Wahrheit und Lüge

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Ein ehemaliger KGB-Agent sagte kürzlich, „dass es um Lügen geht mit der Beimischung von Elementen der Wahrheit“. So zum Beispiel, wenn der Kreml davon spricht, „die Ukraine vom Nazismus befreien zu müssen.“ Das rechtsextreme Asow-Regiment spielt bei der Verteidigung von Mariupol eine militärische Rolle, hat aber politisch keinen nennenswerten Einfluss weder auf die Regierung noch das Volk der Ukraine.

Der altbekannte Satz, dass in einem Krieg die Wahrheit das Erste ist, was auf der Strecke bleibt, ist richtig. Propaganda wie gezielte Desinformation gibt es auf beiden Seiten, und beide Seiten werfen der anderen Kriegsverbrechen vor. Der Informationskrieg wird im modernen hybriden Krieg immer wichtiger. Putin investiert viel in Desinformationskampagnen, um Demokratien zu destabilisieren. Informationskrieger im Internet helfen ihm dabei.

Die Geheimdienste und ihre Informationen spielen für politischen Entscheidungen in Kriegszeiten eine maßgebliche Rolle. Es wird für demokratische Regierungen schwierig, die Kontrolle über die Militärs und die Dienste zu behalten. Die militärstrategische Taktik, die auf dem Gefechtsfeld ultraschnell sein muss, ist nicht mehr in ihren Händen.

Wahrheit und Politik stehen seit jeher auf Kriegsfuß gegeneinander, wie erst im Krieg selbst! Um das zu erkennen, muss man kein Machtzyniker sein oder werden. Diese Steigerung ist offensichtlich, ein kurzer Blick in die verschiedenen Medien, ihre Bilder und Kommentare genügt, und man wird sich in verschiedenen Welten finden. Die Nachrichten sind unabhängig oft nur schwerlich in verfügbarer Zeit zu verifizieren. Wir sind vielmehr von seriösen Medien und ihren Journalisten als Gatekeeper geradezu abhängig. Sie versorgen die Öffentlichkeit mit evidenzbasierten Informationen.

Was aber heißt Wahrheit? Ohne die lange und verschlungene Geschichte der Antworten auf diese Frage durchgehen zu können, sei hier nur auf Mindestbedingungen hingewiesen, die dem gesunden Menschenverstand nahekommen, aber selbstverständlich immer noch umstritten sind. Wie könnte es bei philosophischen Fragen, die immer im Streit sind, auch anders sein?

Es gibt verschiedene Theorien der Wahrheit (Korrespondenztheorien, Konsenstheorie, Kohärenztheorien, Evidenztheorie). Man darf aber auch vereinfachend von Tugenden der Wahrheit sprechen, und es leuchtet ein, dass zumindest Genauigkeit und Wahrhaftigkeit dazugehören (Williams). Genauigkeit ist relativ, aber das Bemühen, objektiv und sachlich zu bleiben, ist mehr als wichtig. Das gehört zur Sache der Wahrheit hinzu, ebenso die Selbstprüfung auf Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit oder Ehrlichkeit als Gegenteil der Lüge.

Augustinus (354 – 430) hat sich zeitlebens mit Wahrheit und Zeitlichkeit beschäftigt. Von ihm stammt der Satz: „Wenn die Achtung vor der Wahrheit zerstört oder auch nur geschwächt worden ist, dann wird alles zweifelhaft bleiben.“ Augustinus Weg der Selbstbefragung führt ins Innere (reditio in se ipse), in gewisser Weise nimmt er damit Descartes methodischen Zweifel vorweg (cogito ergo sum). Heutige Wege zur Wahrheit führen kommunikativ zu den Anderen als Bestätigung (Trans- und Intersubjektivität).

„Die Zeiten, in denen die Verpflichtung zur Wahrheit und Aufrichtigkeit in der Verbindlichkeit religiöser Glaubenssysteme verankert war, sind vorbei“ (Bok 1980). Dazu sind Säkularisierung, Kommerzialisierung und Konkurrenz in der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu weit vorangeschritten. Die nicht-religiöse Aufklärung glaubte, das Problem der Wahrheit der Wissenschaft und die Frage der Aufrichtigkeit der individuellen Gewissensentscheidung überlassen zu können.

Wahrheit und Lüge sind nicht nur ein drängendes Problem im Krieg, sondern ebenso im Alltag. Das schwindende Vertrauen in die Politik, das Misstrauen gegenüber Expertokratie und Technokratie sowie die erheblichen Zweifel an interessenfreier Wissenschaft untergraben die Legitimitäts- und Fortschrittsgrundlagen der modernen Gesellschaft. Das sind keine bloß akademische Fragen. Darüber hinaus betreffen sie unmittelbar die Berufsethiken von Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten, Lehrern usw. (ausführlich dazu Bok).

Die bewussten Täuschungen, strategische Verstellung statt persönlicher Aufrichtigkeit, bei Politikern und Militärs, die Wahlen und Kriege gewinnen wollen, spielen noch einmal eine gesteigerte Rolle, die über unser bisheriges Thema ‚Wahrheit und Lüge‘ hinausgehen. Die Strategeme der Kriegslist werden hier zu einer Wissenschaft für sich, die sich im hybriden Krieg von heute neue Techniken, Räume (Satellitenüberwachung, Cyberspace) und Medien zunutze machen. Sie instrumentalisieren oder finalisieren auch andere Wissenschaften. Der militärisch-industriell-wissenschaftliche Komplex von heute ist teurer, grösser, komplexer und undurchsichtiger geworden.

Hannah Arendt hat völlig recht, wenn sie sagt, dass die Gefahren für die Wahrheit im politischen Bereich eher ein politisches als ein philosophisches Problem sind. Dafür bedient sie sich einer wichtigen Unterscheidung, die von Leibniz stammt: die Scheidung der Tatsachenwahrheiten von den begrifflichen und logischen Vernunftwahrheiten. Die Tatsachenwahrheiten sind heute in der medial übersättigten Zeit von Fake News tatsächlich gefährdet, was den Raum des Politischen zerstört, der ein Ergebnis menschlichen Zusammenlebens und Zusammenhandelns ist.

Tatsachen oder Ereignisse können fortgelogen, vergessen und vernichtet werden. Sie haben es schwer, den Angriffen politischer Macht, die ihre Geschichte und Geschichten schreibt, zu widerstehen: „Wenn politische Macht sich an Vernunftwahrheiten vergreift, so übertritt sie gleichsam das ihr zugehörige Gebiet, während jeder Angriff auf Tatsachenwahrheiten innerhalb des politischen Bereichs selber stattfindet“ (Arendt, S.121).


Literatur:
Augustinus, Confessiones
Descartes, Meditationes de prima philosophia (1641)
Leibniz, Monadologie (1720), && 28-32
Bernard Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt am Main 2013
Sissela Bok, Lügen. Vom täglichen Zwang zur Unaufrichtigkeit, Reinbek bei Hamburg 1980
Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik (1972), in: Denken ohne Geländer, München 2005

Bildnachweis: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay