„Winter der Solidarität“?

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Solidarität ist eine knappe Ressource oder doch eine regenerative Energie? Unter welchen Bedingungen? 

Das dritte Entlastungspaket der Regierung ist größer als die beiden zuvor. Viele private Haushalte lernen nun den Staat auch als finanziell helfenden Staat kennen: Statt der Gießkanne soll es gezielte Entlastungen geben: für Rentner und Studierende, 300 und 200 Euro als Einmalzahlungen, die allerdings auch wieder schnell verpuffen. Zudem sind längst nicht alle Rentner bedürftig.

Mittelschicht und Mitte

Wer sind dann die wirklich Bedürftigen? Sicherlich die Menschen in der Grundsicherung. Und was heißt „Mittelschicht“? Darunter wird viel und Verschiedenes ganz unpräzise subsumiert. Der oberen Mittelschicht geht es gut, der unteren Mittelschicht nicht, dazu kommt die Abstiegsangst. Früher hieß es immer, die aufstrebende Mittelschicht sei es, die den Sozialstaat trägt. Heute heißt es ebenso pauschal die „arbeitende Mitte“. 

Was ist die Mitte? Die idealtypische ‚ethische Mitte‘ ist solidarisch, wenn es gerecht zugeht. Was aber wiederum heißt gerecht? Für die Linke muss die ‚Übergewinnsteuer‘, die jetzt ‚Zufallssteuer‘ heißt, als Ausgleich sein. 

Eine gewisse Umverteilung gehört hier zum Gerechtigkeitsverständnis als Mindestbedingung hinzu, andere wollen anders ausgleichen. Wer also soll entlastet, wer belastet werden? Oder kann auch verzichtet werden? Letztere Frage sollte bei einer ‚zivilisatorischen Krise‘ nicht ganz vergessen werden. Allen wird es die Politik ohnehin nicht recht machen können, auch die demokratische Politik nicht. 

Genauso pauschal ist von der Wirtschaft im Singular die Rede. Vertreter der Wirtschaft beklagen, dass die Wirtschaft im großen Entlastungspaket gar nicht vorkommt, insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen nicht. Das Handwerk fühlt sich gleichfalls übergangen. Müssen Unternehmen aufgeben wegen der hohen Energiepreise? Können alle gerettet werden? 

Die Vielen, die bald ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, werden sich in das bestehende System der staatlichen Hilfen einfügen müssen. Am deutlichsten wird dies beim Wohngeld. Der deutsche Sozialstaat ist stark, auch in der Krise, das zeichnet ihn aus. Die sozialdemokratische Fortschrittsregierung transferiert Milliarden in die Sozialpolitik. 

Hartz IV soll einem Bürgergeld weichen, was ein bürgerlicher Politiker als eine „sozialistische Idee“ bezeichnete. Tatsächlich „war so viel Staat noch nie“ (SZ, 6. 9., S.4). “ Der Staat zeigt sich als vor Kraft strotzender Superheld“ (NZZ, 3. 9., S.17). 

Die regierende Sozialdemokratie kann für sich in Anspruch nehmen, „Hilfe zu organisieren“ – „Politik als Organisation“ (Müntefering). Beginnt deshalb schon ein neues „sozialdemokratisches Zeitalter“ (Klingbeil)? Es ist aber gewiss „unser starker Staat“, der für Zusammenhalt sorgt: „You’ll never walk alone“.

Was heißt dabei Zusammenhalt? Immer häufiger tritt Zusammenhalt an die Stelle von Solidarität. Das unauffällige Wort ist in den letzten Jahren auffällig geworden ebenso wie bezeichnenderweise andere Wörter: Inklusion oder Resilienz zum Beispiel. In der sozialen und politischen Quintessenz bedeutet es wohl vor allem und richtigerweise die Abwehr extremer politischer Polarisierung bis hin zur Bürgerkriegsbereitschaft, wie wir sie in den USA beobachten. Auch Demokratien sind davor nicht gefeit. Positiv ausgedrückt geht es zum Beispiel um die alltägliche Integration der zahlreichen Flüchtlinge und ihrer Familien. 

Von der Gemeinschaft eines populären Fußballvereins hat die moderne differenzierte Gesellschaft jedoch nicht viel an sich. Die ‚Kumpanei‘ des Unterhakens ist viel und doch weniger als gesellschaftsweite Solidarität untereinander weitgehend fremden Bürgern, an welche die Regierung schon während der Pandemie unaufhörlich und intensiv appellierte und nun abermals bei der Unterstützung des ukrainischen Widerstandes, der schon jetzt die Winterausrüstung für einen besonders schweren Winter benötigt. 

Ist dieses Vokabular verbraucht? Oder ist man staatstheoretisch nicht auf der Höhe der Zeit? Bei der Sozialpolitik (genauso wie heute bei einer ehrlichen Energiepolitik) muss man zwangsläufig zielgenauer und konkreter werden. 

Daran ist die Politik der Regierung zu messen, die immerhin viel tut und nicht in Passivität verharrt. Das allein schon ist gut, wenngleich sozialer Protest zu Recht nicht ausbleiben wird, und bei einer Koalition unterschiedlicher Parteien politisch nicht einfach zu leisten ist. Wundern muss man sich eher über die neue Staatsfreundschaft der Liberalen und der Grünen. 

Gleichzeitig erleben wir bei einer klugen Sozialpolitik eine Diskussion über Konkretes, die gleichzeitig sehr grundsätzlich ist. Das schließt sich nicht aus. Schon in den Anfangszeiten moderner Sozialpolitik ging es um den Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik, Liberalismus und Sozialismus, Kapitalismus und Staat usw.. 

So viel Staat war nie

Die Feststellung „so viel Staat war noch nie“ ist ein guter Anknüpfungspunkt für erneute grundsätzliche Überlegungen – über den Staat wie über den Bürger. Wie versteht er sich selbst? War er und wird er immer mehr lediglich zu einem Wohlfahrtsstaatsbürger anstelle eines bürgersouveränen selbstverantwortlichen Bürgers. Wann schlagen berechtigte Erwartungen an einen guten funktionalen Staat, an dem man verantwortlichen Anteil hat, um in eine Vollkasko-Mentalität und bequemen Defätismus? 

Lange gab (und gibt es zum Teil noch immer) eine Diskussion über den Wohlfahrtsstaat als neuer „Weg in die Knechtschaft“ (Hayek 1944) oder als erfülltes Versprechen des demokratischen Sozialismus – Wohlfahrt, soziale Sicherheit und Bildung für alle als Staatsbürgerqualifikation für die Demokratie. Um seine Grenzen: was darf er kosten, wie wird er finanziert und was kann er erreichen? entzünden sich immer wieder Kontroversen. Das wird so bleiben. 

Etwas abstrakter und theoretischer verlief die Diskussion in den 80er Jahren. Damals gab es in der Staatstheorie eine aufschlussreiche Debatte um den Staat im Zusammenhang mit den generellen Möglichkeiten politischer Steuerung einer funktional differenzierten Gesellschaft. Nur einen – selbst für systemtheoretisch gewendete Marxisten – damals überraschenden Punkt will ich herausgreifen, der heute vielleicht wieder zu denken gibt. 

Der Luhmann-Schüler Helmut Willke versuchte sich als origineller Steuerungstheoretiker entgegen dem Steuerungspessimismus der Systemtheorie, die er als Gesellschaftstheorie gründlich rezipierte. Nach der „Entzauberung des Staates“ (1983) mit dem Staat am Verhandlungstisch und der „Tragödie des Staates“ (1986) folgte die „Ironie des Staates“ (Ffm.1992) als Staatstheorie für eine polyzentrische Gesellschaft. Darin entwickelt er seine Ironik des Staates, der in der liberalen Moderne weder Leviathan noch Präzeptor sein kann, obwohl er öfters so auftritt. 

Seine Macht ist zwar grösser geworden, gegenüber den modernen Funktionssystemen Wirtschaft, Wissenschaft und Recht bleibt sie dennoch begrenzt, der Scheinriese macht nicht die Dynamik der Moderne aus, sondern muss sich eher klug anpassen, um auf die gesellschaftliche Entwicklung noch Einfluss nehmen zu können. Das bringt Willke schon 1992 auf die Idee eines distanzierten Engagements beziehungsweise zur Theorie des Supervisionsstaates, die 1997 in seinen letzten staatstheoretischen Wurf mündet.

Liberale Ironiker können wir nicht mehr sein

Interessanter als diese Theorie ist indessen sein letztes Kapitel in ‚Ironie des Staates‘. Es heißt: der Staat als ‚local hero‘ ( S.362ff). Der Staat wird zum Helden, was sich in unseren krisengeschüttelten Zeiten erst recht zeigt. Er wird, mit anderen Worten, im Zusammenhang mit der notwendigen gesellschaftlichen und politischen Solidarität zum wehrhaften Garanten des Zusammenhalts. Regierungspolitik ist Politik mit dem Staat, was seit drei Jahren weitestgehend der Fall ist.

Das liegt sachlich nahe beim (mythischen) Leviathan und dem (paternalistischen) Präzeptor und ist doch ganz anders. Was wiederum mit dem Gewicht und Stellenwert demokratischer Bürger und Bürgerschaften zu tun hat, die einsichtig und tugendhaft sind. Darauf können wir bauen, auch in diesem und in kommenden Wintern. Vielleicht gibt es sogar Demonstrationen für die Regierung – vom Aufstand der Anständigen zu den anständig aufstehenden Demokraten.

Selbst die avancierte Systemtheorie unterstützt diesen Bürgerglauben: „Der Staat ist eine lokale Größe. Darin liegt seine Beschränkung und seine Stärke. Das politische Funktionssystem moderner Gesellschaften ist, …, das einzige Teilsystem, das an definitive territoriale Begrenzung gebunden ist und aus dieser Bindung seine Funktion und seine Leistungen ableitet. Wenn kollektiv verbindliche Entscheidungen produziert werden sollen oder die Schaffung und der Schutz von Kollektivgütern zur Debatte steht, ist eine klare Demarkation des Kollektivs unumgänglich…“ (S. 362f.). 

Das ist ein Vorteil, der heute von verschiedener Seite unterlaufen wird. Transnationale Solidarität wie bei den Corona-Hilfen oder der Sanktionspolitik gegenüber Russland ist dabei noch eine zusätzliche besondere Leistung unter bestimmten Bedingungen. Nationale wie transnationale Solidarität verlangen ein politisch schwieriges permanentes „Work of Nations“ (Reich 1991).

Die EU benötigt dringend, zum Beispiel im Bereich der Verteidigung mehr Abstimmung und bessere Koordination, wie auch in anderen Bereichen. Deswegen allein die demokratisch legitimierten Nationalstaaten zu entmachten, ist aber auch keine Lösung.

Bildnachweis: Wikimedia