Unbeständiges Sicherheitsumfeld

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Die Welt, unsere Welt, Lebenszeit und Weltzeit umfassend, sei in ein „höchst unbeständiges Sicherheitsumfeld“ eingetreten, heißt es im Jahresbericht des britischen Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS).

Wahrscheinlich lässt sich das aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen genauso sagen. Für die politikwissenschaftliche Optik ist es schlicht eine Tatsache. Was daraus folgt, wird dagegen umstritten bleiben.

Mit dem ‚ewigen‘ Nahostkonflikt, dem ‚endlos‘ scheinenden Ukraine-Krieg sowie den unberechenbaren Konflikten in Asien und Afrika ist mit einem noch „gefährlicheren Jahrzehnt für die Menschheit“ zu rechnen (Tagesspiegel, 14.2.). Das gefährliche Jahrzehnt sei davon geprägt, dass Staaten ihre militärische Macht ausnutzten, um ihre Ansprüche durchzusetzen, so das IISS.

Die weltweiten Militärausgaben steigen auf Rekordhöhe. Russland und China investieren dem britischen Bericht zufolge 30% ihrer Staatsausgaben in die Verteidigung, während der Westen vergleichsweise langsamer, aber sichtbar die Rüstungsproduktion erhöht.

Wobei dieses Bild noch erheblich zu differenzieren wäre. Inzwischen werden alle Länder von der Aufrüstung und der notwendigen Modernisierung ihrer Waffensysteme erfasst, selbst die bewaffnete Neutralität der kleinen Schweiz in Bezug auf Artillerie und teure Kampfflugzeuge (F-35?). Wie wird darüber wohl eine Volksabstimmung ausgehen?

Dazu kommt die Abstimmung untereinander, die geübt werden muss, ob in der Nato oder außerhalb. Und wie sollen sich europäische Armeen noch organisieren, wenn sie alle, wie noch nie, Rekrutierungsprobleme haben. Das gilt selbst für Großbritannien mit seiner offensiv- unbelasteten militärpolitischen Mentalität.

Am dringendsten gilt dies freilich für die kämpfende Ukraine, die von außen an Unterstützung verliert, wenngleich unverbindliche Sicherheitsabkommen unterzeichnet werden, und die Appelle, endlich ins Handeln zu kommen, immer stärker werden, während die Front bröckelt. Ähnliche Appelle gelten seit über 30 Jahren auch der ‚Zwei-Staaten-Lösung‘ im Palästina-Konflikt, die derzeit unrealistischer scheint denn je.

In Ostasien sind es Nordkorea, welches die Beziehungen zu Russland ausbaut, und China, die für beängstigende Unsicherheit bei den Nachbarn sorgen. Südkorea und Japan diskutieren deshalb über eigene Atomwaffen. Australien verdoppelt seine Kriegsschiffe und richtet seine Strategie neu auf den indopazifischen Raum aus, in Abstimmung mit den USA und GB.

Die Fortschritte in der nuklearen Waffentechnik bis in den Weltraum hinein sind in den USA, Russland und China in vollem Gange mit schwer abzuschätzenden Folgewirkungen auf die Kriegsführung. 2019 setzten die USA und Russland den INF- Vertrag außer Kraft. Aber auch mit diesem Abkommen war das Risiko eines Atomkrieges nie verschwunden. “ Dafür haben der technologische Fortschritt im Waffenbau und die Entwicklung von Luft- und Seegestützten Mittelstreckenwaffen und Marschflugkörper gesorgt“ (NZZ, 15.2.2024). Von dort können sie auch mit Nuklearsprengköpfen ausgerüstet werden. 

Diese Entwicklung haben alle Nuklearmächte vorangetrieben. Offene Fragen sind: “ Haben die Russen die Hürden für den Einsatz von Nuklearwaffen gesenkt? Wie denken die Chinesen über den Einsatz von Atomwaffen?“ (NZZ, a.a.O.). Und wir fügen hinzu: Wie wird der Einsatz von KI im modernen Krieg aussehen?

Diese unbekannten technologischen Entwicklungen, die aber gesteuert und finanziert werden, sorgen für Verunsicherungen und Eskalationen in der öffentlichen Diskussion. Generalsekretär Stoltenberg warnte zurecht davor, die Abschreckungsfähigkeit der Nato in Zweifel zu ziehen. Eine Spaltung kann sich das größte Militärbündnis der Geschichte, das in sich durchaus brüchig zusammengesetzt ist, derzeit nicht leisten (siehe auch den Blog Eskalation in der Diskussion vom 19. Februar 2024).

Was weiß das Expertenwissen darüber? Wir wissen es nicht. Wir bekommen vor allem die zahlreichen Fehleinschätzungen und Warnungen mit. Experten, die angehört werden, gibt es viele, meistens stimmen ihre Meinungen mit denen der einladenden Medien überein. Die ‚Einordnungen‘ in Permanenz sind ein Teil der Medienmacht geworden, welche die Realitätskonstruktionen bestimmen.

Die Experten sind sich uneins bei der Einschätzung von Waffensystemen (Arrow 3, Iskander Raketen, Hyperschallwaffen wie Kinzhal u.a.). Putin und die russische Rüstungsproduktion, die nicht zu unterschätzen ist (Kalaschnikow! im Ural), prahlt und droht ständig. Wie ist hier das Verhältnis von Laien und Experten einzuschätzen?

Fundiertes Wissen, um das man sich bemühen muss, ist selten. Man muss es sich mühsam selbständig erarbeiten, und wird doch skeptisch bleiben. Skepsis als höchste Form der Aufklärung?

Spezialisten, die ihr Wissen verständlich machen können und wollen, gibt es leider viel zu wenige. Wissenschafts- und Technikkritik wird so kaum hörbar, da alle damit beschäftigt sind, nicht den „Anschluss“ zu verlieren. „Anschlussfähigkeit“( Luhmann) heißt die Tugend der ‚Systemfunktionäre‘ in der (trotz geopolitischen Spannungen) rasant fortbestehenden Globalisierung von Wirtschaft, Handel, Technik und Wissenschaft.

In der Praxis gewordenen funktionalen Systemtheorie reden wir nicht einem ökonomisch-technologischen Determinismus das Wort, aber doch der flexiblen Anpassung und den modernen Technologien, zu denen auch und vor allem die problematische Waffentechnologie gehört – vom Vorderlader zum Schnellfeuergewehr im amerikanischen Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts zum Maschinengewehr im ersten Weltkrieg usw. usf.

Die arbeitsteilig hochdifferenzierte moderne (Welt-) Gesellschaft führt zu einem Erfahrungsschwund( Weltfremdheit) und erfordert Expertenvertrauen (Gehlen, Schelsky, Luhmann, Lübbe). Wir leben größtenteils von Erfahrungen aus zweiter Hand, was sekundäres Wissen ist. Und wenn die Experten bis zur moralischen Erbitterung uneins sind, was hilft dann? Der politische Streit zersetzt im Prinzip alles, auch wissenschaftlich begründete Aussagen.

Was die Naturwissenschaften (science) davon weitgehend rettet, ist die Fähigkeit, moderne Technik hervorzubringen, welche die wirtschaftliche Entwicklung in starkem Masse mitbestimmt und im Alltag der Menschen eine Rolle spielt. Daran orientiert sich auch der Common sense. Nicht-technologiefähiges Expertenwissen fällt dabei ohne weiteres dem politischen Streit anheim und wird zerredet wie jeder andere Geltungsanspruch auch.

Ökonomisches Expertenwissen wiederum ist in verschiedene politische Lager aufgeteilt. Jeder Zeitungsleser und Fernsehkonsument kennt die immergleichen Namen und Institute. Die Ökonomen sind in der modernen Wirtschafts(wachstums)gesellschaft zu Politikern zweiter Ordnung geworden.

Nicht zufällig gibt es die „Wirtschaftsweisen“. Ökonomen nehmen das in Kauf, mitsamt den Rankings, weil sie so einen gewissen Einfluss auf Politiker nehmen können, deren Parteibuch sie teilen. Langfristig indessen ruiniert sie das, aber langfristig leben wir ohnehin nicht mehr, wie einer ihrer größten sagte: Keynes.

Wenn es um Krieg und Frieden geht, sollten legitimierte Politiker diskutieren und entscheiden. Sachkundige Bürger und Bürgerinnen müssen sich jedoch einmischen, immer wieder. Experten sollten lediglich aufzeigen, wie sie ihre Ziele erreichen können, genauso wie dies Max Weber über Wissenschaft und Politik als Beruf vorgeschlagen hat. Experten sind nicht Politiker zweiter Ordnung, obwohl sie heute von den Medien gezielt so eingesetzt werden.

Die politische Theorie der Technokratie führt demokratietheoretisch in die Irre. Und das trotz der bisweilen unbestreitbar großen Rolle technokratischer Kabinette in der Krise. Dafür ist Italien ein gutes Beispiel, allerdings wurden sie vom ‚weisen‘ Staatspräsidenten Napolitano einberufen, nachdem die großmäulige Wirtschaftspolitik selbst von Berlusconi gescheitert war. Auch das sollte man nicht vergessen.

Politische Entscheidungen bleiben also notwendig bei aller wissenschaftlichen Politikberatung und fortgeschrittenen Technologien. Das sind und bleiben die Entscheidungen der Politik, wie immer sie organisiert ist. Dennoch ist nicht ‚die‘ Politik im Singular an allem schuld. So einfach können wir es uns mit dem Politischen in der Demokratie nicht machen. An dieser Stelle beginnt die ebenso theoretische wie praktische Frage nach der begriffenen und gelebten Demokratie.

Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit und keinen Wohlstand (Scholz), das ist ein staatstheoretischer Gemeinplatz seit der Frühaufklärung im 17. Jahrhundert, dem zahlreiche zusätzliche Argumente aus schmerzhafter historischer Erfahrung und theoretischer Einsicht zugewachsen sind.

Gegenwärtig variiert Scholz den ebenso richtigen Satz von Willy Brandt, dass ohne Frieden alles nichts sei. Heute ist alles nichts ohne die notwendige Sicherheit, die gegenwärtig zurecht an die erste Stelle der Aufmerksamkeit gerückt ist, nachdem sie allzu lange in der Wohlstands-Bequemlichkeit (‚comfort‘) verschwunden war. Können wir aber heute noch SicherheitFreiheit und Frieden zusammendenken?! Gibt es Freiheit und Frieden ohne Überfluss?

Scholz äußerte sich an der Münchner Sicherheitskonferenz kryptisch, dass jetzt „die richtigen Entscheidungen“ zu treffen seien. Strategische Antworten gab er keine, während Selenski von Putin als „Monster“ mit “ katastrophalen Folgen“ für die Welt sprach. Er forderte eindringlich „weitreichende Waffen“. Die Lage an der Front sei „äußerst schwierig“, der letzte Brückenkopf am Südufer des Dnjepr ist verloren.

Nach diesen prägnanten Sätzen – im Unterschied zur 45minütigen Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos (siehe dazu den Blog Friedensgipfel in der Schweiz? 24. Januar 2024) – bleibt als Friedenslösung nur noch die Beseitigung von Putin: wer und was aber kommt danach? Medwedew? Fällt Russland auseinander? In welche Hände kommen die Atomwaffen?

In den letzten Tagen ist man an den Sätzen hängengeblieben, dass der Krieg für Russland eine „Frage von Leben und Tod“ sei, während er für den Westen eine „Taktiererei“ bedeute (Putin im Staatsfernsehen).

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire