Verteidigung als Vorbereitung des Krieges

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Europa muss wieder lernen, sich zu verteidigen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist die Bedrohung durch einen Staatenkrieg nach Europa zurückgekehrt. Die Abschreckung ist nicht nur neu zu denken, sondern auch zu üben.

Die größte Verteidigungsübung mit dem bezeichnenden Namen „Steadfast Defender“ seit dem Kalten Krieg beginnt im Februar mit 31 Nationen und 90.000 Soldaten. Sie wird zeitlich bis Mai dauern und umfasst geographisch Übungen von Nordamerika bis nahe an die russische Grenze. Es geht vor allem um den Schutz der Nato-Ostflanke, die Vorbereitung der Abwehr eines Angriffs auf die kleinen baltischen Staaten.

Die 31 Mitgliedsländer der Nato plus Schweden werden „ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, euroatlantischen Raum durch die transatlantische Verlegung von Streitkräften aus Nordamerika zu verstärken“, so US-General Cavioli, Oberbefehlshaber der Nato-Truppen in Europa. Das Manöver wird von Moskau als „provokativ“ eingestuft, das „tragische Folgen“ für Europa haben kann (Sacharowa, in Merkur.de), denn es ziele absichtlich auf eine Eskalation ab (Tass).

Moskau dementiert einmal mehr die Absicht, Nato-Länder angreifen zu wollen. Putin quittierte eine entsprechende Äußerung Bidens „als Unfug“. Dennoch prahlt er gerne mit der Überlegenheit der russischen Waffen, so kürzlich in Tula vor Arbeitern der Rüstungsindustrie.

Finnland, mit der längsten direkten Grenze zu Russland, ist zwar neues Nato-Mitglied geworden, verlässt sich aber bei seiner Verteidigung nicht allein auf die Nato. Es definiert Verteidigung auch für sich. Polen genauso, es unternimmt außerordentliche Anstrengungen für den Ausbau der eigenen Armee, wie Verteidigungsminister Kosiniak-Kamysz kürzlich erläuterte: „Wir prüfen, welche Lücken es bei der Bewaffnung noch gibt“ (5. Februar).

Dazu forderte Verteidigungsminister Pistorius auch Deutschland auf, er sprach davon, „kriegstüchtig“ zu werden, was in Deutschland allein schon als Wort abschreckte. Das Land ist in dieser Frage tief gespalten: Eine neue Sicherheitsstudie belegt, dass die Hälfte der Deutschen einen russischen Angriff befürchtet, die andere Hälfte, darunter vor allem AfD- und Wagenknecht-Anhänger befürchten das nicht. Sie lehnen westliche Waffenlieferungen an die Ukraine ab und sehen dies als Vorbedingung für Verhandlungen mit Putin.

Derweil drängen FDP und Grüne in der Regierungskoalition Kanzler Scholz dazu, die Taurus-Marschflugkörper endlich an die Ukraine zu liefern. Sie glauben, wie Selenski, dass die Ukraine, den Krieg, der in einem Patt feststeckt, noch gewinnen kann. Immer weniger Menschen in Deutschland glauben das.

Die kämpfende Ukraine seinerseits braucht nicht nur mehr (längst versprochene) Munition und Waffen, sondern auch und vor allem mehr neue Kämpfer. Die weitere Mobilmachung ist das aufwühlendste innenpolitische Thema. Dabei kommt es auch auf die Ausbildung an, die ihre Zeit benötigt.

Der ehemalige Nato-General Erhard Bühler erklärte, dass das Szenario der Übungen, welche die Nato abhält, weder eine Prognose noch eine Bewertung der zukünftigen Sicherheitslage sei, sondern, dass man mit einem fiktiven Gegner arbeite (Merkur.de). Rob Bauer, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, erklärte zudem, dass nicht nur das Militär sich vorbereiten müsse, sondern die „gesamte Gesellschaft“. Dafür fehle jedoch weitgehend das Bewusstsein. Da hat er recht.

Dasselbe meinte Verteidigungsminister Pistorius, als er von einem notwendigen „Mentalitätswechsel“ sprach. Was umfasst dieser inhaltlich? Sicherlich sowohl die Bereiche Bundeswehr, die Nato-Kompatibilität, Rüstungsproduktion und Zivilschutz, also vieles auf einmal.

Ein brisantes Detail der Sicherheitsstudie 2024 ist, dass kein einziger Bunker in Deutschland funktionstüchtig für die Bevölkerung wäre. Den Sirenenalarm indessen, der auch nicht überall funktionierte, übte man bereits. Wenn die Bevölkerung nicht weiß, wohin sie gehen soll, dann ist das allerdings unverantwortliches Getue, das man besser lassen sollte.

Worin besteht also heute die Sicherheitsverantwortung des Staates, die im heutigen internationalen Umfeld nicht so einfach und schnell hergestellt werden kann, obwohl immer mehr Tempo angemahnt wird. Das mediale Trommelfeuer ist kaum noch zu ertragen, und es bleibt Geschwätz, solange die notwendige Staatsfähigkeit weder theoretisch noch praktisch gegeben ist. 

Dies ist auch, wenngleich nicht nur, eine militärische Frage. Bisher ging es innenpolitisch, seit der Zeitenwende-Rede von Scholz am 27. Februar, vor allem um die Ertüchtigung der Bundeswehr, die weniger Panzer als die Schweizer Armee hatte. Kritisch wurde und wird von nahen Beobachtern vom „Zeitlupentempo “ gesprochen (Masala).

Scholz selber, der keinerlei Erfahrung und Berührungspunkte mit Militär hat, musste innerhalb kurzer Zeit, in Abstimmung mit Bidens Amerika, einen langen, bisher unvorstellbaren Weg zurücklegen. Das muss man attestieren. Deutschland ist heute, nach anfänglichem Zögern, nach den USA der größte Waffenlieferant für die Ukraine, und das auf dem Hintergrund seiner prägenden historischen Erfahrungen mit Russland.

Scholz erinnert zurecht an Schmidts Diktum, dass Deutschland nur eine „Mittelmacht“ ist. Es darf sich nicht übernehmen, und sich Führungsrollen als Hybris anmaßen, die es jetzt und in Zukunft absehbar nicht ausfüllen kann. Die einsame Fregatte, die jetzt Kurs aufs Rote Meer nimmt, steht (sinn)bildlich dafür.

Die Amerikaner können bei der heutigen Rivalität der Großmächte nicht ersetzt werden. Im Gegenteil: sie sind an verschiedenen Konfliktherden, sei es im Indopazifik, im Nahen Osten und in Europa noch unentbehrlicher geworden. Die Abwehr der jüngsten Angriffe der Huthi aus dem Jemen auf die internationale Schiffahrt im Roten Meer haben dies erneut für die ganze Welt sichtbar und nachvollziehbar unter Beweis gestellt.

Eine (auch atomare?) Eskalation mit dem Iran, der über ein Netz von Widerstandsgruppen im Nahen Osten verfügt, ist möglich. ‚Hisbollah‘, die Partei Gottes, war einstmals ein Namensvorschlag von Ajatollah Chomeini, des religiösen und politischen Führers der iranischen Revolution von1979, die wieder andere große Entwicklungen in der Welt in Gang gesetzt hat.

Russland, China und Iran rücken immer näher zusammen, durchaus strategisch reflektiert, obwohl es sich um in sich verschiedene ‚Welten‘ handelt, gegen die ‚Pax americana‘. Nichts integriert so sehr wie ein gemeinsamer Feind. Um diesen Frieden zu erhalten, und es nicht zu einem Flächenbrand, der von verschiedenen Orten ausgehen könnte, kommen zu lassen, müssen auch die Verbündeten einer freien und friedlichen Welt ihren Teil beitragen. Das fängt im Kopf an.

Ist die Bundeswehr, die viele Mittel an die Ukraine abgegeben hat, überhaupt kriegstüchtig? Der Militärhistoriker Neitzel verneint dies (ZDF heute, 21.1.). Experten rechnen mit 5 bis 8 Jahren, in denen sich die europäischen Länder auf einen Krieg mit Russland einstellen müssen. Europa braucht dringend eine sicherheitspolitische Agenda, und Deutschland muss in diesen Jahren „kriegstüchtig “ werden, so Verteidigungsminister Pistorius. Notfallpläne für die baltischen Staaten werden vorbereitet.

Das setzt buchstäblich einen ‚gewaltigen‘ Mentalitätswandel voraus, zumindest bezüglich der Wehrpflicht, die 1956 bis 2011 bestand. Verschiedene Modelle werden in Betracht gezogen, die Truppenstärke soll auf über 200 000 angehoben werden, liegt aber aktuell trotz intensiver Werbung bei ca. 180 000. Das ist nicht viel im Verhältnis zur Größe des Landes. All das ist bisher weder im Parlament noch in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert worden. Die Bundeswehr bleibt militärisch und organisatorisch eine große Baustelle, die man nicht gerne betritt.

Die „ungeliebte Priorität“ (siehe Blog vom 2.1.2024) rückt aber immer mehr in den Vordergrund und wird möglicherweise 2024/25 noch das dominierende innenpolitische Thema, neben und vor anderen schwergewichtigen Themen wie etwa die Wachstumsschwäche der Wirtschaft, welche die Regierung schleunigst angehen muss.

Der ehemalige grüne Außenminister Fischer fordert alle nötige Unterstützung für die Ukraine, auch die Lieferung von Taurus. Er sieht darin keinen Widerspruch zu seiner „pazifistischen Grundhaltung“ (NZZ, 5.2., S.5). Die Grünen haben sich ihre im Kern pazifistische Identität damals vor mehr als 40 Jahren gegen Helmut Schmidts Politik der Nachrüstung gebildet.

„Gewaltfrei“ war ebenso wie „basisdemokratisch“ ein grüner Grundwert der Anti-Parteien-Partei. In der Sozialdemokratie dagegen gab es immer ’nur‘ einen pazifistischen (meist religiös-sozialen) Flügel, in den 80er Jahren Eppler vs. Schmidt. Das war auch eine Auseinandersetzung um die Philosophie der modernen Sozialdemokratie, für die Schmidt den kritischen Rationalismus (Popper, Albert) vorgeschlagen hatte. 

Fischer, der unorthodoxe Grüne macht im aktuellen Interview geltend, dass die Grünen ebenso eine „Menschenrechtspartei“ seien, das heißt: „wenn die Menschenrechte mit Füssen getreten werden, muss der Pazifismus in den Hintergrund treten“ (NZZ, a.a.O.). 

Das nannte er flexibel „politischen Pazifismus“, als es um die Begründung der militärischen Intervention im Kosovo 1999 ohne UN- Mandat ging. Damit war ein Tabu gebrochen. ‚Pazifisten‘ und ‚Bellizisten‘ standen sich damals, selbst in der grünen Partei oder gerade dort, unversöhnlich scharf gegenüber, und über „Kollateralschäden“ eines Luftkrieges wurde moralisch heftig diskutiert (Gaza wäre das neue Beispiel). 

Drei Arten des Pazifismus sind zu unterscheiden:
– der grundsätzliche Pazifismus als Philosophie der Gewaltfreiheit (Gandhi, King);
– politischer Pazifismus;
– friedensuchende Realpolitik, die weder grundsätzlich pazifistisch noch bellizistisch ist. 

Fischer ließ sich durch den damaligen amerikanischen Verteidigungsminister Rumsfeld aber auch nicht zu einer „Koalition der Willigen“ für einen fragwürdigen Irak-Einsatz trotz der ‚bedingungslosen Solidarität‘ mit den USA nach 9/11 überzeugen. Diese Szenen an der Münchner Sicherheitskonferenz sind im Kopf geblieben. 

Warum kann es solche Dispute nicht auch an der diesjährigen Konferenz im Februar mit Vertretern aus Russland, China und Iran geben, selbst wenn sie ergebnislos verlaufen? Auch Berater und Mitarbeiter sind wichtig in informellen Gesprächsformaten. Man sollte doch zumindest wissen, was und wie der andere denkt.

Es gibt verschiedene Kriege: gerechte, problematische und ungerechte. Darauf reagiert der politische Pazifismus und erst recht ein friedensuchender Realismus, der eine anspruchsvolle politische Theorie ist (siehe Blog Friedensuchende Realpolitik, 7. Oktober 2022.). Beides darf man nicht polemisch mit Bellizismus verwechseln. Zu dieser öffentlichen Vernunft muss die deutsche Diskussion erst noch kommen.

Heute werden ‚wir‘ (Europäer) bedroht durch die „große Revision Putins“ nach der „größten geopolitischen Katastrophe“ (Putin) am 31. Dezember 1991, als sich die Sowjetunion auflöste. „Es gab gute Gründe, warum die Deutschen zu Pazifisten geworden sind. Heute würde aber eine pazifistische Grundhaltung nicht mehr funktionieren“ (Fischer in Tagesspiegel, a.a.O.).

Vergessen sind heute die Perspektiven, als Russland sich als „Teil der europäischen Kultur“ gesehen hat, was auch für den Sozialismus galt. Angesichts der angeblich feindlichen russophoben Umwelt, mit der man schon die Invasion in die Ukraine begründete, sucht man heute neue Partner wie den Iran oder Nordkorea und insbesondere China. Iran ist bereits in die Staatenallianz von BRICS aufgenommen worden. Russland erhält von dort Drohnen in großer Zahl, und China ist Hauptabnehmer des Öls.

Gleichzeitig sieht man die russische Zivilisation als der westlichen überlegen an. Es geht immer mehr um einen grundsätzlichen Zivilisationskonflikt im Zusammenhang mit dem Kampf um Hegemonie. Die chinesisch-russische Partnerschaft spielt dabei eine Schlüsselrolle in der gegenwärtigen Weltpolitik, ebenso wie die USA. Ein neues eurasisches Russland, das sich nach Asien orientiert, ist im Entstehen begriffen, was wiederum neuen Konfliktstoff birgt. Diesmal weit weg von Europa, aber mit großen Folgen für Europa.

Fischer, der mehr Realist als Pazifist geworden ist, hält eine massive Aufrüstung für nötig (Tagesspiegel, 19.1., S.6), um der russischen Bedrohung zu widerstehen. Das bedeutet, erstens, dauerhaft erhöhte Verteidigungsausgaben für die einzelnen Länder und, zweitens, eine abgestimmte Sicherheitspolitik in einem Europa, das kein Bundesstaat ist. Das erste ist schon eine Zumutung, das zweite, wird zusätzlich eine enorme Schwierigkeit unter Zeitdruck werden. Vorsicht und Panikmache – geht beides zusammen?

Fischer findet, dass die USA nicht mehr allein zuständig sein können für „alle harten Sachen“ (Tagesspiegel a.a.O.). Was heißt das? Bedeutet das eine eigene Nuklearbewaffnung für Europa, das faktisch eine Konföderation unabhängiger Nationalstaaten ist? Wer hat die Kompetenz für die Atomwaffen? Ist Frankreich bereit, seine Atomwaffen zu europäisieren? Nicht zufällig stellen sich die Rechten um Le Pen und die Linken um Mélenchon strikt dagegen.

Das Pentagon plant derweil zur Abwehr Russlands, erstmals wieder Atomwaffen in Großbritannien zu stationieren, auf dem Stützpunkt Lakenheath der Royal Air Force. Sie sollen die dreifache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe haben und von F-35-Kampfflugzeugen transportiert werden (Tagesspiegel, 28.1.).

Der britische Armeechef, General Patrick Sanders vergleicht die Situation in der Ukraine mit den Krisen von 1914 und 1937 (euronews, 24.1.). Der Verteidigungskrieg der Ukraine gebe noch Zeit, die nötigen Lehren daraus zu ziehen, bevor es zu spät sei. Man müsse sich auf einen massiven Angriff Russlands auf unsere Lebensform vorbereiten mit einer Bürgerarmee. Das benötige eine traditionelle wie zivile Mobilisierung.

Die militärpolitische Mentalität der Briten ist aus historischen Gründen noch einmal eine besondere und andere, selbst als die des engsten transatlantischen Bündnispartners USA. Führende Politiker wiegeln ab und haben zugleich eine besondere Verantwortung, die wir als Demokraten teilen sollten.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire