Welcher Friede in Zeiten des Krieges?

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Nach zwei Jahren Ukraine-Krieg macht sich Pessimismus breit. Nicht bei den Kämpfenden, dort ist es Müdigkeit aufgrund fehlender Rotation, sondern bei den Unterstützenden und ihren Bevölkerungen. Der Verteidigungskampf geht weiter: „Wir stehen bis zum Ende“, „Slava Ukrajini“.

Nur noch jeder Zehnte glaubt allerdings an einen militärischen Sieg der Ukraine, laut einer Umfrage des ECFR (European Council in Foreign Relations), in: NZZ, 27. Februar 2024, S.2. Dieser Meinungsumschwung korreliert mit der Lage nach der gescheiterten ukrainischen Offensive im Herbst. 

Der beliebte „General des Volkes“ Saluschni hatte daraus schon 2O23 eine schonungslose bittere Bilanz gezogen, und er hat recht behalten, wie sich jetzt zeigt. Die Lage an der Front ist düster, es fehlt am grundlegendsten: an Munition und Soldaten!

Der Krieg ist noch nicht verloren

Der russische Angreifer ist im Vormarsch, wenn auch mit schweren Verlusten. Noch dramatischer ist indessen, dass der ukrainischen Artillerie nicht nur die Munition fehlt, sondern auch die Flugzeuge, um sie zu schützen. Ein neues Mobilisierungsgesetz, das frische, gut ausgebildete Soldaten in den Kampf schicken kann, ist politisch ebenfalls bisher nicht zustande gekommen. Das alles wird vermutlich auch zu internen Kontroversen und Verwerfungen führen.

Die verspäteten Waffenlieferungen von außen, etwa das 3/4 Jahr, welches Bundeskanzler Scholz zögerte, Schützen- und Kampfpanzer zu liefern, aufgrund fehlender politischer Entschiedenheit und mangelnder militärischer Kompetenz sowie die angesprochenen Defizite von innen führen zu Ermüdungserscheinungen, die Putins Strategie, der auf Zeit setzt, zugutekommen. Ein Kommentar der Münchner Sicherheitskonferenz sprach von einer „Neigung zur stillen Kapitulation“ (NZZ, 20. Februar, S.2).

Die ECER misst die Stimmungslage seit Kriegsbeginn im Februar 2022. Seitdem sahen die möglichen Friedenslösungen unterschiedlich aus und passten sich dem Kriegsverlauf an. Die Entscheidung des Krieges ist noch immer offen. Zurzeit ist ein Abnutzungskrieg auf dem Boden bis zur Erschöpfung im Gange, wobei auch die Ukrainer in der Luft und vor allem zur See Erfolge verzeichnen können. Drohnenangriffe setzen der Schwarzmeerflotte zu.

Die Friedenskonzepte erstrecken sich in einem Spektrum von Selenskis Versuch, einen Friedensgipfel mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft in der Schweiz zu organisieren, für einen ausgearbeiteten Friedensplan, der einer russischen Delegation vorgelegt werden soll, bis zu Friedenskompromissen eines modus vivendi aus Erschöpfung, der die Stärkeverhältnisse auf dem Schlachtfeld abbilden würde.

Ivan Krastev und Mark Leonard, die Autoren der Studie des ECER, sehen die Herausforderung darin, „zu definieren, was es in der Praxis bedeute für den ‚Frieden‘ zu sein. Die Spitzenpolitiker der EU könnten etwa damit beginnen, zwischen einem ’nachhaltigen Frieden‘ und einem ‚Frieden nach russischen Maßstäben‘ zu unterscheiden“ (NZZ, 27. Februar). Was unterscheidet einen ‚Kompromissfrieden‘ von einem ‚Diktatfrieden’?

Die EU ist in dieser Frage keineswegs ein einheitlicher entschlossener Block trotz der verbalen Versicherung, dass Putin den Krieg nicht gewinnen dürfe. Wie aber sähe ein russischer Sieg aus? Für viele würde das wohl bedeuten, „dass die Ukraine nicht in der Lage sein wird, alle ihre besetzten Gebiete zu befreien“ (NZZ, 27. Februar).

Warum ist der finnische Winterkrieg 1939/40 gegen die Übermacht Stalins heute noch ein „Lehrstück“? Für die Aktivdienstgeneration meines Vaters war er ein Vorbild, da ein zahlenmäßig weit unterlegener David mit beweglichen kleinen Einheiten einem brutalen Goliath, der seine eigenen Truppen rücksichtslos verschliss, schwere Verluste beibringen konnte.

Die Finnen vermochten es, ihre eigene Nation und ihr Staatsvolk zu erhalten, weil sie zwar militärisch bei allem heldenhaften Kampf, der von außen gesehen überraschte und beeindruckte, nicht das gesamte Staatsgebiet zu verteidigen vermochten, aber doch einen Teil davon, genug, um die politische Weiterexistenz zu sichern, die historisch immer ein Selbstbehauptungskampf zwischen Schweden und der Sowjetunion war.

Diese Perspektive wird nun auch den Ukrainern schmackhaft zu machen versucht. Die Russen sind lediglich stark genug, Teile des Territoriums zu erobern. Im Falle Finnlands waren das große Teile Kareliens.

Aber selbst ein Teilsieg à la Finnland bedarf der zeitlich und sachlich adäquaten Unterstützung. Wie sieht diese aktuell, übertragen auf die gegenwärtigen Verhältnisse aus? Beginnen wir beim akutesten Problem, der versprochenen Munition, sie fehlt seit einem Jahr!

Will die Ukraine die Front halten, braucht sie dringend Artilleriemunition. Insofern ist die Initiative des tschechischen Präsidenten Pavel, eines ehemaligen Nato-Generals, der weiß, wovon er spricht, in kürzester Zeit 800.000 Schuss Munition zu beschaffen, buchstäblich die „Rettung der Ukraine“. 

Auch die französische Regierung sieht die „Ukraine vor dem Zusammenbruch“, weshalb eine Unterstützerkonferenz in Paris einberufen wurde, bei der Staatspräsident Macron als letztes Mittel sogar „den Einsatz von Bodentruppen“ erwog, womit eine letzte rote Linie überschritten wäre. Die Reaktionen waren entsprechend heftig.

Gleichentags hatte nämlich Bundeskanzler Scholz begründet, warum er keine Taurus-Marschflugkörper mit 500 Kilometer Reichweite und großer Zerstörungskraft trotz inständiger Bitten liefern will. Er begründete es mit der Sorge, dass damit der Krieg auf russisches Territorium übertragen werden könnte und deutsche Soldaten involviert wären. 

„Die Nato wird keine Kriegspartei. Dabei bleibt es.“ Diese unmissverständlichen Sätze richtete er zuerst an die eigene Bevölkerung und zweitens an den französischen Präsidenten.

Der Frieden ist noch nicht gewonnen

Ist dies eine Friedensstrategie oder eine Kriegsverlängerungsstrategie oder beides? Regierungen wie die Bevölkerungen sind sich uneins und pendeln mit ihren Urteilen im freien Raum, während sich Macron und Scholz offen gegeneinander positionieren.“ In der schwersten Stunde Europas seit Jahrzehnten ist das moralische Zentrum leer“ (Die Zeit, 29.2., S.1).

Treffend ist von einer “ wechselseitigen deutsch-französischen Profilneurose“ die Rede (a.a.O.). Zudem fällt auf, wie sehr die amerikanische Führung fehlt. Der amerikanische Präsident ist blockiert, und der Verteidigungsminister Austin, der ehemalige General und Leiter der Rammstein-Unterstützergruppe, ist krank.

Während die einen etwa Polen, Schweden und Portugal finden, dass man in der Ukraine die besetzten Gebiete befreien soll, präferieren andere ein wie auch immer geartetes Friedensabkommen mit Russland (NZZ, a.a.O.). Putin wiederum setzt seit je auf Zeit und seine schier unerschöpflichen menschlichen und materiellen Ressourcen durch die ‚autarke‘ Rüstungsindustrie, was auch ein nationaler Mythos ist.

In seiner Rede an die Nation vom 28. Februar sprach er gleich zu Beginn über die Waffenproduktion und die Arbeit in drei Schichten, die es in Europa nicht gibt. Einer seiner stärksten Sätze lautete, dass der Westen gar nicht mehr wisse, was „Krieg“ ist. Für Putins Russland ist der Kampf mit dem Westen in der Ukraine inzwischen ein „Kampf um Leben und Tod“ geworden. Er hat auf Kriegswirtschaft umgestellt.

Obwohl Putin in seiner jüngsten Rede immer noch von der „Spezialoperation“ spricht mit der alten Rechtfertigung. Er will und braucht den Krieg, fanatisch bezogen auf den „Nazismus“, der wieder zu besiegen ist („wir können es wieder!“). Die Gedenkminute für die Gefallenen während der Rede dokumentiert das ebenso wie der ständige pathetische Bezug auf die „Helden“ der „Heimat“. 

Man sagt zwar, Putin sei „nicht selbstzerstörerisch“, aber als Märtyrer der Geschichte sieht er sich gleichwohl, was gefährlich werden kann, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht.
Russland ist das Opfer, nicht die Ukraine. Einen Schritt zu einer Verhandlungslösung außer zu russischen Bedingungen lässt er nicht erkennen.

Im Gegenteil wird gegenüber der Nato bei Eingreifen und Ausweitung des Krieges auf russisches Gebiet unverhohlen die Atomdrohung entgegengehalten, die ernstzunehmen ist, da sich Russland selber bedroht sieht. Die so genannte „Eskalation zur Deeskalation“ mit taktischen Atomwaffen ist relativ niederschwellig, während sich die strategischen Atomwaffen auf die Zerstörung der USA richten.

Im zweiten längeren Teil seiner langen Rede – dem „wichtigeren“(Putin)- ging es um die Armut im Land, die Familie und die Geburtenrate sowie die finanzielle und sozialpolitische Unterstützung dieser Reproduktion. Dies war die Wahlkampfrede für den März und sein Publikum das „Einige Russland“: Medwedew neben Kyrill, hohen Offizieren, Dumaabgeordneten und Vertretern der Regionen. Militär, Politik und Kirche sitzen andächtig nebeneinander als sichtbare personelle Einheit in der gefüllten Kongresshalle in der Nähe des Kremls.

Der Westen, insbesondere Biden in enger Abstimmung mit Scholz, wollen nicht Kriegspartei werden. Sie kennen und sprechen von roten Linien, sie führen Krieg mit der ‚Handbremse‘. Inzwischen blockieren die Republikaner gezielt Gelder für die Ukrainehilfe. Biden nennt das „unamerikanisch“, während Trump verspricht, den Krieg sofort zu beenden, wenn er Präsident werden sollte, was gegenwärtig nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sicher ist.

Das ist unweigerlich die eine große Unbekannte bis zu den amerikanischen Wahlen am 5. November. Die andere große Unbekannte bleibt China, die mächtigste Autokratie der Welt, und Putins strategisches Bündnis mit diesem Riesen, der nach außen in Formeln spricht und sich international überall als Friedenskraft präsentiert (im Nahen Osten, am Weltwirtschaftsforum in Davos, an der Münchner Sicherheitskonferenz).

Nicht zufällig begann Putins Rede am 28. Februar nicht mit der Innenpolitik, sondern mit einem Vergleich zwischen den wachsenden Wirtschaftsleistungen der BRICS -Staaten (R steht für Russland, C für China) und den G7 (zu denen Russland nicht mehr gehört). Die Schautafeln lässt er an die Wände der Kongresshalle projizieren.

Er spricht von „objektiven Tendenzen“, die für Russland sprechen, während der Westen die Welt wie „Kolonien“ behandelt. Es geht mithin letztlich um den Kampf für eine neue Weltordnung, und der Ukraine-Krieg ist für Russland ein Teil davon. Das Imperium wächst kriegerisch, mit zweifelhaften Verbündeten.

Die russische Föderation, das größte Land der Erde, wird ein Unruheherd für die Welt bleiben. Wirtschaftlich ist die Großmacht ein Zwerg und kulturell ohne Ausstrahlungskraft – ein Militärstaat, der gefährlich auseinanderbrechen kann. Ein demokratischer Föderalismus von den Regionen her wird nicht von heute auf morgen wachsen können, wie sich das ein Chodorkowski, der in London im Exil lebt, wünscht.

Es stimmt, dass der Westen, auch die USA, mitverlieren werden, wenn die Ukraine fällt, auch wenn ein Präsident Trump dies auf die Europäer schieben würde. Er würde das ‚Imperium‘ fortsetzen, besonders hart gegenüber China, und die ‚Republik‘ verlieren, für die der Demokrat Biden noch einmal antritt trotz seines hohen Alters (vgl. den Historiker Niall Ferguson in NZZ, 23. Februar, S.5, der die USA am Scheideweg ihrer republikanischen Entwicklung sieht).

Europa hatte auf Frieden, Freiheit, Wohlstand und Ausgleich gesetzt. Die globale Wirtschaft favorisiert mit Digitalisierung, Elektrifizierung und KI die Großen wie USA und China. Wir Europäer, aus welchem Land immer, sind zu klein und zu heterogen, und es gelingt nicht, Sympathien in den verschiedenen Kontinenten zu gewinnen. Ich bin aber überzeugt von diesem Kleinen und Heterogenen. 

Das ist zugegebenermaßen ein Stück ‚Eurozentrismus‘, welches die Achtung des Einzelnen und Besonderen sowie die Verteidigung des Individuums ermöglicht. Denn genau darauf hat es etwa die gefährliche eurasische Philosophie eines Alexander Dugin abgesehen, siehe den Blog Was heißt „Vierte Politische Theorie“ vom 2. Mai 2023.

Denken in der Zeit hat eine doppelte Bedeutung. Es bezieht sich auf Zeit im Sinne von Zeitgeschichte (einer Geschichte, der man nicht entkommt) und die Zeit der Entscheidung (anstelle von Theorie und handlungsentlasteter Reflexion). Bei der Rechtzeitigkeit hat die praktische Wahrheit einen Zeitindex, und bei der politischen Entschiedenheit bleibt ein dezisionistisches Restelement.

Die Größenordnung der Niederlage in der Ukraine, dem größten europäischen Land, geht weit über die Niederlagen in den „Kolonialkriegen“ der letzten Jahrzehnte hinaus. Selbst der desaströse Abzug aus Afghanistan nach 20 Jahren Krieg würde daneben als Episode verblassen. Diese Niederlage im zweiten Kalten Krieg würde den Sieg im ersten vergessen lassen, und das Verhältnis zwischen den europäischen Staaten und den USA zerrütten. Sie muss aber nicht zwangsläufig zur Auflösung der Nato führen. Auch ein Präsident Trump würde mit den USA nicht aus der Nato austreten.

Wie steht China dazu? Wie zu Putins offener Drohung mit dem Atomkrieg, der die Zivilisation auslöschen könnte? Das ist für Selenskis Friedensgipfel ebenso zentral wie für das Duo Biden/ Scholz. Einem Gerücht zufolge musste der chinesische Außenminister zurücktreten, weil er sich in der Russlandpolitik gegen seinen allmächtigen Präsidenten Xi gestellt hatte. Er wollte China als neutrale Macht zwischen den Kontrahenten positionieren und nicht als Alliierten Russlands.

Bildnachweis: IMAGO / StockTrek Images