Welcher Konsens trägt noch?

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Diese Frage kann man sich überall stellen, in jedem Land und jeder Region und zu allen Zeiten. Kon-sensus (lateinisch), wörtlich: man/frau stimmen zusammen, stimmen überein, was weniger (das heißt: arationaler) oder mehr (das heißt: stärker) sein kann als ein rationaler Konsens.

Das kann selbstverständlich Common sense (sensus communis, senso commune, sens commun oder Gemeinsinn) werden oder umstritten sein und umstritten bleiben. Oft ist es ein faktischer Mehrheitskonsens, allerdings ein deutlicher und erheblicher, und nicht nur ein knappes (möglicherweise sogar umstrittenes) Abstimmungsergebnis, das ebenfalls den Ausschlag geben kann (siehe Al Gore vs. Bush Junior 2000).

Gleichwohl wird immer zeitlich wie örtlich ein Konsens beansprucht werden trotz Dissens und Dissenters, Anormalität und Auseinandersetzung. Die Argumentationsfigur des Konsenses bleibt tragend, obwohl die Auseinandersetzung weitergeht und prinzipiell unabgeschlossen bleibt. Konsense tragen buchstäblich die Beschlüsse der Demokratie und die Entschlüsse der Menschen. Sie werden argumentativ unterstellt und behauptet. 

Wenn keine parlamentarisch gestützte Regierungsmehrheiten möglich sind, bleiben technokratische Kabinette (wobei die politische Theorie der Technokratie ihre eigene (französische) Tradition hat). Deren Wertefundament ist die Meritokratie. Technokratische Kabinette sind nicht nur in akuten Krisensituationen oft beliebter als (partei-) politische. Sie sind eine in der Politologie unterschätzte Variante mit Variationen in verschiedenen Ländern.

Gerade Südeuropa hat Erfahrungen damit, in Italien zuletzt die Regierung von „Supermario“ Draghi (2021/22); er war von 2011 bis 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank. Parteien scheinen in Europa kaum noch stabil zu sein. Ohne sie überall gänzlich abschreiben
zu wollen, gewinnen dennoch neuartige kurzlebige Bewegungen überraschend schnell an Bedeutung und ersetzen traditionelle Parteien. 

Sie bilden inzwischen eigene Öffentlichkeiten und neue Vernetzungen. Es gibt viele fluide Kooperationen und taktische Allianzen, die volatil sind – im Großen wie im Kleinen. Geschichtsbewusstsein ist wichtig, aber seine Bedeutung schwindet in der schnelllebigen Gegenwart, die uns absorbiert. Investoren sagen: „the market has no Memory“. Das gilt leider generell.

Auch in dieser Hinsicht war Berlusconi, der Besitzer von Mediaset, ein Vorreiter, was aufs Engste mit den Veränderungen der allgegenwärtigen bewusstseinsenteignenden Macht der Mediengesellschaft und ihren Strukturen zusammenhängt. Berlusconi sprach die Menschen bei seinen Fernsehansprachen nicht als „cittadini“, sondern als „telespettatori“ an. ‚Forza Italia‘ und technokratische Kabinette sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf andere (französische)Weise trifft dies wohl auch auf Macrons ‚République en marche‘ zu.

Aktuell und systematisch zugleich frage ich mich, welcher Konsens noch hält. Welcher ist strapazierfähig in einer liberalen Demokratie im Dauerstress? Aufbauend auf den beiden Blogs über das Phänomen Berlusconi (12. Juni und 24. Juli) wird das hier am Beispiel von Italien erörtert. 

Genauso gut und aufschlussreich könnte man die aktuellen Beispiele Israel und USA diskutieren. Über letztere werden wir anlässlich der Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr noch mehr als genug erfahren, denn dieses Ereignis wird große Rückwirkungen auf Europa und die Welt haben.

Politische Theorie kann das grundlegende Thema ‚Konsens‘ nicht ohne genaue Kenntnisse der Geschichte, die jeweiligen Kontexte von Konsens erörtern. Erinnerungskulturen spielen dabei ebenso eine Rolle wie Fortschrittsorientierungen. Analytisch lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden:

– als höchste normative Ebenen die Verfassungsnormen, der Verfassungskonsens, sodann
– der Wertekonsens, auch als Alltagskultur der Menschen, sowie
– die Verfahrenskonsense. Was alles vermag der Prozeduralismus zu absorbieren? Und welche Verfahren fallen unter die Demokratie?

