Waffenstillstand oder Frieden 

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US-Dienste halten Mitte/Ende August den Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive für unwahrscheinlich (Zeit online, 19.8.). Der Herbst und damit die ‚Schlammperiode‘ rücken näher, der Erfolgsdruck von außen wird größer, und die militärische Situation, die zu entscheiden ist, wird definitiv schwieriger. 

Die USA haben der Freigabe von F16-Kampfflugzeugen aus Dänemark und der Niederlande zugestimmt (18.8). Die Ausbildung von Piloten und Technikern wird jedoch vor 2024 nicht abgeschlossen sein. Die Lieferung von schweren Abrams-Panzern wird ebenfalls in Aussicht gestellt. Die ‚Washington Post‘ indessen relativiert, dass die Ziele der Offensive bis Ende Sommer nach Melitopol und ans Asowsche Meer vorstoßen zu können, wohl nicht erreicht werden können.

Die Kiewer Führung reagiert verärgert auf die skeptischen Stimmen, die aus beiden Parteien des US- Kongresses kommen. Über Richtungsstreitigkeiten, die es in Kiew und im ukrainischen Militär sicherlich auch gibt, wissen wir nichts Genaues. Einmal mehr geht es um das Tempo, die Zeit sowie die nötigen Entscheidungen und Taktiken. 

Nach zahlreichen Angriffen auf die größte Brücke Europas, die Kertsch-Brücke, sind die russischen Truppen von der Versorgung nicht abgeschnitten. Die Logistik ist ebenso kriegsentscheidend wie die verminten Verteidigungslinien, die aufzubauen Russland genug Zeit hatte. Wieder beginnt das zermürbende Spiel mit der Zeit und den Ressourcen.

Militärexperten (Gressel) sprechen jetzt schon davon, dass der Krieg bis 2025 dauern wird. Das liegt nicht nur am aufreibenden Frontkampf, sondern ebenso darin, dass die hauptsächlichen Akteure – die USA, der Westen, Putins Russland – keine klar erreichbaren politischen Ziele haben (Wallstreet Journal 20. August). Schon immer hat man in der Analyse zurecht postuliert, dass Putin auf Zeit spielt und die Kriegsziele des Westens nicht eindeutig definiert sind. Letzterer geht einen unterstützenden Mittelweg.

Wer hält das durch? Wenn kein Ende in Sicht ist, die sinnlose Zerstörung weitergeht, bei Abwanderung und ‚tit for tat‘-Taktiken. Von Gedankenspielen für Verhandlungen zu einem Waffenstillstand bis hin zu Gebietsabtretungen und Teilungen nach dem Korea-Modell hört man allenthalben. Sie nehmen zu und lassen aufhorchen, wenn sie selbst aus dem Zentrum der Nato kommen (Jessen). Ausgeplaudert wird, was hinter vorgehaltener Hand gesagt und gedacht wird. 

In den USA hat man den Korea-Krieg nicht vergessen. Wie sollte man auch? Seine Folgen sind bis heute präsent und ernsthaft aktuell, und die Namen seiner Protagonisten Truman, General McArthur, Außenminister Dean Rusk und Präsident Eisenhower populär. Am 18. August 2023 haben sich die Staatschefs von Südkorea und Japan, das seinen Pazifismus abgelegt hat, mit Präsident Biden auf Camp David zu einer historischen Verabredung getroffen aus Angst vor Nordkoreas Atomwaffen-Programm und der chinesischen Aggressivität, die zugleich die militärische Einkreisung Taiwans übt. 

Die USA haben 80 000 Soldaten in beiden Ländern stationiert, deren einstige Feindschaft in ein Tauwetter übergegangen ist. Viel hat sich in kurzer Zeit tiefgreifend verändert. In den USA gibt es Stimmen in beiden Kongressparteien, die als Lehre aus dem Korea-Krieg, der im Juni 1950 begann, darauf hinweisen, dass der Waffenstillstand vom 27. Juli 1953 am 38. Breitengrad noch immer hält. 

Einen Friedensvertrag in den frostigen Nicht-Beziehungen gibt es nicht, vielmehr ist die längste bestbewachte Grenze der Welt zu besichtigen. Ein Waffenstillstand zur Beendigung des Ukraine-Krieges könnte deshalb realistischer sein als irgendeine Form von Friedensvertrag (so Amos Michael Friedländer, NZZ 15.8., S.14). 

Den Waffenstillstand könnten die USA auch in der Ukraine erzwingen, so wie Stalins Nachfolger es gegenüber Maos China taten, das im Unterschied zu Kim il Sung weiterkämpfen wollte. „Doch wahrscheinlich ist das nicht“ (a.a.O.), was einmal mehr demonstriert, dass ‚Realismus ‚ eine komplizierte Sache ist (siehe den Blog „Politische Philosophie mit Realitätssinn und pragmatischer Vernunft“). Was alles kann, und soll auf dem Spiel stehen? Komplexe und schwierigste Abwägungsprozesse sind vonnöten. 

Konflikte zwischen führenden Militärs und verantwortlichen Politikern, die regieren, sind im Ernstfall aus sachlichen und persönlichen Gründen unvermeidlich: im Korea-Konflikt ebenso wie in der Kuba-Krise wie im Sommer 2023 in der Ukraine. Wichtige militärpolitische Entscheidungen stehen unmittelbar an und radikale Vorschläge bis hin zu Kurzstreckenraketen mit Streumunition gegen die russischen Schützengräben liegen auf dem Tisch, wenn man den Krieg gewinnen und nicht nur nicht verlieren will. Auch Präsident Biden (nicht nur Scholz) zögert. 

Von der ukrainischen Seite aus sind politische Spekulationen nicht erwünscht, sie helfen in der derzeitigen Kampfsituation nicht weiter. Dabei geht es nicht um eine politische Theorie des Krieges, sondern schlicht um Fragen des einfachen Infanteristen, die zentral sind. Wie konnte man beispielsweise die Minenfelder nur unterschätzen?! 

Diese Befehlshaber der Nato waren schon lange nicht mehr im Feld. Ihnen fehlt offenbar die Erfahrung aus Südkorea. Außerdem werden die nötigen Minenräumer und Kampfhelikopter nicht rechtzeitig herbeigeschafft. Die Strategen von den Militärakademien sind auf eine andere Kriegsführung: Flugzeuge, Raketen und Drohnen eingestellt, während das Gefechtsfeld für die Soldaten an die Stellungskriege des 1. Weltkriegs gemahnt. 

Am 19. August trifft eine russische ballistische Rakete das Stadtzentrum von Tschirnihiw im Norden der Ukraine. Der russische Terror auf das ganze Land hält an. Einmal mehr wird man sagen, es werden keine zivilen Ziele getroffen, sondern es wird unterstellt, die Gebäude (in diesem Fall ein Theater, die Universität und eine Bushaltestelle) werden militärisch zweckentfremdet. Das Befehlszentrum in Moskau, welches diese Meldungen „automatenhaft“ verbreitet, ist vom realen Geschehen und seinen Örtlichkeiten weit entfernt. 

Es bleibt ein “ sehr, sehr schwieriger Kampf“, wird der Joint Chief of Staff, General Mark A. Milley zitiert, den die Soldaten und die Bevölkerung zu erleiden haben. Die russische Armee hatte genügend Zeit, die im Herbst 2022 annektierten Gebiete im Donbass zu sichern – wie von Putin fanatisch versprochen!

Dieser grundlegende Wendepunkt im Krieg, der vorher noch andere Optionen kannte, hatte die großflächige Invasion, die gescheitert war, für Putins Russland in einen propagandistisch ausbeutbaren ‚Verteidigungskrieg‘ gegen den Westen, der Russland angeblich zerstören will, verwandelt. Dieser ‚Kampf der Zivilisationen‘, der als ‚existenziell‘ gesehen wird, hält gefährliche Weiterungen bereit. 

Umgekehrt wird für die Ukraine unter diesen Besatzungs-Bedingungen der gerechte Verteidigungskrieg zu einem geradezu übermenschlichen ‚Offensivkrieg‘ mit berechtigten territorialen Maximalforderungen, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Eine alternative Option gibt es nicht mehr. Schätzungsweise 500 000 ukrainische Soldaten stehen 1,3 Millionen russischen, einschließlich Söldner, gegenüber. 

Dazu kommt: „Für Putin sind Soldaten Verbrauchsmaterial“ (Irina Rastorgujewa, NZZ 18.8., S.9). „Der sowjetische Soldat ist der billigste Soldat. Der geduldigste, der unprätentiöseste. Nicht versorgt, nicht geschützt. Reines Verbrauchsmaterial“, schreibt die belarussische Schriftstellerin Alexijewitsch über den Krieg in Afghanistan (a.a.O.). 

Inzwischen hat die russische Armee seit dem 22. Februar 2022 etwa dreimal so viel Verluste wie während des ganzen Afghanistankrieges 1979-1989 erlitten und neunmal mehr wie während des ersten Tschetschenienkrieges 1994-1996.

Bildnachweis: istockphoto.com / digigraphy