Die Ausstellung „Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin vom 9. Dezember 2022 bis 24.11.2024 (www.dhm.de) macht an 14 wegweisenden Zäsuren deutscher Geschichte von 1848 bis 1989 sichtbar, dass die Geschichte nicht so selbstverständlich auf ein Ziel hin, teleologisch festgelegt ist, wie Geschichtsschreibung oder Geschichtserzählung suggerieren.
Auch unsere Gegenwart war einmal eine „vergangene Zukunft“ (Koselleck, Ffm. 1979), die offen und unbekannt war, so wie heute. Erwartungsanalysen aus der Zeit heraus sind aufschlussreich: Es hätte immer auch anders kommen können. Es kann anders kommen, weshalb wir in der Gegenwart politisch auf verschiedene Szenarien vorbereitet sein müssen und uns nicht in falscher Sicherheit wiegen dürfen. Politische Theorie denkt in Szenarien.
Das meint die Kategorie der Kontingenz, auf die es dem deutsch-israelischen Historiker Dan Diner ankommt, der Initiator und Ideengeber der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum war. Sie wurde vor dem 24. Februar 2022 konzipiert, der zu einer überraschenden Zeitenwende geführt hat: „Ein Zeitsog in eine längst überwunden erachtete Vergangenheit“ (Diner), der uns im Folgenden wie ein dunkler Schatten begleiten wird.
Die Sichtbarmachung der Kontingenz durch Bilder, Schriftstücke und andere Objekte „bricht mit der ‚teleologischen Wahrnehmung‘ insofern, als sie Ereignisse und Tendenzen hinzunimmt, die nicht wirklich geworden sind“ (Diner in der Eröffnungsrede). Die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeiten wird so offengelegt, sie liegen nahe beieinander und machen das Drama der politischen Geschichte aus. Ausstellungen und Theaterstücke sind geeignete didaktische Mittel, um das zu zeigen.
Die Wendepunkte deutscher Geschichte sind derart mit Bildern dargestellt, dass sich die Besucher fragen müssen: Musste es so kommen, wie es gekommen ist? Die nötige Begrenzung des Zeitraumes lässt sich so verstehen, dass eine gescheiterte Revolution (1848) mit einer gelungenen demokratischen Revolution (1989) im Dialog stehen, der lehrreich sein kann für die Bekräftigung einer bürgergesellschaftlichen Demokratie heute. Diesem Zweck dient auch der in Potsdam eingerichtete Max-Dortu-Preis, der bisher drei würdige Preisträger gefunden hat. Auffallend ist allerdings, dass der Schwerpunkt der Ausstellung beim Nationalsozialismus liegt.
Dieser Abschnitt beginnt mit der Entlassung von Reichskanzler Brüning im Mai 1932, der das Land aus der Wirtschaftskrise herausführen wollte. Er versprach, bis zu den Wahlen im Herbst 1934 durchzuhalten. Der Aufschwung kam Hitler zugute, der – damals unerwartet – am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde: die NS-Presse sprach von einem „Wunder“ und der sozialdemokratische ‚Vorwärts‘ von einem „Faschingskanzler“.
Die Nazis waren bereits im ‚Niedergang‘: bei den Wahlen im Herbst 1932 verloren sie mehr als 2 Millionen Stimmen. Hitler sieht man am 30. Januar 1933 auf Bildern wohlgelaunt im besten Sonntagsanzug unter seinen Kabinettskollegen mit Göring als Innenminister, der die Machtmittel des Staates – Justiz und Polizei – rücksichtslos gegen seine politischen Gegner einsetzen wird. Hätte die Reichswehr putschen sollen/können, um Hitler noch zu verhindern?
Darüber können spezialisierte Historiker trefflich (und endlos) streiten, was sie im Begleitprogramm zur Ausstellung auch tun. Am 30. Januar 2023 steht in der ‚Zeitung für Deutschland‘: „Die Kanzlerschaft Hitlers war vermeidbar“ (S.1/S.6) und „Hitlers Koalitionspartner unterschätzten den ‚Führer‘ “ (S.8).
Die Macht, die ergriffen wird („Machtergreifung“), wird allerdings übergeben. Die Machtergreifung ist “ weder ein zwangsläufiges noch zufälliges Ereignis “ (Winkler, Tagesspiegel, 30.1. 2023, S.16). Im März 1936 hätte zudem Frankreich mit der damals stärksten Armee Europas noch militärisch auf die Militarisierung des Rheinlandes reagieren können.