Was das aktuelle Italien betrifft, so gibt es einen neuen Mehrheitskonsens, seitdem Meloni als erste Frau das Land regiert. Er ist gegen Migranten und als rechte Regierung natürlich pauschal gegen die Linken bzw. alles Linke gerichtet – Affekte werden bedient, Argumente sind nicht mehr nötig- sowie betont für die traditionelle Familie, obwohl die Geburtenrate sehr niedrig ist. Dieser Konsens ist, wie faktische Mehrheitskonsense immer, in sich widersprüchlich.

Während Meloni deutlich für die NATO im Ukraine-Krieg und für die EU eintritt (bei allen „Allergien gegen Deutschland“) ist dies bei ihrer Wählerschaft und den Parteien, die sie unterstützen, weit weniger klar. Auch sie regiert in einer schwierigen Koalition und hat Mühe mit den eigenen Faschisten.

Dasselbe gilt gegenüber dem sogenannten katholischen Konsens, dem typischen Wertekonsens Italiens. Beim katholischen Konsens muss man drei Dimensionen unterscheiden, was auch bei anderen substantiellen Wertekonsensen zu beachten ist:

– Katholisch als Alltagskultur, was in Italien auch dazu führte, dass Kommunisten (PCI) ihre Kinder zur Taufe und in den Religionsunterricht brachten.
– katholische Kirche als Institution und
– politischer Katholizismus.

Nach dem Untergang der mächtigen Democrazia cristiana (DC), die bis 1994 ununterbrochen regierte , gingen die Katholiken politisch unterschiedliche Wege. Der politische Katholizismus hatte kein einigendes Projekt mehr, und der katholische Konsens gehört der Vergangenheit an. Der argentinische Papst Franziskus bemüht sich heute um humanitäre Korridore für Flüchtlinge und macht sich damit unter Christen keine Freunde mehr: „soll er sie doch im Vatikan unterbringen“.

Bleibt der Verfassungskonsens, der in Italien nach dem Krieg auch als antifaschistischer lange – bis hin zum Compromesso storico (Moro, Berlinguer) 1978? – gehalten hat. Interessanterweise war sogar von einer ‚Zivilreligion des Antifaschismus‘ (Campani) die Rede, der Christen und Kommunisten umspannte. Doch auch diesbezüglich gab und gibt es kontroverse Erinnerungskulturen, die Konsens bekräftigen oder spalten.

Überzeugende Staatspräsidenten wie Pertini, Scalfaro, Napolitano, Matarella, die im politischen System Italiens eine gewisse, nicht unerhebliche Rolle spielen, tragen das Ihre zum Verfassungskonsens bei, indem sie ihn verkörpern. Wie wirksam und tragfähig ist dieser jedoch noch in einer defizitären Wähler- und Parteiendemokratie in der Krise? Die Abscheu vor den Machenschaften der Politik ist groß, was nicht nur die Korruption betrifft.

Die Wahlbeteiligung geht derweil dramatisch zurück, in den Regionalwahlen wie jüngst in der Lombardei und Latium teilweise unter 50%. Womit wir bei den Regierungskonsensen sind, die nie lange halten. Seit dem 13. Juli 1946 (De Gaspari) gab es 31 Regierungen. Ab dem 22. Oktober 2022 ist die trotzige Giorgia Meloni, die kein Politikeritalienisch spricht, “ Presidente del Consiglio dei Ministri“, vergleichbar dem deutschen Bundeskanzler.

Diese Regierung gilt als die rechtslastigste seit Mussolini. Die Fratelli d’Italia, die Nachfolgepartei der Alleanza Nazionale (1995-2009), die wiederum die Nachfolgepartei des Movimento Sociale Italiano ist, sind ‚Neofaschisten‘ und keine Postfaschisten, was eine oberflächliche und nichtssagende Benennung bzw. genauer: Entnennung ist.

Herrscht also ein faktischer Mehrheitskonsens als rechter Konsens, den Berlusconi geschmiedet hatte, statt ein linker? Oder geht es tiefer, und die Regierungen gelten als gleichermaßen abgehoben wie die Politik im Singular, gleich welche Parteienkonstellation vorherrscht?

Sind somit Regierungen lediglich geschäftsführende Verwaltungen oder gar Verfassungsinstitutionen kapernde Mächte geworden? Werden so die Politiker in den abendlichen Fernsehshows, die sich bekriegen, eine Parallelwelt zur Welt der normalen Leute? Und die Rechten sind in diesem Wrestling der medialen Spaßgesellschaft und Zuschauerdemokratie unterhaltsamer als die Linken? Ist das aus der Politik geworden?

Bildnachweis: Photo Beto / istockphoto.com