Der Kampf um die Wahrheit ist im Krieg vor allem ein Kampf um die Bilder geworden.
Das ist in einer Zeit, wo das Fernsehen das Fenster zur Welt geworden ist, erst recht so, wo einzelne Bilder eine besondere bewegende Wirkung entfalten können. Das Massenmedium erreicht die Massen wie sonst nur noch der Sport. Wir wissen das aus dem Vietnamkrieg, wo der Einsatz von Napalmbomben eine ganze Jugend verrückt gemacht und riesige Protestbewegungen rund um die Welt ausgelöst hat.
Wir kennen es aber auch mitten aus Europa, wo das multikulturelle Sarajewo, eine Hauptstadt Europas und zugleich eine europäische Stadt 1992/93 1425 Tage lang belagert worden ist; 11000 Menschen wurden getötet, darunter 1600 Kinder. Sarajewo und Dubrovnik (1991), das in seiner langen Geschichte als Stadtrepublik der Freiheit nie erobert worden ist, sind von den Hügeln aus mit Artillerie barbarisch beschossen worden – so nahe und nicht lange her, aus den neuesten Werbeprospekten aber schon wieder getilgt.
Die Wahrheit, soviel scheint gewiss, ist evidenzbasiert. Die beiden Realitätsschocks – die Coronapandemie und der Ukrainekrieg – haben es wieder demonstriert. Im einen Fall zeigt sich die Wahrheit in Zahlen als Indikatoren, im anderen Fall in erschütternden Bildern. Aus beidem lassen sich für jeden Einzelnen Rückschlüsse ziehen. Kennt man die Zahlen oder die Bilder, weiss man mehr. Man kann auf die Wahrheit zeigen, so, wenn Klitschko „die Wahrheit zeigt, indem er auf die Bilder seiner Handykamera aus dem zerstörten Kiew hinweist“(am 15. März 2022). Und immer wieder, von verschiedenen Menschen und unterschiedlichen Orten aus.
Zahlreiche Videos von der Handykamera, die inzwischen fast jeder hat, kursieren. Insofern hat sich die Kommunikation verbessert, die in anderen Hinsichten, was Hoffnungen ins demokratische Internet betrifft, auch problematisch geworden ist. Wir können aber feststellen, dass es keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit mehr gibt, auch für Philosophen nicht. Daraus folgt demokratietheoretisch: der gesunde Menschenverstand von potentiell allen spricht mit. Er ist gesund, solange er urteilsfähig bleibt.
Die billigend oder bewusste Inkaufnahme ziviler Ziele durch Beschuss ( im Jugoslawien-Krieg sprach man von „Kollateralschäden“) sind Kriegsverbrechen. Sie werden akribisch dokumentiert für eine spätere rechtliche Aufarbeitung des Krieges. Selbst im Krieg, der das schlimmste Übel ist, gibt es (Genfer) Konventionen und Gesetze, worüber die Militärs unterrichtet sind.
Auch die eingesetzten Waffen und ihre Zerstörungen können buchstäblich gezeigt werden, die (Personen)Minen, kulturellen und ökologischen Schäden bleiben. Vieles wird auch übertüncht wie das schlimmstzerstörte Grosny aus dem Tschetschenienkrieg, das heute wieder eine Retortenstadt ist.
Die Wahrheit beruht aber nicht nur auf Evidenz. Sie muss auch von Personen sachlich (objektiv) und glaubwürdig (wahrhaftig) behauptet werden. Mit anderen Worten: man muss sich die Wahrheit zutrauen. Oft gibt es verschiedene Ansichten und Interpretationen derselben Bilder und Zahlen. Dann kann man von vielen Wahrheiten sprechen und davon, dass die Interpretation massgeblich wird.
Ist deswegen alles Interpretation? Auch wenn relational, nicht relativistisch fast alles auch eine Sache der Interpretation ist (gegen Dogmatismus, Fundamentalismus und Fanatismus gesprochen), gibt es dennoch die Wahrheit im Singular oder die Suche danach, die in bestimmten Situationen behauptet werden kann und muss.
Die Möglichkeit der Interpretation( Hermeneutik) steht gegen jeglichen Fundamentalismus, nicht nur religiöser, sondern auch erkenntnistheoretisch- philosophischer Natur. In autoritären und totalitären Systemen bedeutet allein schon die Behauptung der Wahrheit Opposition. Oft sind es Einzelne, die sich das zutrauen:Georg Elser zum Beispiel oder Politkowskaja und Chodorkowski. Ihr Mut zum Widerstand geht über den Mut zur Wahrheit hinaus.
Keine Wahrheit ohne Evidenz! Ist sie aber schon ein hinlängliches Kriterium oder braucht es noch andere Kriterien der Wahrheit wie Konsens (Habermas), Kohärenz im Rahmen eines Aussagensystems oder die Adäquation zwischen Satz und Wirklichkeit (Aristoteles, Tarski). Es gibt verschiedene Wahrheitstheorien, so wie es verschiedene Demokratietheorien gibt.
Zur Wahrheit führen verschiedene Wege, das muss man zugeben, aber sie sind noch nicht die Wahrheit? Wann hat man sich ihr angenähert? Das ist nicht immer leicht zu sagen, manchmal sogar besonders schwer herauszufinden und in gewissen Fällen lässt man sie besser in der Schwebe. Auch damit lässt sich leben, ausserdem existiert das moralische Argument, in manchen Situationen von Wahrheitsrigorismus ganz abzusehen.
Diese Schwierigkeiten wollen wir keineswegs in Abrede stellen, sondern hier lediglich auf Mindestbedingungen der Wahrheit hinweisen, die in extremen Situationen elementar und lebenswichtig werden. Für normale Demokraten sind elaborierte akademische Diskussionen ohnehin nicht so wichtig, weil sie sich ihre Urteile aufgrund dessen bilden, was sie sehen und hören.
Und das bedeutet zumindest: hinsehen und nicht wegschauen, zuhören und sich informieren.
Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire