Wahlkampf um die demokratische Mitte

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Den Kampf um die ethisch-politische Mitte gewinnt man nur mit einem seriösen Verständnis von Demokratie. Die AfD politisch schlagen, heißt vor allem Protestwähler abzuhalten und Nichtwähler zu gewinnen, beides mit überzeugenden Gründen. 

Welche plausiblen Gründe für möglichst Viele gibt es auf kommunaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene für die Wahlen in diesem Jahr mit den Kommunalwahlen, der Europawahl und den drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg? 

Was haben die breiten Proteste in vielen Städten, gegen Rechtsextremismus und die AfD im Januar nach den Correctiv-Enthüllungen des Geheimtreffens in der Villa Adlon in Neu-Fahrland dazu beigetragen? Sie waren von Empörung und Entsetzen getragen über die Remigrationspläne, die dort erörtert wurden. 

‚Remigration‘ erschreckt ausländische Fachkräfte, die man dringend braucht, gerade auch im Wettbewerb um sie. Die Verbände der Wirtschaft sind aufgeschreckt und warnen vor der wirtschaftsfeindlichen AfD wie noch nie. Die regionalen Tageszeitungen sind voll davon, jeder bekommt es mit, gerade in Ostdeutschland, das mitten in einem zweiten Strukturwandel steckt, in den viel Geld fließt. 

Der christdemokratische Innenminister Brandenburgs Stübgen erklärte im Potsdamer Landtag am 24. Januar, es handle sich um „Deportationen“, die auf dem identitären rechtsextremistischen Konzept des Ethno-Pluralismus (Sellner) als „Rassen-Pluralismus“ beruhen. Die Erinnerung an dunkle Kapitel deutscher Geschichte wird wach und mobilisiert: Nie wieder! 

Die spontanen Proteste nicht nur der üblichen Verdächtigen mögen Protestwähler davon abhalten, AfD zu wählen. Man weiß jetzt besser, mit wem man es zu tun hat, wenn sie die politische Mehrheit erreichen sollte. Die wehrhafte Demokratie wappnet sich zurecht. 

An die eigene Verantwortung wird appelliert. Dem diente auch die argumentative Debatte (trotz Tumulten) im Parlament. Die deutsche Staatsbürgerschaft, der feste Anker dafür, Rechte und Pflichten zu haben, ist es wert, auch und gerade im Zusammenhang mit dem großen und kontroversen Politikfeld der Migration, verteidigt und erörtert zu werden. Es ist Gelegenheit für eine anspruchsvolle Bürgerschaftspolitik als Demokratiepolitik, die mehr als ein aktuelles Thema ad hoc ist. 

„Turbointegration“ für die einen, die man als Fachkräfte dringend braucht, gefordertes schnelles und konsequentes „Abschieben“ für die anderen, die kein Bleiberecht haben, so lautet im Moment die gewünschte Arbeitsteilung. Dazu kommt die bundesweite Bezahlkarte statt Bargeld, 14 von 16 Ländern haben sich darauf geeinigt, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern wollen eigene Wege gehen.

Mitunter wird bei den spontanen Kundgebungen und Demonstrationen gegen die AfD und vor allem ihre ausländerfeindlich bzw. rassistisch argumentierenden und agierenden „Truppenteile“ nicht klar, wie stark man sich dabei selbst von ideologisch aufgeladenen Polemiken und historischen Bildern leiten lässt, die am Ende des Tages über das Ziel „hinausschießen“ und es der AfD bequem machen, öffentlichkeitswirksam in die Opferrolle zu schlüpfen.    

Mit fragwürdigen historischen Vergleichen in der Sprache eines antifaschistischen Verbalradikalismus („Nazipartei“, „Weimarer Verhältnisse“ , 1933, Wannseekonferenz 1942) gewinnt man allerdings keine demokratischen Auseinandersetzungen. Auch Demos gegen „Rechts“ sind zu pauschal, um „die Demokratie zu retten“. Nicht alles, was nicht ‚linksgrün‘ ist, ist deswegen rechts. Diese Etiketten verdecken mehr als sie aufdecken. 

