt als Stadtgespräch fortführen?

Dazu soll die kleine Ausstellung im Eingangsbereich der öffentlichen Bibliothek beitragen. Sie ist auch für Schulen geeignet und dient als Erinnerung und Anstoß.

Sache und Idee sind jedoch nicht auf Potsdam beschränkt. 
Erst kürzlich stellte der Bildungsausschuss des Landtags nach den Vorfällen an einer Schule in Burg (Spreewald), in deren Gefolge – es ging um die Öffentlichmachung von rechtsextremen Umtrieben unter Schülern – zwei Lehrer, die aus der Region stammten, die Schule nach Hass und Hatz, die sie erfahren hatten, die Schule verließen, Folgendes fest: dass die Demokratiebildung an den Schulen einen breiteren Stellenwert einnehmen muss. 
Das gilt freilich schulisch wie außerschulisch!
Kurze Zeit später wurde die Regenbogenfahne an der Schule gestohlen und durch eine Deutschlandfahne ersetzt. 

Die Idee des Toleranzedikts geht ganz elementar und für jeden nachvollziehbar in die nötige Breite. Es kann und soll nichts verordnen, aber ‚wir‘ (das heißt Bündnisse bilden!) sollten zu erreichen versuchen, dass zumindest buchstäblich für alle eines gilt, dass

HEIMAT dort ist, wo man keine Angst haben muss. 

Werden Menschen bedroht und angegriffen, so haben wir (der Staat sind wir) uns schützend vor sie zu stellen. 

Das ist das Mindeste. Über alles andere können wir sprechen und streiten. 

Auch die Abwehr intoleranter Übergriffe hat zivil und rechtmäßig zu erfolgen. Die wehrfähige liberale Demokratie lebt von der wehrfähigen Zivilität ihrer Bürger und Bürgerinnen, die sich üben und robuster werden muss, aber nicht fanatisch verhärten darf, sowie ihrer demokratischen Institutionen (Wahlen, Abstimmungen, Parlamente, Gerichte), denen Autorität gebührt. Diese Autorität beruht auf Anerkennung. Das Gewaltmonopol des Staates ist dabei unverzichtbar und muss wieder in alle Köpfe.

Die Lausitzrunde in Spremberg, ein Bündnis aus 56 Städten und Gemeinden Brandenburgs und Sachsens stellte verständlich, deutlich und unmissverständlich fest: „Toleranz, Weltoffenheit und Geschichtsbewusstsein sind unverzichtbar für die Gestaltung des Strukturwandels und damit für die Zukunftssicherung unserer Lausitz“ (25.7.2023). 

Bündnisse bilden

2009 wurde in der Französischen Kirche der Verein ‚Neues Potsdamer Toleranzedikt‘ gegründet, um den Schwung des achtmonatigen Stadtgesprächs 2008 aufzunehmen und fortzuführen. Es ist ein zivilgesellschaftlicher überparteilicher Verein mit Personen unterschiedlicher Herkünfte und Berufe. Seine vielfältigen Aktivitäten können auf ‚ Toleranzedikt Facebook'(www.facebook.com/toleranzedikt) verfolgt und diskutiert werden.

Einige wollen wir auf den zehn Tafeln der Ausstellung vorstellen. 
An dieser Stelle will ich nur auf zwei hauptsächliche Bewährungsproben eines modernen Toleranzedikts eingehen:

  • das ist die Flüchtlingskrise 2015 und heute sowie der verbreitete 
  • Hass im Netz und die damit einhergehende Vergiftung der Diskurse, die Menschen (Mobbing) ,   Politiker (Einschüchterung) und die demokratische Auseinandersetzung über schwierige Themen wie Migration, Integration, Islam, Klima durch eine toxische Debattenkultur belasten.


Die Beispiele sind Legion, jüngstes Beispiel ist 2023 die Attacke auf den bekannten Journalisten und Buchautor Constantin Schreiber an der Universität Jena, den wir auch in Potsdam 2017 anlässlich der Diskussion über die Moschee und ihre Gemeinde kennengelernt haben („Inside Islam“). 

Vor der Tür standen damals rechte ‚Identitäre‘ (eine Bewegung, die 2012 in Frankreich gegründet worden ist), um die Diskussionsveranstaltung zu sprengen. In Jena 2023 war es eine kleine linksradikale Gruppe von Studenten, die Schreiber mit einer Torte attackierten. Wie kam es dazu?

Es ist leider eine in Deutschland typische bezeichnende Geschichte geworden, die immer wieder mit bösartigen Verdächtigungen und Unterstellungen (Rassismus, Faschismus, Islamophobie) beginnt (siehe dazu das ausführliche Interview „Jetzt weiß ich, wo du wohnst“, Die Zeit, 14.9.23).

