Weiterungen des Krieges

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Die Ankündigung der neuen ‚Zeit‘ lautet am 28.September: „Auf einmal ist der Einsatz von Atombomben eine reale Gefahr. Was macht dann der Westen?“

Schon in seiner ersten Wutrede (am 23. Februar) drohte Putin mit modernen Waffen, die der Nato überlegen seien. Das sei kein Bluff. Er testete sie sodann öffentlichkeitswirksam, sogar in Kaliningrad.

Kürzlich (am 21. September) wiederholte er seine Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen. Wiederum betonte er, dass er nicht bluffe. Das lässt sich nicht dreimal sagen oder immer wiederholen, ohne dass die Drohung verpufft und selbst lächerlich wird. Das weiß auch Putin. Ist es also doch mehr als Imponiergehabe? 

Die Lage hat sich inzwischen objektiv verändert: nach den überraschend erfolgreichen Offensiven der ukrainischen Armee im September sowie nach den schnellen Scheinreferenden in den vier Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson und der offiziellen Eingliederung der Gebiete in die russische Föderation am 30. September.

Diesmal ist die Lage ernster und wird jeden Tag dramatischer, da Russland nun den imperialen Angriffskrieg in einen Verteidigungskrieg umdefinieren kann, in dem das Recht auf einen Einsatz mit Atomwaffen reklamiert wird. Den Donbass, die Cherson-Region und die Krim gibt man als Kriegsbeute nicht mehr her. Das sind 20% des ukrainischen Territoriums.

Lawrow hat am 24. September in seiner Rede vor der Generalversammlung, den Westen, insbesondere die USA beschuldigt, Russland zerstückeln und zerstören zu wollen. In seiner langen Rede am 30. September im Georgsaal in Moskau vor der russischen Führungselite wird Putin noch ausführlicher und deutlicher. 

Sie ist ein Rundumschlag gegen den Westen, insbesondere die USA als hegemonialer Führungsmacht. Sie wolle, dass ihre eigene Zivilisation der „neoliberalen Werte“ zum Vorbild für die Welt werde. Putin ist im Inhalt, Ton und Mimik ideologischer und fanatischer geworden. Er hat sich radikalisiert. Die Rede erklärt den Feind, den es zu besiegen gilt. Sie ist eine geistige Vorbereitung für den Weltkrieg. Man muss darauf hoffen, dass China diesem Weg nicht folgt.

Die USA und der Westen hätten endgültig „ihre Masken fallen lassen“, führt Putin aus. Russland lasse sich aber nicht deren Regeln und Werte aufzwingen, hinter denen als Hauptregel „das Recht des Stärkeren“ stehe. Er erwähnt den 1. Artikel der UN-Charta, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, und spricht auffällig häufig von Souveränität und souveräner Entwicklung gegen das „neokoloniale System durch die Macht des Dollars“. Er prangert die „Habgier des Westens“ und seine „Vasallen“ an. Russland führe die Anti-Kolonisten-Bewegung an.

Die Regierungen dieser Vasallen ließen sich sogar von den USA ausspionieren. Edward Snowden ist inzwischen russischer Staatsbürger. Die meisten Getreidefrachter würden nach Europa und nicht nach Afrika fahren. Die Nato hätte alle ihre Versprechen und Verträge nicht eingehalten. Russland soll ausgeplündert werden so wie andere Kolonien zuvor. Der Westen lebe in einem „Ozean von Lügen“.

„Russophobie ist Rassismus“. Die USA würden die Weltherrschaft anstreben. Dem stelle sich Russland entgegen und so weiter. Man muss sich die ganze 45minütige Rede anhören und nicht bloß die wenigen Ausschnitte, die in der ‚Tagesschau‘ wiederholt werden.

Der Kommentar des Experten unmittelbar danach lautete in einem Wort: „irre“ (Gressel in ’ntv‘). Die schiere Anzahl der Bezüge und Argumente (darunter viele Geheimdienstinformationen), die hier nicht alle wiedergegeben werden können, ist atemberaubend. Darunter sind bekannte linke Argumente gegen den amerikanischen Imperialismus. Insgesamt handelt es sich um ein Lehrstück in Antiamerikanismus.

Die Rechten in Europa und Amerika (die ‚Putinisten‘ oder ‚Trumpisten‘) werden sich das herausschneiden, was sie für ihre gewünschten ‚Querfronten‘ brauchen, um Bürgerkriegsfronten in und gegen die liberale gewaltenteilige Demokratie zu eröffnen, die vermeintlich schwach ist. Ein Diktator argumentiert gegen ‚Diktaturen‘.

Am Schluss der Zeremonie mit Macht und Pomp ertönen zusammen mit den vier Separatistenführern die Hurra-Rufe auf Russland. Die Stimmung im größten Saal des Kreml ist allerdings nicht derart euphorisch wie bei der Krim-Annexion 2014, die eine größere symbolische Bedeutung hatte. In der Propagandashow am Abend auf dem Roten Platz behauptet Putin, dass „Russland stärker geworden sei.“: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite, und die Wahrheit ist die Kraft, die den Sieg bedeutet.“

In der Rede nennt er die geistigen Verbindungen durch die mehr als tausendjährige Geschichte und gelobt, die neuen „russischen Staatsbürger für immer mit allen Mitteln zu verteidigen“. Er zitiert seinen faschistischen Lieblingsphilosophen Iwan lljin (1883-1954). Im ‚Putinismus‘ dominiert die Vergangenheit über die Zukunft.

Die historische Einheit ist mit der Annexion wiederhergestellt, Millionen Menschen kehren in ihre „historische Heimat “ zurück. Gleichzeitig werden 5000 russische Soldaten in der strategisch wichtigen Stadt Lyman im Donezk eingekesselt. Es handelt sich um zerrüttete Gebiete, in denen militärische Kämpfe und Partisanenkrieg präsent sind, die eher zunehmen als abnehmen werden.

Putin fordert einen sofortigen Waffenstillstand und bietet Verhandlungen an. Die Ukraine wiederum ruft den nationalen Sicherheitsrat ein und schließt Verhandlungen mit Putin kategorisch aus. Selenskyj beantragt vielmehr eine beschleunigte Aufnahme in die Nato.

Die politische Lösung Putins wird absehbar keinen Übergang für neue Gespräche schaffen, im Gegenteil. Man kann bezweifeln, ob es eine neue Phase des Krieges ist, aber für Putin ist es gewiss ein riskantes neues Kapitel, das er aufschlägt, von dem Nato-Generalsekretär Stoltenberg zurecht sagt, es sei die schwerste Eskalation seit Beginn des Krieges (30.9.). Die Vereinten Nationen sind in diesem Konflikt dysfunktional.

Die Ukraine wird militärisch weiter in die Offensive gehen. und die neuen Soldaten, die Putin dringend braucht, die 300 000 Reservisten werden erst in einiger Zeit einsatzfähig sein. In seiner Logik muss er zumindest den ganzen Donbass militärisch restlos unter seine Kontrolle bringen. Dieser Kampf ist noch nicht ausgekämpft. Das ist die offene Frage, die wir im Moment nicht einschätzen können. Das ‚Momentum‘, wie man heute sagt, ist auf Seiten der Ukraine.

Der Krieg ist durch die Teilmobilisierung nun auch an der Heimatfront angekommen, und die jungen Männer versuchen, sich dem Militärdienst zu entziehen. Es läuft keineswegs alles nach Plan, was Putin sieht und öffentlich zugibt. Die Bilder von der Grenze zu Georgien und Finnland sprechen Bände, außerdem gibt es Widerstand von mutigen Frauen und Müttern gegen die Einberufung in Dagestan und anderswo: „Wer hat angefangen?“ Sind wir angegriffen worden“? „Das Kostbarste, unsere Kinder, werden wir nicht hergeben.“

Desertion und Widerstand erinnern an das Ende der Kriege in Vietnam und Afghanistan. Das Resultat von Putins Operationen ist jetzt noch nicht absehbar, sowohl militärisch wie politisch. Tatsache ist jedoch, dass der Brain Drain verheerend wirkt. Und die Unruhe ist eingekehrt im großen Land, eine Palastrevolution gegen Putin hingegen ist nicht in Sicht. 

Die Ukraine ihrerseits wird entscheiden, wie es weitergeht, solange sich der Westen durch die nuklearen Drohungen nicht erpressen lässt. Einen Diktatfrieden soll es nicht geben. Für die Nato wird der Balanceakt, die Ukraine zu unterstützen und gleichwohl nicht Kriegspartei zu werden, immer schwieriger.

Die USA haben bereits klargemacht, dass der Gebrauch von Nuklearwaffen “ katastrophale Konsequenzen“ haben wird, so der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan. Die Militärs müssen sich auf das politisch Undenkbare vorbereiten, und die entscheidende Politik muss wissen, was auf sie zukommen kann.

Das führt zu Entscheidungskonflikten zwischen Militär und Politik, die man seit der Entscheidung in Potsdam Juli/August 1945 zu den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki (Truman), dem Koreakrieg 1951 (Truman/ General MacArthur) und der Kubakrise 1962 kennt. Die Abhängigkeit von Informationen und Einschätzungen der Geheimdienste kommt erschwerend hinzu.

Dass Putin strategische Atomwaffen oder Mittelstreckenraketen mit großer Reichweite einsetzen könnte, gilt für Experten nahezu als ausgeschlossen (siehe auch in: The Atlantic, 20. Juni 2022). Die Vorbereitungen dazu würden nicht unbemerkt bleiben, denn sie haben einen gewissen Vorlauf. Plausibler erscheinen drei andere mögliche Szenarien (siehe ‚Die Zeit‘, 29.9., S.2): Ein erstes wäre eine Warnung mit einer taktischen Atomwaffe, um den Westen zu erpressen. 

Gefährlicher wäre sodann eine Bombe hoch über der Ukraine, welche die Kommunikation des ukrainischen Militärs ausschalten würde. Der verheerendste Schlag wäre schließlich der Angriff auf eine Stadt, was als unwahrscheinlich gilt, weil Russland sich so zum Paria der Weltgemeinschaft machen würde, so wird argumentiert. Das nukleare Tabu ist jedenfalls gebrochen trotz der Konferenzen in Genf.

Die Experten gehen davon aus (Zeit, a.a.O.), dass zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Putin Atomwaffen einsetzt:

  1. dass sich die Eskalation auf Europa begrenzen lässt und die USA sich heraushält (was nicht der Fall sein wird!) sowie
  2. China auf Russlands Seite bleibt, was unsicher ist.

Der frühere amerikanische Nato-General Hodges (Future war 2020) ist sich sicher, dass die Reaktion der Nato „konventionell“ ausfallen wird, da man auf dieser Ebene noch zusätzliche Eskalationsmöglichkeiten zur Verfügung hat (Zeit, a.a.O.). Eine Flugverbotszone, die bisher konsequent vermieden wurde trotz Protesten von Anfang an, auch von Harvard-Studenten, könnte zum Beispiel denkbar werden. Sie muss militärisch durchgesetzt werden, ebenso die Ausrüstung der Ukraine mit Mittelstreckenraketen. Ein Angriff auf die russische Schwarzmeerflotte, die in Sewastopol ihr Hauptquartier hat, gehört ebenfalls zu diesen Eskalationsmöglichkeiten unterhalb der atomaren Schwelle.

Zwei Schlüsse

„Das nukleare Risiko steigt“(FAZ, 28.9., S.1), das ist die eigentliche Weiterung des Krieges. Soll Deutschland die Wiedereroberung der Krim unterstützen? In einem Streitgespräch (Die Zeit, 29.9., S.12) zwischen dem FDP-Politiker Graf Lambsdorff und dem Politologen Varwick hält dies der Professor für internationale Politik für unverantwortlich: „Wir müssen – so unschön das ist – einen Status quo akzeptieren, der weder gerecht noch legal ist. Denn die Alternative wäre eine Eskalation, möglicherweise unter Einsatz von Nuklearwaffen.“ 

Der Politiker, dessen Partei deutsche Waffenlieferungen auch gegen Zögerlichkeiten von Kanzler Scholz unterstützt, hält dagegen: „Ich würde einen Status quo in einem genozidal geführten Krieg auch nicht akzeptieren.“ Die Rückeroberung der Krim sieht er als „Befreiung“. 

Dafür wären allerdings deutsche Leoparde und Marder an großer Zahl nötig. Verändert die Annexion am 29.9. die Risikoabwägung? Müssen jetzt nicht wegen der russischen Eskalationsdominanz Kompromisse gefunden werden? Was heißt ‚konkret‘ vorsichtig sein? Varwick schlägt vor, verstärkt an einer politischen Lösung zu arbeiten, die bedeuten würde, „den Krieg einzufrieren und nach einer Lösung für die besetzten Gebiete zu suchen.“

Lambsdorff teilt die Sorgen, kommt indes analytisch zu einem anderen Schluss. Er hält tatsächlich die „Gefahr einer Eskalation für extrem gering.“ Diese Einschätzung gibt den Ausschlag. Varwick seinerseits will auf die Ukraine einwirken, was real sicherlich nur die Amerikaner könnten, um noch einmal zum Beispiel über die Krim-Frage einen Verhandlungsprozess wie seinerzeit im März in der Türkei zu beginnen. Die Aufgabe wirklicher Diplomatie wäre, „unvereinbare Positionen zu einer gemeinsamen Position zu schmieden.“

Bildnachweis: IMAGO / UPI Photo