Dennoch sind die breiten Proteste richtig und enthalten viele neuen Momente, die festzuhalten sind. Sie gehen über die großen Städte hinaus in die Fläche und die Dörfer (rbb24, 25.1.), sind generationenübergreifend und erfassen viele, die vorher noch nie demonstriert haben – ‚Weltoffenes Sachsen‘, ‚Weltoffenes Thüringen‘ und ‚Brandenburg zeigt Haltung‘. Auch in Sachsen finden große Demonstrationen gegen Rechts statt, gleichzeitig erfährt man durch aktuelle Umfragen, dass zwei Drittel der Sachsen ihr Land für „überfremdet“ halten. Was bedeutet das? 

Damit bekommen die Wahlen, auch die Kommunalwahlen im Juni (die wichtiger werdende Briefwahl beginnt schon bald!), ein größeres Gewicht. Diese Wahlen sind hier und jetzt die wichtigste Bürgerbeteiligung, sagt jetzt auch die Bürgerbeteiligung der Beteiligungsaktiven, die für eine vielfältige Demokratie der Bürger und Bürgerinnen steht, welche die Parteien, Parlamente und Regierungen alltäglich viel stärker gewichten sollten, nicht nur konsultativ. 

Deshalb wird im Beteiligungsrat in Potsdam, neben anderem, diskutiert, was zu den Kommunalwahlen vor Ort beigetragen werden kann. Eine eigene Arbeitsgruppe erarbeitet dafür Vorschläge, und der Verein mitmachen e.V., der auch Träger der externen Werkstadt für Beteiligung ist, übernimmt die Organisation wie schon 2021. Die AfD hatte damals bei den Jugendwahlen U18 den dritten Platz belegt. Die Aktivitäten der „Jungen Alternative“ und ihre Medien hat man vorher und seitdem wieder(!) viel zu wenig beachtet, um darauf eingehen zu können. Alarmismus im Nachhinein ist zu wenig und zu billig. 

Spezielle originelle Veranstaltungen und Kampagnen für die Erstwähler werden ebenfalls wieder nötig wie in den Vorjahren. Die Nichtwähler dürfen eine Partei bleiben, aber nicht die größte Partei werden. Ob es sinnvoll ist, das Wahlalter auf 14 Jahre zu senken, wie es die Grüne Jugend vorschlägt, ist allerdings zu bezweifeln. Praktisches Demokratielernen in und außerhalb der Schule bringt mehr; siehe zum Beispiel Jugendbeteiligung und Bürgerbudgets (JUBU), ein Projekt, das inzwischen über Brandenburg hinausgeht. 

Wie geht es weiter mit der zivilgesellschaftlichen Protestbewegung gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie? Protest ersetzt noch keine Politik. Vielschichtig ist jetzt für die Demokratie als Lebens- und Regierungsform zu werben. Die Monate bis zu den Wahlen auf den verschiedenen Ebenen können dafür genutzt werden. Das gilt für EU-Europa genauso wie die kommunale Ebene bei der Verbesserung der Bürgerbeteiligung. Sie sind mitnichten Wahlen zweiter Klasse. 

Der Aufstand für die Demokratie muss sich demokratiepolitisch auswirken. Die demokratischen Wahlen mit hoffentlich mehr Beteiligung sind auch, wenngleich nicht nur, Wahlen über die Demokratiepolitik. Das sollten die Parteien selbstkritisch nutzen, und die Bürger motivieren, neugieriger, hartnäckiger und offensiver zu werden. 

Demokraten kämpfen gemeinsam – bei allen politischen Differenzen tolerant- gegen Antidemokraten; auch die AfD kämpft gegen Antidemokraten und die „Toleranzbündnisse der Etablierten“, wie sie sagt. Da täuscht sie sich. 

Die friedlichen Massenproteste, die zum Teil – auch das ist neu – wegen Überfüllung in München und Hamburg früher abgebrochen werden mussten, haben der AfD zwar Stimmen gekostet, aber ohne, dass dies den demokratischen Parteien zugute gekommen wäre. Eine politische Trendwende gibt es noch nicht, aber Chancen, dass aus dem Anstoß auf der Straße etwas wird. Wie lebt die Demokratie? „Für Demokratie und Vielfalt – gegen die AfD“. Welche nachhaltige Fortsetzung findet diese richtige Parole? 

Auch die Parteien stoßen wieder auf Interesse. Was können die demokratischen Parteien, was kann die Regierung, was die Zivilgesellschaft zur Verteidigung der Demokratie im Kampf um die demokratische Mitte beitragen? Mit welchen durchschlagenden Argumenten? Lediglich reflexhafte Empörungen gehen auf Kosten einer klugen und gleichzeitig entschlossenen Politik. Für weitere Stimmen muss man mit präzisen, deutlichen und konkreten Worten arbeiten und mit den Vielen, wo auch immer, ins Gespräch kommen. 

Beginnen wir mit der Regierung, die nach den neuesten Umfragen in einem Tief steckt, genauso wie ihre Spitzenpolitiker Scholz, Habeck und Lindner. Viele ärgern sich nicht nur über den dauernden öffentlichen Streit, der zur Demokratie gehört, sondern denken, dass die Koalition, die als Fortschrittsexperiment der drei Parteien begonnen hat, inkompatibel ist und vor dem Scheitern steht – „stehend KO“(Dobrindt). 

Die CDU/CSU steht mit ihrem neuen Grundsatzprogramm und einem staatsmännisch gewordenen Friedrich Merz als demokratische Alternative bereit. „Die Sozialdemokratie kann keine Wirtschaftspolitik“ (Merz, 30.1.). Die Liberalen halten den Haushalt 2024 mit „Gestaltungsehrgeiz“ (Lindner) im Lot, sie geben der Vorgängerregierung die Schuld für die horrenden Schulden.

Die Experten wiederum, die ‚Wirtschaftsweisen‘, kritisieren die strikte Einhaltung der Schuldenbremse, die es seit 2011 gibt. Selbst Top-Ökonomen sind sich uneins ( Feld vs. Fratzscher). Beim Sparen sodann gehen die Meinungen auseinander und das geht weit in die Bevölkerung hinein. Im Wahlkampf wird dies eine Rolle spielen. 

Daran sieht man exemplarisch, wie schwierig demokratisches Regieren geworden ist. Bei einer Direktwahl läge Merz vor Scholz. Die Rollenerwartungen an den Kanzler sind bezeichnend für die bundesrepublikanische Kanzlerdemokratie, was eine Fixierung und Verengung der Demokratieproblematik ist. Darauf sollten sich die Wählerbürger jedoch nicht einlassen. Orientierung müssen sie sich auch selber verschaffen und nicht allein von der „Führung“ erwarten. Letztere wiederum muss bei Versprechen -„Ankündigungsweltmeister“- vorsichtiger werden. 

Neuwahlen im Sommer würden die Zustimmungswerte zur AfD am deutlichsten senken, so die These des bayrischen Ministerpräsidenten Söder am 27. Januar. Mit Sicherheit würden sie aber für die Regierungsparteien – beim gegenwärtigen Stand – ein Debakel bedeuten. 
Was aber heißt schlecht regieren? 

Was können Regierung und ihre Parteien besser machen, um wieder Punkte zu sammeln? Die wichtigsten Themen für die meisten Leute sind Migration, Sicherheit und materielle Probleme. Das sozialdemokratische Motto „Soziale Politik für dich“: Klimageld, Bürgergeld, Kindergeld, Mindestlohn, Wohngeld, Rente lässt sich monetär beziffern, jeder wird seine eigene Rechnung aufmachen. Die versprochenen (Sozial-) Wohnungen hätte man jedoch nicht in Zahlen (400 000, 200 000) festschreiben sollen, da sie für alle ersichtlich bei weitem nicht eingelöst werden können. 

Das blaue Wunder der AfD und die Wahlen in diesem Jahr sind Anlass für diese Überlegungen. Die AfD ist auch nach den großen bundesweiten Straßen Protesten im Januar gegen sie auf dem zweiten Platz vor der SPD (mit 20%, Stand Januar 2024, am 30. Januar rutscht sie unter 20%). Der „dümmsten Regierung Europas“ (27.1.) wird auch dieser negative Erfolg angelastet. Zum Beispiel von Sarah Wagenknecht, deren neue Partei im Osten zum ersten Mal antritt und ein Wählerpotential möglicherweise von mehr als 10% hat. 

Sie ist ambitioniert und will eine ‚Volkspartei‘ werden (Fabio de Masi). Auf Koalitionspartner legt sie sich klugerweise nicht fest. Ein neues Rot-Grün soll es jedenfalls nicht werden, wie bei Oskar Lafontaine anfangs der 80er Jahre („Der andere Fortschritt“ 1985). Daran lässt sich ermessen, wie sich Deutschland 2024 ideenpolitisch verändert und kompliziert hat. 

Mit großen Worten beginnt der erste Parteitag von BSW in Berlin am 27.1.: „Die mutigsten Menschen Deutschlands“ haben sich zu einer neuen Partei zusammengetan, sie wollen auch intern besser miteinander umgehen. Die Partei setzt auf Expertenräte, nicht auf Bürgerräte, aber immer, dem Anspruch nach: ‚für alle‘: „Politik für alle“ (Lafontaine), „Wohlstand für alle“ (Erhard). 

‚Vernunft und Gerechtigkeit‘ ist ja auch der Titel eines philosophischen Oberseminars. Abgehoben gegen die abgehobene Politik? Inhaltlich wird die Eröffnungsrede von Wagenknecht zu einem wahren Rundumschlag gegen alle Parteien, mit denen man womöglich schon bald zusammen regieren muss/will. Bisher musste Wagenknecht noch nie politische Verantwortung übernehmen. 

„Merz wäre nicht nur das kleinere Übel“, er führe das Land genauso in den Krieg wie Scholz. An Regierungskritik übertrifft Wagenknecht die AfD. Wird so der ‚Linkskonservativismus‘, der in Teilen zur DDR-Sozialisation passt, eine neue starke politische Kraft? In Sachsen, Thüringen und Brandenburg verdrängt er bereits die Linke. Die BSW ist „keine Linke 2.0“, das trifft zu. 

Das Europawahlprogramm von BSW enthält grundsätzliche und konkrete Punkte. Die EU-Kritik an der ausufernden EU-Technokratie ist kein Dexit à la AfD, mit der sie in Deutschland schwerlich der große Wahlsieger am 9. Juni werden wird. Es ist vielmehr ein föderalistisch-demokratischer Gedanke, das , was lokal, regional oder national besser geregelt werden kann, auf dieser Ebene auch zu regeln, gegen den Kompetenzsog vom Zentrum her. 

Den Handel mit CO2 -Zertifikaten will man abschaffen, das Verbot von Verbrennermotoren ebenfalls, letzteres sind auch Punkte der AfD. In der Migrationspolitik will das BSW vermehrt Asylverfahren an den Außengrenzen und in Drittstaaten. Die Russlandfreundlichkeit, die gerade in Ostdeutschland vielen gefallen wird, ist offensichtlich: 

Gas will man wieder von dort beziehen, und die Sanktionen abschaffen. Wie man allerdings zu einem schnellen Verhandlungsfrieden mit Russland kommen will, bleibt offen. Dass man die Ukraine militärisch nicht mehr unterstützen will, ist hingegen entschieden und wird vieles in Europa mitentscheiden. 

Friedenspartei ist man lediglich rhetorisch. Lafontaine und Wagenknecht wollen wieder an die 80er Jahre der Friedensbewegung anknüpfen mit einem ausgeprägten „Ami go home“. Erstmals wird tatsächlich die Außen- und internationale Politik 2024 wieder ein bewegendes innenpolitisches Thema in Deutschland. 

Das wird sich im Zusammenhang mit den Fragen der Verteidigung als Vorbereitung auf einen Krieg noch erheblich verschärfen (siehe den Blog Die ungeliebte Priorität vom 2. Januar 2024). EU-Europa steht außen- und innenpolitisch unter Druck wie noch nie. Eine verteidigungspolitische Agenda steht daher dringend an, unabhängig davon, wie der amerikanische Wahlkampf ausgeht. 

Die Spitzenkandidaten de Masi und Geisel sind kompetent, auf ihren Wahlkampf darf man gespannt sein. Der ehemalige Europa-Abgeordnete De Masi fordert eine internationale Mindestbesteuerung und übt Kritik am Kartellrecht. Am 28. Januar zieht die SPD wie das vorige Mal mit der Spitzenkandidatin Katharina Barley, der Vizepräsidentin des Europaparlaments als „Eurofighter“ ins Feld. 

Das zweite Gesicht der Kampagne ist ausgerechnet der ungeliebte Kanzler Scholz, der dennoch die SPD zusammenhält, diesen ‚Zusammenhalt‘ (ein Hauptwort unserer Zeit) schaffte er. Kernthema bleibt die soziale Gerechtigkeit, wie schon bei Martin Schulz, der sich noch „Zeit für Gerechtigkeit“ nahm und 2017 scheiterte mit dem schlechtesten Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte. 

Die FDP nominiert gleichentags an ihrem Europaparteitag in Berlin die verteidigungspolitische Sprecherin Agnes Strack-Zimmermann, die einen engagierten Wahlkampf führen wird. Das liberale Kernthema lautet: weniger Subventionen für die Wirtschaft und mehr Freiheit für die Unternehmen. 

Die CDU warnt derweil vor der APK- nahen neuen Partei „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA). Da es bei den Europawahlen keine 5%-Hürde gibt, und das neue Staatsbürgerrecht schon eine Rolle spielt, besteht die Möglichkeit, ins Europaparlament einzuziehen. Der türkische Staatspräsident Erdogan, der eine aktive Diasporapolitik betreibt, denkt in langen Linien, was die deutsche Politik, immer noch weltfremd, offenbar überrascht. 

So schwach die AfD inhaltlich und personell europapolitisch aufgestellt ist, so gut ist sie auf die Kommunalwahlen vorbereitet. Siehe zur Kommunalpolitik der AfD als Herausforderung der Demokratie die Mitteilungen der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle, MMZ vom Juni 2023. 
Auch weil es weniger selbstverständlich ist, dass es den demokratischen Parteien gelingt, überzeugende Kandidaten aufzustellen, die in ihren Regionen und Kommunen verwurzelt sind, Vertrauen in der Bevölkerung genießen und denen man gerne freiwillig zuhört. 

Umgekehrt ist es für die AfD leichter, populäre Kandidaten aufzubauen und konkret vor Ort zu überzeugen. Der Verweis auf rechtsextremistische Verbindungen allein ist hier jedenfalls für die einheimische Bevölkerung kein schlagendes Gegenargument. Die AfD geriert sich als „einzige wirkliche Opposition“ gegen die „Etablierten“. 

Überraschungen sind auf diesem Feld mit weniger Aufmerksamkeit und kleineren Schlagzeilen durchaus möglich, während nicht davon auszugehen ist, dass die AfD bei den Europawahlen den großen Sieg davonträgt. In den drei Landtagswahlen im Herbst ist indessen mit einer starken AfD zu rechnen, obschon noch einiges offen ist. 

Ein gebrauchsfähiges Argumentarium, warum man gute Politik nicht ablehnen muss, kann hier helfen und ein intensiver Wahlkampf über den Sommer. Mit Wagenknecht und Werteunion drohen noch keine Weimarer Verhältnisse, wenngleich ein Szenario der Schwerregierbarkeit in Thüringen derzeit nicht auszuschließen ist. 

Wie aber geht es derzeit weiter mit der Regierung? Hält die Ampelregierung noch einmal zwei Jahre durch? In einer Regierung muss regiert werden. Kann sie durch eine verbesserte Regierungspolitik linkswütende und rechtswütende Wähler beruhigen oder gar zurückholen? Kommt die FDP noch einmal in den Bundestag? Wie weit rutscht die Kanzlerpartei SPD noch ab? Das beunruhigt mich mehr als das blaue Wunder. 

Für den Aufstieg der AfD in der letzten Zeit, ohne dass sie dafür viel tun musste, ist die derzeitige Regierung mitverantwortlich, ebenso für die vehementen Bauern- und Mittelstandsproteste. Die Traktor-Blockaden gehen weiter. „Die Politik will das aussitzen „. Das wird ohne Zweifel Wähler kosten. Wohin sie gehen, weiß man nicht. 

Zeithistorisch beginnt der Zulauf zur blauen Alternative allerdings schon viel früher mit der unkontrollierten Flüchtlingsaufnahme von Kanzlerin und Pastorentochter Merkel, 2015 am Parlament vorbei. Diese Vorgeschichte als Argument bzw. Genealogie der ‚Schuld für die Misere‘ ist selber ein heißes, stark emotionalisierendes Wahlkampfthema und ragt in die aktuelle Gegenwart hinein und überlagert sie (ähnlich wie beim Ukraine-Krieg, der die deutschen Steuerzahler immer mehr kostet). 

Zeitgeschichte als Lernprozess ist indes nicht so schnell und nebenher zu bewerkstelligen, sie braucht Zeit und bleibt in der Zeit umstritten, wird aber immer stärker ein Faktor der Politik selber, vor allem für starke Entscheidungen, Zeitenwenden und unvorstellbare Mentalitätswechsel beispielsweise vom Pazifismus („Soldaten sind Mörder“) hin zur nuklearen Abschreckung. Die kritische Friedensforschung hatte Ende der 60er Jahre noch mit der „Kritik der Abschreckung“ (Senghaas) begonnen. Wer schafft solche Wenden? Wer kommt noch hinterher? 

Wir schaffen das! lautet der bekannteste Satz von Kanzlerin Merkel, aber wie? Dazu sagte sie 2015 nichts. ‚Multikulti‘ stellte sie selbst offen infrage. Viele andere, vor allem ehrenamtliche Bürger und Bürgerinnen indes packten vielfältig an und veränderten Deutschland und sich selbst. Allerdings nicht im Sinne von Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“, das 2010 ein großer diskursiver Türöffner war, und anders als die AfD mit ihrem nationalkonservativen Resonanzboden aus der CDU, wo sie herkommt. 

Die Integrationsfrage und ihre realen Probleme im Zusammenhang mit der Migrationskrise geraten fortan immer mehr in den Mittelpunkt der politischen Kontroversen in ganz Europa, die sich 2022/23 noch einmal über Parteigrenzen hinweg heftig emotionalisieren, vor allem zwischen Grün und Blau, mit und ohne Grenzen bzw. Grenzkontrollen. 

Die Kommunalpolitiker, Bürgermeister und Landräte schlagen Alarm zur Überforderung der Kommunen, wo die alltägliche Flüchtlingsaufnahme an ihre Grenzen stößt. Die linksliberale Seite hat hier Argumentations-, Erkenntnis- und Handlungsdefizite, von der die AfD profitiert. 

Aus der einstmals EU-kritischen Professorenpartei von Bernd Lucke, die 2012 in Hessen gegründet worden ist, wird immer mehr eine nationalistische rechte Partei. Alexander Gauland, der heutige Ehrenpräsident, der den „Laden zusammenhält“, wie er selbst sagt, spielt dabei als Integrationsfigur eine zentrale Rolle. Vielleicht wird er schon ersetzt durch Maximilian Krah, vielleicht fällt auch der ganze Laden auseinander, denn im Zenith beginnt oft die Krise. Man wird sehen. 

Die Dexit-Pläne der AfD mit ihrem Spitzenkandidaten Maximilian Krah (siehe ‚Politik von rechts‘, 2023), der eine lächerliche (Popanz-) ‚Politik der Männlichkeit‘ vertritt, vernichtet in Deutschland, das in ganz besonderer Weise von der EU profitiert, hunderttausende Arbeitsplätze, sagen führende Wirtschaftsvertreter unisono. „Europa ist das stärkste nationale Interesse, das wir haben“ (Scholz 31.1. in der Generaldebatte im Bundestag). 

Gibt es ein stärkeres Argument im Europawahlkampf? Dafür braucht man die AfD nicht zu dämonisieren, sondern kann mit der Wirtschaft sehr konkret argumentieren, die sich politisch eindeutig positioniert hat, national und diesmal auch besonders auffällig regional sowohl in Sachsen wie in Brandenburg und Thüringen. Das muss helfen, weil es gleichzeitig in die Breite und in die Tiefe geht. 

2015 ist der Zeitpunkt, wo aus dem konservativen CDU-Mann Gauland der rechte AfD-Mann wird. Einen Rechtsextremen, der im Potsdamer Landtag 2014 als Alterspräsident die Eröffnungsrede „Wider den Populismus“ hält, hätte ihn niemand genannt. Gauland rächt sich nach 40 Jahren Mitgliedschaft durch den Erfolg seiner Parteialternative im Parlament an der CDU und radikalisiert sich zugleich. Er behauptet von sich, dass sich seine Koordinaten nicht verändert hätten, wohl aber die politische Lage, die es zu erkennen gälte. 

Das Nationale kippt ins Völkische, der Nationalsozialismus wird zu einem „Vogelschiss der deutschen Geschichte“, der gebildete Konservative wird ausfällig und verbündet sich mit Leuten, die keine Konservative sind (Kalbitz, Höcke u.a.). Spätestens seit der Veranstaltung „Flügel gegen Flügel“ (mit Igor Levit und Sebastian Krumbiegel) am 27. Oktober 2020 auf dem Alten Markt vor dem Landtag ist öffentlichkeitswirksam auf die Rechtswendung der stärksten Oppositionsparteiaufmerksam gemacht worden. 

Sie wird im Fernsehen und Radio übertragen, während der Laborarzt Hans Christoph Berndt von „Zukunft Heimat“ in Cottbus, der dem ‚Flügel‘ der AfD zugehört, zum neuen Fraktionsvorsitzenden gewählt wird. Er tritt die Nachfolge des völkisch-rechten Flügelmannes Andreas Kalbitz an. Die neue Vorsitzende Birgit Bessin bleibt auf dieser Linie. 

Die AfD bewirtschaftet konkrete Probleme, die zu den Alltagssorgen der Bürger gehören, zunehmend auch in Verbindung mit den Problemen der Sicherheit, die in unsicheren Zeiten ohnehin an Relevanz gewinnen. Das Migrationsthema ist innenpolitisch noch immer die Hauptsorge der Deutschen (Sicherheitsreport 2024). Die Merkel-CDU, die quasi das Land verrät, wird machtpolitisch zum Hauptgegner der AfD: „Wir werden sie jagen“ (Gauland). 

Die Grünen werden zudem zum ideologischen Intimfeind im kleinlichen, aber bevölkerungsbreiten Kulturkampf ’normal‘ gegen ’nicht-normal‘, ‚korrekt‘ gegen ’nicht-korrekt‘ und, wir fügen hinzu: anständig gegen unanständig. Dem muss man sich inhaltlich stellen, vor allem kommunal und regional. 

Bildnachweis: Daniel Wetzel