Auch das Jahr 1942 sei „noch nicht genügend historisiert“, so Diner, was Perspektivwechsel bis hin zum postkolonialen Diskurs einschließt. Wichtig ist nur, dass man sich nicht von einem Diskurs beherrschen lässt. Diner legt in seinem Buch „Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942 “ (München 2021) dar, wie die Briten in El Alamein gegen Rommel (1942) und die Rote Armee in Stalingrad (1942/43) Hitlers Armee am Boden besiegten, bevor sie über Kairo nach Palästina hätte vordringen können – eine Möglichkeit, die auch in Israel gerne verdrängt werde (Diner).
Oder der 20. Juli 1944, der Tag des Widerstandes, der an Zufällen scheiterte. Welchen neuen Möglichkeitsraum hätte er eröffnet? Auf der gegenüberliegenden Ausstellungswand steht nur knapp: „zu spät“. Der Holocaust war vollzogen, worauf sich der wohl bekannteste Begriff von Diner „Zivilisationsbruch“ (1988) bezieht. Der Historiker Winkler meint, dies sei “ die Frage aller Fragen: Warum gerade in Deutschland? Was waren die besonderen Bedingungen, die zu diesem Bruch mit allem führte, was auch zur deutschen Tradition gehörte, (…)“ (Winkler, a.a.O., S.17).
Es soll insgesamt 42 Attentate auf Hitler gegeben haben, alle sind sie gescheitert. Nicht die Militärs, sondern der Schreiner und Einzelgänger Georg Elser, der sich schon 1938 dazu entschied, hat den Mann der „Vorsehung“ im Bürgerbräukeller am 8. November 1939 in München am effektivsten verfehlt: „Er hätte die Welt verändert“ (so der Film 2015).
Oder die Kapitulation am 8. Mai 1945. Zu diesem Zeitpunkt war die Einsatzfähigkeit der Atombombe noch nicht erwiesen. Das war erst im Juli der Fall (Trinity Test), in Potsdam fällt die Entscheidung (Müller 2011). Am 6. August findet der erste Abwurf über Japan in Hiroshima statt. Das Bild der verwüsteten Stadt ist noch immer angsteinflößend. Was wäre passiert, wenn Deutschland später kapituliert hätte?
Hier spielt die nicht erfolgte Sprengung der Brücke von Remagen eine Rolle: der Sprengstoff reichte nicht und war zu schwach, so dass die US-Armee den Rhein überqueren konnte. Die Brücke blieb stehen trotz aller Versuche, sie aus der Luft mit Raketen und durch Kampftaucher zu sprengen. Sie wurde erst später, als es zu spät war, zerstört. Ein Stein aus dem dortigen Friedensmuseum erinnert in der Ausstellung daran.
Die damaligen Ereignisse prägen die militärpolitischen Mentalitäten bis heute: der ‚robusten Briten‘, der ‚coolen Amerikaner‘, der ‚ängstlichen Deutschen‘, der ‚ressentimentgeladenen Russen‘, der ‚mutigen Polen‘, der ‚heroischen Ukrainer‘ u. a. Die Vergangenheit reicht in zweierlei Form in die Entscheidungen der Gegenwart hinein:
– unterbewusst über Prägungen und
– sehr präsent über offene Wunden in Osteuropa (siehe dazu Davies/Makhotina 2022).
Was hat man aus der Geschichte gelernt, gerade in Deutschland, wenn man sagt, Kriege werden nie auf dem Schlachtfeld gewonnen. Die Alliierten und die Sowjetunion, von den Amerikanern mit Flugzeugen und Panzern unterstützt, haben es Hitlers scheinbar überlegener Armee, letztere mit dem größten Preis (24 Millionen Tote), am Boden gezeigt.
Erst Hitlers Vernichtungskrieg (1941) hat Stalins Sowjetunion im „Großen Vaterländischen Krieg“ ruhmreich gemacht. Diesmal will es Putins Russland wieder zeigen als „Regime der Revanche“ (Thumann 2023) gegen die USA und die Nato: “ Wir können es wiederholen“ – moschem powtorit! „Der Sieg ist noch nicht zu Ende.“ Der 9. Mai 2022 hat es demonstriert.
Putin hat 2023 beim Gedenken an die furchtbare Belagerung von Leningrad im 2. Weltkrieg, dem heutigen Sankt Petersburg, von einem „Verteidigungskrieg“ Russlands gesprochen und nicht von Angriffskrieg und Zerstörung der Ukraine. Dahinter steckt die große Propagandalüge. Alles wird davon abhängen, wie die Bevölkerung darüber denkt. Wir wissen es nicht, aber wir kennen die russische Militärdoktrin. Am 2. Februar 2023 wird zum 80. Jahrestag Wolgograd wieder in „Stalingrad“ umbenannt, und Putin hält seine bisher „härteste Rede“ (laut dem Moskau-Korrespondenten Rainer Munz, ntv 2. Februar).
Selbst die scheinbar so stabile Bundesrepublik war nach ihrem formalen Gründungsdatum 1949 nicht ultrastabil, obwohl es laut Diner die richtigen Grundsatzentscheidungen auf „dem langen Weg nach Westen“ (Winkler) getroffen hat. In seinem auch für die politische Theorie instruktiven Buch „Das zwanzigste Jahrhundert verstehen“ (München1999) stellt er die große Bedeutung der atlantischen Revolution heraus. Darüber ein Seminar zu machen, lohnt sich, denn durch diese Geschichte als Aufklärung muss man durch, um heute zu einer eigenständigen differenzierten Position zu kommen.
Schon 1952 hätte Deutschland einen ganz anderen Weg nehmen können. Die Stalinnote bot ein wiedervereinigtes Land um den Preis der Neutralität an, dem der katholische Rheinländer Konrad Adenauer mit seiner forcierten Westintegration einschließlich Wiederbewaffnung und Nato (1955) eine apodiktische Absage erteilte. Ausgestellt dazu ist eine Streichholzschachtel von 1951 mit der Aufschrift „Um des Friedens willen. Deutschland an einen Tisch!“. Aus dem Jahr 1954 stammt das Plakat „Angst vor dem Atomkrieg“.
Diese Jahre sind 2023 auch Thema am deutschen Fernsehen (ARD) mit der markanten Serie „Bonn: alte Freunde, neue Feinde“. Sie ist zugespitzt auf die beiden Protagonisten Reinhard Gehlen, der den Auslandsgeheimdienst (BND) und den Widerstandskämpfer Otto John, der den Verfassungsschutz aufbaute.
Die Bilder vom Checkpoint Charlie 1961 wiederum, wo sich sowjetische und amerikanische Panzer mit laufenden Motoren gegenüberstanden, sind weltbekannt, und locken noch immer zahlreiche Berlin-Touristen an den Ort des Geschehens. Was in den Berlin-Krisen hätte ausbrechen können, trug sich zu als erster ‚Stellvertreterkrieg‘ im Korea-Krieg (1950-53), der die Blockbildung in Europa verstärkte.
Bis heute gibt es keinen Friedensvertrag zwischen den beiden Teilen des getrennten Landes. Schutzmacht des armen, aber atomar ambitionierten und gefährlichen Nordkorea ist China. Südkorea bereitet sich gegenwärtig auf einen Krieg vor, und Japan ist von seinem verfassungsmäßigen Pazifismus abgerückt und hat seinen Verteidigungshaushalt verdoppelt.
Über den Fall der Mauer 1989 sollten wir tatsächlich noch immer staunen. Kurz zuvor war die Redeweise in Europa verbreitet, dass nur ein geteiltes Deutschland ein gutes Deutschland sei, und minoritär, aber heftig wurde die Parole „Nie wieder Deutschland!“ ausgegeben. Diner hält es für „wahrscheinlich, dass die Führung der SED eine chinesische Lösung wie auf dem Platz des Himmlischen Friedens angestrebt hätte“ (Spiegel,17.12.22, S.116).
Mehr als andere kommunistische Parteien hatte die SED im Juni noch das brutale Vorgehen in Peking begrüßt, wie zuvor schon 1968 das sowjetische Vorgehen der Panzer in Prag (Breschnew-Doktrin). Ausgestellt ist dafür ein Schild aus einer Demo in der DDR „Achtung! Krenz. Das ist der himmlische Frieden.“ Die demokratische Revolution benötigte den Mut der Bürger und Bürgerinnen.
Lehren aus der Geschichte
Das alles sind Beispiele für (potenzielle) Wendepunkte angesichts von Geschichtserwartungen. Um Lehren aus der Geschichte ziehen zu können, muss man die Geschichte historisieren, worin historische Aufklärung besteht, die “ nicht eingetretene Möglichkeiten verdeutlicht“ (Diner).
Diner spricht im Spiegel-Interview von „geschichtsphilosophischen Überlegungen“ statt von Wahrscheinlichkeitstheorie. Nun hat Geschichtsphilosophie nicht gerade einen guten Ruf. Genauer: Die neuzeitliche Geschichtsphilosophie hat zur Orientierung des Fortschritts an Überzeugungskraft eingebüßt (Fortschrittskrise). Folgende Varianten geschichtsphilosophischer Überlegungen bleiben:
– Geschichtsphilosophie als differenzierte Fortschrittstheorie
– Historismus
– Historizismus als Theorie der Geschichte, die Gesetzmäßigkeiten kennt
– analytische Geschichtsphilosophie als Narrativismus (Danto 1965)
Historismus darf man nicht mit Historizismus verwechseln (Popper, Tübingen 1965), er ist das genaue Gegenteil und geht von der Einmaligkeit der Ereignisse aus ebenso wie der moderne zukunftsgläubige Fortschritt, weshalb auch die antike ‚Historia magistra vitae‘ als Exempelsammlung des guten Redners (Cicero), die noch für Machiavellis politische Theorie maßgeblich war, zunehmend entthront wurde.
Der Philosoph Herbert Schnädelbach behandelt den Historismus (und seine Probleme) als eine Gestalt der Aufklärung, als „historistische Aufklärung“ (Geschichtsphilosophie nach Hegel, Freiburg/München 1974). Der Philosoph Hermann Lübbe hat sich ebenfalls, immer wieder, mit historischer Aufklärung und ihren politischen Bedingungen beschäftigt. Problematisch wird es, wenn Geschichtsphilosophie der Politik als Legitimation dient.
Sein Buch „Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse“ (Basel/Stuttgart 1977) ist eine Apologie des Historismus, auch und vor allem für Historiker. Sein Freund und Kollege Odo Marquard hat derweil die Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie herausgestellt (1973). Eine Abklärung der Aufklärung ist dies nicht, vielmehr eine Nachaufklärung (post et secundam), eine Aufklärung der (geschichtsphilosophisch dogmatischen) Aufklärung, die zur Eklektik politischer Aufklärung beitragen kann.
Auch Dan Diner geht es um historische Aufklärung, wenn er „Geschichte historisieren will“. Seine ‚Counterfactual history‘ ist indes kein Spiel, sondern „bitterer Ernst“. Roads not taken bezieht sich auf „Wendungen, für die es starke Belege gibt und die aus den zeitgenössischen Erwartungen denkbar schienen“ (Spiegel, a.a.O.). Auf die Auseinandersetzung mit diesen Erwartungen kommt es an, sie bilden eine analytische Kategorie der Geschichtsbetrachtung wie der gegenwärtigen Auseinandersetzungen.
Und woher kommt der Ernst? Es sind die Ernstfälle des politischen Theoretikers, mit denen Diner theoretisch wie praktisch vertraut ist. Er hat eine völkerrechtliche Dissertation zum Kriegsbegriff geschrieben (1973) und eine Habilitation über „Israel in Palästina“ (Athenäum 1980). Ihm geht es bei der historischen Aufklärung ebenso um die „Wiederherstellung des Politischen“ (Spiegel, a.a.O.). Was ist damit beabsichtigt?
Im Grunde etwas Einfaches und Elementares, das aber schwer ist: nämlich das schwierige Handeln, welches von Werten nicht nur redet, sondern sie in einer wehrhaften Demokratie auch verteidigt. Die Aufmerksamkeit liegt dabei auf den handelnden Personen und ihren Entscheidungen.
Damit geht eine Akzentverschiebung einher, weg von einer streng struktur- oder systemtheoretischen Soziologie hin zur Historie, die auf verschiedenen Zeitebenen: kurzfristig (Erfahrungen), mittelfristig (Trends, die in die Zukunft weisen) oder metahistorisch (vorbeugende Mahnungen) viel lehren kann (siehe Koselleck 1979, S.154f.).
Der politische Blick in die Gegenwart besteht in geschärfter Wahrnehmungs- und verbesserter Urteils-, Handlungs- und Bündnisfähigkeit. Der Zusammenhang von biographischer Erfahrung und Erkenntnis liegt darin begründet.
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