Der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad, dem man im Holländischen Viertel mit vier Leibwächtern begegnete, bedauert den Rückzug von Schreiber aus der Debatte, aber mehr noch „die fehlende Solidarität der schweigenden Mitte“ (Die Zeit, 21.9.23).

Die Erosion der Diskursbereitschaft ist eine Bedrohung für die Freiheit der Menschen, die sich trotz Gedanken- und Meinungsfreiheit rechtfertigen muss, und gleichzeitig eine Gefahr für die liberale Demokratie, die so von innen her zerstört wird, da Menschen aus Angst vor einer exponierten Meinung verstummen. Diese teils offene, teils schleichende passiv-aggressive Gegenaufklärung fordert anlasshalber eine neue Aufklärung heraus, die Bündnisse bilden muss, damit niemand allein bleibt.

Seit 1998 gibt es das Handlungskonzept ‚ Tolerantes Brandenburg‘,
seit 2002 das ‚ Bündnis Potsdam bekennt Farbe‘,
seit 2009 den Verein ‚Neues Potsdamer Toleranzedikt‘.

Die Vielheit handelt

Oberster normativer Bezugsrahmen dieser politischen Aufklärung ist ie verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft. Als Resultat der bürgerrechtlichen Bewegung von 1989 hat sich Brandenburg 1992 eine Verfassung gegeben, die vom Volk in einer Abstimmung angenommen worden ist. 

Das ist ein großer und wichtiger Bogen demokratischer Legitimität, in deren Zentrum die Freiheit steht. In der Brandenburger Verfassung wird außerdem explizit auf die Tradition der Toleranz Bezug genommen. Sie ist die notwendige zivile Ergänzung der Freiheit.

Diese Aufklärungstradition soll heute als selbstgewählte Tradition in starken Bündnissen durch Aktualisierung beharrlich fortgeführt werden. Die verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft, die Realität und Utopie zugleich ist, bezieht alle Individuen ein, die verschieden und anders sein können.

Faktisch muss sie politisch zahlreicher werden und über die sogenannte ‚bürgerliche Mitte‘ hinausgehen, um aktuell eine zeitgemäße Mitte mit Maß und Maßstäben bilden zu können, die auf heutige Herausforderungen, Krisen und Katastrophen antwortet.

Auch dafür, um sich verbünden zu lernen, ist eine offene tolerante Haltung nötig, die streitbar bleiben wird und kann. Toleranz schließt Konflikte und Widersprüche ein, nicht aus. Toleranzedikt als Stadtgespräch kann mithelfen, zumindest ein loses Band der Sympathie zu knüpfen. 

Ein bequemer Weg der Harmonie ist es nicht. Er bedarf, um interventionsfähig zu sein, der Aufmerksamkeit, der intellektuellen Nahrung sowie Überlegung und Diskussion. Das ist die Seite der Übung in politischer Urteilskraft, der Handlungskraft entsprechen muss.

Diese Vielheit handelt („wir sind mehr“), wenn es nötig wird, zum Beispiel:

– „Potsdam baut eine Synagoge“,
– „Potsdam trägt Kippa“,
– „Potsdam hat Platz für eine Moschee“
– „Pogida“ (Pegida aus Dresden) konnte 2016 in der Stadtgesellschaft auch nach zehn Abendspaziergängen nicht Fuß fassen.

Diese Vielheit in Bündnissen kann sogar über Potsdam hinaus Überraschendes zustandebringen. So zum Beispiel das Flüchtlingshilfeportal HelpTo (www.helpto.de.), welches das Flächenland Brandenburg abgedeckt hat und darüber hinaus in 11 weiteren Bundesländern aktiv wurde. Ministerpräsident Woidke nannte es einen „Exportschlager Made in Brandenburg“.

Kleinere und größere Bewährungsproben gibt es immer wieder. Auch der Tag der Einheit am 3. Oktober 2020 war eine. Kurz zuvor im August kam es zur Erstürmung des Reichstages.

Die Frage stellte sich, was für eine Einheit hier gefeiert werden sollte, und was der Beitrag einer Ost-West-Stadt wie Potsdam nach 30 Jahren dazu sein konnte. Wie kommt hier und heute das Dreigestirn des modernen Toleranzedikts ‚Freiheit-Toleranz-Solidarität‘ zum Tragen?

Siehe dazu die Präambel des Neuen Potsdamer Toleranzedikt 2008. Ihr Spezifikum ist die Verbindung von Toleranz und Solidarität. Beides für sich ist einfach und schwer zugleich, ihre Verbindung zu festigen, ist erst recht nicht selbstverständlich und schwierig.

Die größtmögliche Freiheit und deren Zivilisierung ist zentral, die zivile Toleranz gehört notwendigerweise (auch als Zumutung, die nicht zu empfindlich sein darf) dazu und ist einzuüben, und die viel beschworene Solidarität muss man können, etwa im europäischen Städtebündnis ‚Sichere Häfen‘, das die Stadt Potsdam koordiniert.

Bewährungsproben

Deutschland schafft sich nicht ab, haben wir gegen Sarrazins erfolgreiches Sachbuch (eines der erfolgreichsten der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 2010, 14. Auflage) argumentiert: Toleranzedikt als Stadtgespräch statt Sarrazin Theater, denn ein Medien- und Staatstheater war es auf alle Fälle, was sich da abspielte, mit der üblichen Neigung zur Dramatisierung: „Ich hätte eine Staatskrise auslösen können“ (Sarrazin, FAZ).

Auf dem Marktplatz im Schlaatz haben wir am 30. Oktober 2010 beim alljährlichen Toleranzfest folgende Thesen mit dazugehörigen Informationen und Argumenten den Sarrazin-Thesen gegenübergestellt:

  1. Von ‚Überfremdung‘ durch Zuwanderung kann in Deutschland und Brandenburg nicht die Rede sein. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Brandenburg liegt weit unter dem Bundesdurchschnitt. Seit 2008 verlassen mehr Menschen Deutschland als kommen.
  2. Brandenburgs periphere Regionen brauchen neue Leute, weil sie von Alterung und Schrumpfung besonders betroffen sind.
  3. Brandenburg muss offener werden. Das Klima gilt für viele Unternehmen noch immer als nicht besonders fremdenfreundlich.
  4. Deutschland muss offener werden. Laut Allensbacher Institut stimmen 60% der Deutschen den Sarrazin-Thesen zu, nur 13% lehnen sie ab.
  5. Deutschland kann von Staaten mit erfolgreichen Integrationsstrategien wie zum Beispiel Kanada lernen. Die Kanadier setzen nicht nur auf das Anwerben gut ausgebildeter Fachkräfte, sondern sorgen ebenso für Familiennachzug. Deutschland hat 2012 dank Einwanderung wieder mehr Einwohner.
  6. Integration braucht Zeit und Toleranz, was wir aus der Geschichte des Einwanderungslandes Brandenburg-Preußen lernen können.


Was hat sich seit diesen Diskussionen 2010 auf dem Marktplatz geändert?
Was hat die neue Fortschrittskoalition seit 2021 umgesetzt?
Die liberale Gesellschaftspolitik war ihr ein wichtiges Anliegen (siehe Koalitionsvertrag)!
Neues Staatsbürgerschaftsrecht und ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz gibt es jetzt, nachdem in den 90er Jahren noch darüber diskutiert wurde, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland ist.

Und was haben wir aus der Flüchtlingsproblematik von 2015 gelernt?
Wir – die Kommunen, Bürger und Politiker!
Sind wir in Europa Schlafwandler der Migrationspolitik geworden? 

Flüchtlingshilfe: Von der Notsituation zur Integration

Im Jahr 2015 kamen über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Seitdem engagieren sich viele Menschen auf vielerlei Weise ehrenamtlich für gute Integration. Der Verein ‚ Neues Potsdamer Toleranzedikt‘ hat im Oktober 2015 das Online-Portal www.helpto.de gestartet, um Hilfe und Koordination vor Ort zu unterstützen. Ursprünglich nur für Potsdam gedacht, wurde das Portal schnell bundesweit nachgefragt und wurde in zahlreichen Städten und Landkreisen aktiv.

Es ist inzwischen ein Portal für Flüchtlinge und sozial Bedürftige.
Ab März 2022 wird es auch für Flüchtlinge aus der Ukraine benutzt.

Die Probleme der Kommunen von 2015/16 wiederholen und verstärken sich derzeit!
Bürgermeister und Landräte aller Parteien sprechen von einer dramatischen Lage an der Zumutbarkeitsgrenze bezüglich Unterbringung, Schulen, Kita, Sprachunterricht und Integration. Das ist politisch gefährlich. Der Deutsche Städtetag schlägt Alarm.

Wie können die Probleme angegangen werden, die nicht allein, lokal, regional oder national zu lösen sind? Diese Diskussion müssen wir jetzt sachlich und fundiert führen und schnelle Lösungen finden.
Zuwanderung zu begrenzen, ist nicht verwerflich (Gauck), und die europäisch abgestimmten Problemlösungen sind schwierig, die allerdings seit vielen Jahren ausbleiben.

Hass im Netz/Vergiftung der Diskurse

Auch und gerade schwierige Probleme der Zuwanderung, des Asyls und der Integration bedürfen demokratischer Lösungen,, die von heterogenen Bürgerschaften getragen werden. Die Kommunalpolitik ist die Schnittstelle zwischen den Bürgern und ihren Lebenswelten.

Demokratische Politik muss sich hier bewähren und technokratische Mehrebenenpolitik, einschließlich der EU, darf die Kommunen als Orte der Demokratie der Bürger und Bürgerinnen nicht vernachlässigen. Das wäre schlechtes demokratisches Regieren!

Eine Politik des (Fremden-)Hasses und der Gewalt lässt sich jedoch mit ziviler Demokratie, die auf Gewaltverzicht gründet, nicht vereinbaren. Deshalb ist auch das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaates zu achten genauso wie die Ordnungskräfte, die dies durchsetzen müssen.

Beginnen wir beim ‚hatespeech‘ als Vorstufe einer Politik der Gewalt, die per se faschistisch ist, denn der Faschismus hat diese Politik auf der Straße erfunden.

Das neue Toleranzedikt hat ( zusammen mit anderen) die erste bundesweite Kampagne
www.stoppt-Hasspropaganda.de gestartet.

Zu den ersten Schritten gehört die Überprüfung der Informationen, um nicht zum Mitläufer zu werden:
„Erst prüfen, dann teilen.“

Trotz geschickter Manipulationen, die technisch permanent verbessert werden, müssen wir nicht zu Handlangern viraler Hetze im Netz werden. Fake News werden oft wiederholt. So wird wahr, was sich oft wiederholt, obwohl lediglich Fehlinformationen und krasse Fehlurteile weitergeleitet und verstärkt werden.

Wir sind souveräne Bürger und Bürgerinnen (Volkssouveränität) und versuchen es, auch gegenüber nahezu überwältigender Prozesse zu bleiben. Gegen den Shitstorm als neuen Souverän kämpfen wir für unsere Rechte auch im Netz. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Der Kampf um Rechte, universale Menschenrechte, Grundrechte und Grundwerte gehört zur Entschiedenheit, die der Indifferenz abgerungen werden muss.

Ausgrenzung, Hetze und Hatz gegen andere Menschen dürfen wir schon gar nicht passiv hinnehmen.
Die lauten Minderheiten gewinnen dann über die stillen Mehrheiten im Kleinen, an der Schule und im Alltag wie im Großen in der Demokratie über eigene Öffentlichkeiten die Oberhand.
Gesellschaftliche Mehrheiten können so schnell und wirksam umgedreht werden!
Die Verteidigung der Demokratie bedarf deshalb einer kämpferischen Toleranz.

Wer die Macht hat, bestimmt die Wahrheit. Manche diagnostizieren schon, dass wir in einer Zeit ’nach der Wahrheit‘ leben : ‚Post-Truth‘- und Fake-Zeitalter.

Was ist Wahrheit?
Wir kommen ihr näher durch das Bemühen um Objektivität (Sachlichkeit) und subjektive Ehrlichkeit (Wahrhaftigkeit) sowie Intersubjektivität , indem wir den Austausch und das Gespräch suchen.

Die Idee hinter dem Toleranzedikt als Stadtgespräch

Die Frage ist, ob eine Toleranzdiskussion auch über aufgeregte, sachlich und emotional schwierige Themen in Ruhe und überlegt zu führen ist, zum Beispiel darüber, ob Lärmdemos vor Privathäusern ein legitimes Protestmittel sind, und gleichzeitig das Nicht-Tolerierbare entschieden und wirksam abgelehnt werden kann.

Für beides brauchen wir eine politische Kultur. Toleranz und Entschiedenheit schließen sich nicht aus.

Es gelingt:
„Das neue Toleranzedikt ist ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt“ (Märkische Allgemeine, 14.9.2012) Denn: Es war vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (fünfseitige Begründungsschrift) mitentscheidend dafür, dass der Oberbürgermeister als direkt gewählter Repräsentant der ganzen Stadt, die Potsdamer dazu aufrufen durfte, zum Toleranzfest zu kommen und gleichzeitig ein friedliches Zeichen gegen Rechts zu setzen (die Blockade der Brücke nach dem Bahnhof).

Das war ein bisher einmaliger Vorgang, der am Städtetag diskutiert worden ist und in die Forschung eingegangen ist (siehe Asmus Hg., Rechte Aufmärsche und demokratische Proteste in Brandenburg, Potsdam 2013).

Der Protest blieb friedlich trotz verschiedener Gegendemonstrationen. Insofern kann man sagen, dass sich eine ganze (heterogene) Stadt erfolgreich dagegen gewehrt hat, dass Neonazis (damals die NPD) sie als Aufmarschgebiet benutzen konnte. Siehe auch die Demonstrationen gegen Pogida 2016 in verschiedenen Stadtteilen, wo erstmals bunt gemischt, jung und alt und nicht nur die ‚üblichen Verdächtigen‘ auf der Straße waren.

Bildnachweis: Neues Potsdamer Toleranzedikt, Thomas Rosenthal.