‚Zivilisationsökumene‘ ist ein ungewöhnlicher Begriff (Lübbe 2005). Lübbe beschreibt damit sehr dicht, aber gleichwohl empiriegesättigt die global gewordene wissenschaftlich- technische Zivilisation europäischen Ursprungs. Im Zentrum dieses Verständnisses von Zivilisation, quasi als ihr Motor, steht die neuzeitliche moderne Wissenschaft (science).
Diese verlangt von uns keine Bekehrung, obwohl es viele Wissenschaftsgläubige gibt. Curiositas (Neugierde) begründet vielmehr ihre Legitimität, die einen Großteil der eigenen Selbstbehauptung und Legitimität der Neuzeit als Zeit des Fortschritts ausmacht, die nicht bloß eine Säkularisierung christlicher Gehalte ist. Siehe dazu die bekannten Titel des Philosophen Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit 1966 und Der Prozess der theoretischen Neugierde 1973.
Dazu kommt in der Moderne immer mehr und geradezu überwältigend ihre Relevanz, die in der Verknüpfung des wissenschaftlich-technisch-militärischen Komplex auch – euphemistisch ausgedrückt – problematische Seiten hat.
Für Lübbe als Kulturphilosoph des Fortschritts und der Fortschrittskonflikte sowie als politischer Theoretiker, der den Common sense des sozialdemokratischen Fortschritts stets gegen seine Kritiker verteidigt hat, geht es vor allem um zwei Punkte:
1. die evidenten Lebensvorzüge der technischen, organisatorischen und kulturellen Nutzung wissenschaftlichen Wissens und
2. darum, dass die damit verbundenen Modernisierungsschübe die Werte der kulturellen Herkunftswelten nicht in Frage stellen, vielmehr sogar begünstigen können.
3. führt das zur These, dass die global gewordene Zivilisation ökumenisch, also eine Zivilisation der Vielfalt, regional wie national, bleibt, was zur weiteren These führt,
4. dass mit den Lebensvorzügen dieser Zivilisation die Kooperations-, ja sogar die Demokratisierungszwänge weltweit wachsen.
Dass die Lebensvorzüge der modernen Zivilisation missionsunbedürftig und herkunftsindifferent sind, wird in weiteren Kapiteln ausgeführt (69ff und 72ff). Schwieriger wird es mit der Globalisierung und dem demokratischen Common sense. Die Punkte 3 und 4 sind deshalb weniger selbstverständlich, und wir werden überprüfen, ob und inwiefern die Zivilisationsökumene zur heutigen Weltlage und ihre Problematik passt.
Politiktheoretische Beschreibung der Welt.
Weltzivilisation ohne Weltstaat: Staaten, Nationen und Regionen
Die Tendenz der Einheitszivilisation führt nicht zum Weltstaat, der die großen Weltprobleme der Erdpolitik lösen soll, sondern zur Pluralisierung der Staatenwelt. Die Zahl der souveränen Mitglieder der UNO wächst: derzeit sind es 195 mit völkerrechtlicher Staatsqualität. In Osteuropa und Mittelosteuropa hat sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991 die Zahl der Staaten mehr als versiebenfacht (!) und ist noch nicht am Ende (103). Dabei wird vom ‚heilen Westen‘ aus gerne überheblich postnational gegen rückständige Nationalismen argumentiert. Lübbe spricht dagegen von „neuen Nationalismen in emanzipatorischer Absicht“ (110ff).
Um sich in der heutigen pluralisierten Staatenwelt zurechtzufinden, ist es wichtig, über einen genauen deskriptiven und analytisch brauchbaren Begriff von Nation und Nationalismus zu verfügen, der eine differenzierte Wahrnehmung und Diskussion erlaubt. Aus historisch- kulturellen Gründen ist dies schwieriger als beim rational-funktionalen Staatsbegriff.
Bei den Regionalismus-Vorstellungen (dem ‚kleinen Nationalismus‘) gilt es ebenfalls vorsichtig zu sein, wenn man sie nicht unbedacht aus dem europäisch-amerikanischen Kontext auf große Länder wie Russland oder China übertragen will. Föderalismus hingegen ist als strukturelles Lösungskonzept überall auf der Welt ein Seminar wert, das den vorgegebenen Bedingungen angepasst werden kann. Zur politischen Theorie gehören solche Gedankenexperimente, die freilich in der demokratischen Praxis Schritt für Schritt zu erproben sind.
Lübbes Position zum neuartigen ‚Staatsgebilde‘ EU (sui generis), das er sehr wohl zur Kenntnis nimmt, ist schon lange bekannt und politisch verbreitet. Es wird und soll kein ‚Superstaat‘ wie die Vereinigten Staaten werden bei aller neuartigen supranationalen und transnationalen Politik (Abschied vom Superstaat, 1994). Die europäischen Nationen bleiben gerade für eine solche Politik wichtige Akteure, ohne die es mit der demokratischen Integration nicht (weiter-)geht. In der Potsdamer Reihe ‚Region- Nation-Europa‘ haben wir uns seit den 90er Jahren kontinuierlich mit diesen Themen beschäftigt, transregional und transnational, in Bezug auf Europa aber konstruktiver als Lübbe bis hin zu einer europäischen Verfassungsdiskussion.
Der schwierigste Begriff bleibt die Nation. Nationale Orientierung als Selbstbehauptung darf man jedoch nicht mit aggressivem Nationalismus verwechseln. „Emanzipation aus Abhängigkeiten von großen Herrschaftssystemen mit faktischer Dominanz von Mehrheitsnationen“ ist vielmehr legitimer Nationalismus (113).
Überraschend friedlich war dies in großem Ausmaß bei der Pluralisierung der Staatenwelt in Osteuropa der Fall, worüber man immer noch staunen sollte. Die aktuelle Ausnahme, die uns zwingt, diese Realitäten wieder genauer zur Kenntnis, ist der Ukraine-Krieg gegen den groß-russischen Imperialismus seit 2022, der Europa bedroht.
Als wichtigste Voraussetzung friedlicher Staatsneubildungsprozesse wollen wir hier lediglich festhalten: „die Legitimität des Anspruchs der Nation auf Selbstbestimmung“(114). Lübbe zieht daraus sogar die Folgerung: „Je irresistibler und effektiver sich das Prinzip der Selbstbestimmung im emanzipativen Nationalismus zur Geltung bringt, um so bedeutungsloser wird zugleich die inhaltliche Beantwortung der Frage, was denn eigentlich eine Nation sei“ (115). Zudem ist es einseitig, sich bei der Neubildung selbstbestimmungskompetenter politischer Körperschaften allein auf souveräne Staaten zu beschränken, denn auch die Föderalisierung von ‚unitarischen‘ Staaten gehört dazu.
Der Grad bürgerschaftlicher Identifikation wächst mit der regionalen und lokalen Selbstverwaltung, die demokratischer ausgestaltet werden können. Wenn auch nicht die Welt im Ganzen, so können wir doch unsere kleinen Welten verändern. Föderalistischer Regionalismus ist außerdem von sezessionistischem Regionalismus zu unterscheiden, wie man an den Beispielen Schottland, Katalonien, Südtirol und Jura sehen kann. Technokratische Verwaltungsreformen mit ihren Zusammenlegungsbefehlen stoßen hingegen überall auf Widerstand.
Auch die Utopie eines Weltstaates, der aus Hobbesscher Sicht für die Herstellung des Weltfriedens theoriekonsequent sein könnte, wird mit der UNO abgelöst durch einen Bund souveräner Staaten. Aufgrund der Vetomacht der Supermächte im Sicherheitsrat ist das nicht einmal ein durchsetzungsfähiger Minimalstaat, der aber multilateral von zahlreichen Organisationen und Kooperationen zum Beispiel in einem Getreideabkommen oder einer Geberkonferenz für den Jemen lebt.
Genauso wie die europäische Einigung bis hin zu historisch beispielloser Solidarität in der Coronakrise oder bei der Unterstützung des ukrainischen Widerstands gestärkt werden kann. Die ökumenische Weltzivilisation ist jedoch, obwohl eine technische Einheitszivilisation, bezeichnenderweise kein Weltstaat und die EU kein patriotischer Bundesstaat wie die USA.
Die realen Kooperationszwänge haben zugenommen, wenngleich wir in einer unfriedlichen und gefährlichen Weltrisikogesellschaft leben, in der es in Europa und durch die UNO gegenwärtig nicht einmal gelingt, eine entmilitarisierte Zone um das größte AKW Europas Saporischschja einzurichten. Tschernobyl 1986, als Ausgangspunkt der neueren Diskussion über Risikogesellschaft (Beck), lag auch in der damals noch sowjetischen Ukraine.
Die neuen Kontingenzerfahrungen haben nicht nur militärisch, einschließlich der nuklearen Karte „Russland kann auch die USA vernichten“, sondern ebenso durch die sich verschärfende Klimakrise und ihre Folgen sowie den globalen Finanzmarktkapitalismus dramatisch zugenommen.
Die Globalisierung, auch die ökonomische Globalisierung, ist nicht zu Ende, wie die aktuellen Welthandelsdaten der Jahre 2020/2021/2022 zeigen. Organisatorisch verbreitet sich die Globalisierung durch Autarkieverluste und mannigfache Kooperationszwänge, von denen man sich nicht entkoppeln kann (89ff). Daraus resultieren jedoch nicht automatisch Demokratisierungszwänge.
Die Systemrivalität zwischen den Supermächten entbrennt vielmehr neu. Sie müssen sich neue Bündnispartner suchen. China nimmt dabei für sich selbst und die Länder des globalen Südens ein „Recht auf Entwicklung “ in Anspruch. Es wird zum Gläubiger für zahlreiche Infrastrukturprojekte in Asien und Afrika. Chinas Engagement, eben selbst noch ein Entwicklungsland, oder Nicht-Engagement wird für die Klimapolitik der Welt ebenso entscheidend sein wie für den Weltfrieden durch Rüstungskontrolle.
Vernetzungsdichte und Interdependenz nehmen mit der ökonomischen, technischen und organisatorischen Globalisierung zu. Die Ablösung der Informationsnetze von den Verkehrsnetzen war ein „Ereignis von zivilisationsrevolutionärer Bedeutung“ (123). Damit geht ebenso eine Politisierung der Wirtschaft einher, welche die lokale und regionale Verletzlichkeit erhöht. Die forcierte Digitalisierung und der Kampf um die Vorherrschaft bei der künstlichen Intelligenz werden dies noch einmal potenzieren.
Bei allen Kooperationen und Regierungskonsultationen (von Deutschland neuerdings mit Indien, Japan, Kanada, Brasilien u.a.) überlagern politische Rivalitäten alles und lenken von wichtigen Fragen ab. Wie in der Finanzbranche ist die Entwicklung zyklisch. Mehr als Gier ist der Neid, die Demütigung und der kränkende Vergleich bei den Protagonisten der Motor der Zerstörung. Sie sind in der großen Konkurrenz die ‚Big Egos‘, ebenso gibt es den starken ‚Egoismus des großen Wir‘.
Interdependenzen und Netzverdichtung zwingen theoretisch zu Kompromissen und Kooperation, wenn wir nicht in die Logik von Nullsummen- oder Negativsummenspiele geraten wollen. Aber zur Realität gehört auch, dass Menschen sich irrational verhalten. Dann nehmen sie bisweilen sogar bewusst oder unbewusst Schäden in Kauf bis hin zur Selbstzerstörung. Die Enge von Abhängigkeiten kann zu einem gewaltsamen Ausweg führen.
Der ‚emotional state of nations‘ (Gardels), die kollektive Psychologie der Kränkungen und Herabsetzungen gehört zur anderen Seite der Globalisierung, die zu beachten ist. Dabei spielt oft eine spezifische Vergangenheitsfixierung (’neue Achsenmächte‘) die größere Rolle als die Zukunftsorientierung, die für das Fortschrittsdenken typisch ist.
Hermann Lübbe ist dagegen, wie Raymon Aron oder Steven Pirker, mit seiner Zivilisationsökumene ein typisch liberaler, rationalisierender Fortschrittsoptimist, der Emotionen und kollektive Psychologie wegrationalisiert. Der französische Politologe Dominique Moîsi hat dazu 2009 das passende Buch geschrieben: „The Geopolitics of Emotions“.
Es gibt aber keine zwangsläufige Entwicklung zur westlichen Demokratie. Mit Trump offenbarten sich weltweit für alle die Schwächen der führenden Nation der Freiheit, an die der ukrainische Präsident Selenski in seinem Kampf gegen den groß-russischen Imperialismus appelliert und auf die er wie Europa baut. Präsident Biden will zudem das demokratische Taiwan gegen China verteidigen.
Am Beispiel Russlands zeigte sich deutlich, dass selbst wirtschaftliche Verflechtung kein Schutz gegen Aggressionen bietet. Modernisierungspartnerschaften sind nicht per se Demokratisierungspartnerschaften. Automatismen gibt es auf dem Feld des Politischen nicht, vielmehr ist mit Kontingenzen zu rechnen: wäre Lord Halifax und nicht Churchill Premierminister geworden, wäre der 2. Weltkrieg vielleicht mit dem Sieg Hitlers zu Ende gegangen.
Die „säkularisierungsresistente Modernität“ der USA ist für Lübbe zurecht das Beispiel einer nachaufgeklärten ( Bürger-) Religion : mit der „hochföderalen Verfassung, die in ihrer Effizienz die unangefochtene Legitimität und Macht des Gesamtstaats trägt und erhält und darüber hinaus der Patriotismus eines Staatsvolks, das sich gerade in seiner religiösen, ethnischen und sonstigen historischen Heterogenität durch die Verfassung des Gesamtstaats freigesetzt und geschützt weiß „(109f.).
Die Stärke der westlichen Demokratie ist ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur, ihre Schwäche ist die Doppelmoral.
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