Toleranz als Stärke und die Selbstaufgabe durch Toleranz

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Toleranz ist eine Stärke und keine Schwäche. Das muss man den Starken immer wieder sagen, den wirklich Starken, den vermeintlich Starken und vor allem den gerne Großen. Mit Letzteren ist nicht leicht umzugehen, da sie ständig ihre überlegene Stärke demonstrieren müssen.

Toleranz, die nicht erzwungen werden kann, ist zwar weich, aber nicht schwach. Sie muss urteilsfähig bleiben, wofür es keine strenge und für alle Fälle allgemeine Theorie gibt. Die Urteilskraft wächst mit der eigenen Übung und kennt keine Experten. Den Toleranz-Experten gibt es nicht, aber für das eigene Urteilen wie für die Toleranz gibt es Voraussetzungen, die der Aufmerksamkeit und der Pflege bedürfen. Das gehört heute mehr denn je zur Toleranz als Stärke in einem Umfeld, das zu schnellem (Ver-)Urteilen neigt.

Toleranz entbindet nicht von der Frage nach wahr oder falsch, Fakt oder Fake, und auch nicht von der Frage nach richtig oder falsch. Sie kann aber solche Fragen, die das Leben begleiten, auch in der Schwebe halten, denn Toleranz ist auch der Verdacht, dass der Andere recht haben könnte (Tucholsky). Toleranz ist facettenreich und mehrdeutig, sie bedeutet Geduld, Offenheit und Zivilisierung von Differenzen. Die Fähigkeit zur Toleranz, die immer wieder herausgefordert wird, vereinigt diese drei Bedeutungen (Neues Potsdamer Toleranzedikt 2008, S.22).

Nicht nur Toleranz hat Konjunktur, auch Null-Toleranz. Toleranz eröffnet Spielräume, muss aber auch Grenzen setzen können. Das ist einfacher gesagt als getan, denn wo liegen die Grenzen? Das ist ebenso eine Frage der Urteilskraft. Von wenigen Naturgesetzen abgesehen, liegen sie objektiv meist nicht fest. Wann sind welche Grenzen erreicht, wann werden sie überschritten? Um welche Grenzen handelt es sich? Grenzen verschieben sich und lassen sich verschieben. Das sind schwierige Fragen.

Der eine ist schon über einen harmlosen Witz, der seine Religion, Nation, seinen Beruf oder seine Familie betrifft, tangiert. Dies hat bereits der englische Konflikt- und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679) thematisiert. Er unterscheidet drei hauptsächliche Konfliktursachen: „Erstens Konkurrenz, zweitens Misstrauen, drittens Ruhmsucht. Die erste führt zu Übergriffen der Menschen des Gewinnes, die zweite der Sicherheit und die dritte des Ansehens wegen.

Die ersten wenden Gewalt an, um sich zum Herrn über andere Männer und deren Frauen zu machen, die zweiten, um dies zu verteidigen, und die dritten wegen Kleinigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln oder eine verschiedene Meinung oder jedes andere Zeichen von Geringschätzung, das entweder direkt gegen sie selbst gerichtet ist oder in einem Tadel ihrer Verwandtschaft, ihrer Freunde, ihres Volks, ihres Berufs oder ihres Namens besteht.“ ((Hobbes, Leviathan, 1651, Ullstein-Ausgabe).

Dem folgt eine tiefe Definition von Krieg und Frieden sowie die politische Lösung durch die staatliche Autorität: „Auctoritas, non veritas facit legem“, was sich im lateinischen Original auf den Unterschied von Gesetzesgeltung einerseits und Geltung von Lehren andererseits bezieht: „Doctrinae quidem verae esse posse; sed auctoritas, non veritas facit legem“ ( Amsterdam 1670, Reprint Aalen 1961, S.132).

Wie gesagt: was für den einen eine Beleidigung mit unterstellten Konsequenzen ist, stört den anderen nicht und ist ihm gleichgültig. Vieles lässt sich intersubjektiv klären und beilegen; nicht jede Konfliktregelung bedarf einer zusätzlichen Verrechtlichung. Andererseits gibt es Menschen, Geschäfte und Medien, die kennen weder Geschmack noch Anstand. Ihr Geschäftsmodell ist es, bewusst die Gefühle anderer Menschen mit Füssen zu treten und dies oft noch in der Meinung, sie seien besonders aufgeklärt. Sie verwechseln Freiheit mit Rücksichtslosigkeit.

Ich glaube, dass Menschen mit Urteilskraft dies nicht tun und dass man sie erfolgreich darauf hinweisen kann, wenn sie es gleichwohl tun. Zumindest im Alltag, aber auch in der weiteren Öffentlichkeit gibt es Spielräume dafür, was freilich auf Grenzen stößt bei Bullshit, Diffamierung und Hetze. Sprachidealismus führt hier in die Irre. Kluge Ignoranz und geschickter Widerstand, der Verbündete sucht, sind vielmehr angezeigt. 

In schweren Fällen muss man sich in Auseinandersetzungen begeben, wenn man Indifferenz für gefährlich hält. Auch Kritik, Witz und Spott können nicht einfach ‚maßvoll‘ werden. Maß und Mitte sind diesbezüglich keine Orientierungsgrößen, so wie bei politischen Kämpfen in Demokratien. Mit ihnen muss man den Umgang lernen und dabei auch manches ertragen können.

Immer müssen sich zwei Seiten auf gewisse Regeln einigen. Dafür ist eine Verständigung durch Gespräche eine Voraussetzung, was etwas anders ist als sich lediglich wechselseitig zu etikettieren. Bei Kulturkämpfen wird zudem unterstellt, dass die andere Seite eine machtpolitische Strategie verfolgt. Hier wird dann jeder Schritt bzw. jedes Wort zu einer Machtdemonstration, was den konstruktiven Dialog verunmöglicht. Die Hermeneutik des Verdachts wird destruktiv und paranoid. Der ‚Spiesser‘ sieht Probleme, wo keine sind und bauscht sie auf.

Eine leidvolle historische Erfahrung besagt jedoch, dass auf die Überschreitung von Grenzen der Toleranz nicht immer mit Toleranz als Duldung reagiert werden kann. Das wäre politisch naiv und tatsächlich eine Selbstaufgabe durch Toleranz und mithin auch eine Niederlage der Toleranz im Ganzen. Die Toleranz und mit ihr die Demokratie kann auf diese Weise bewusst herausgefordert und strategisch gewollt als schwach dargestellt werden, was wiederum den eigenen Anhängern besonders imponiert, weshalb wir in solchen Zusammenhängen – was paradox klingt – von einer kämpferischen Toleranz und einer wehrhaften Demokratie sprechen, mithin von der Selbstbehauptung einer Identität, die allerdings nicht fix ist.

„Die Stadt Köln startet gerade ein Pilotprojekt. Während zweier Jahre erhalten die Moscheen die Erlaubnis, freitags zum Gebet zu rufen. Mit Auflagen, versteht sich. So darf der Aufruf zum Gebet höchstens fünf Minuten dauern, und er muss zwischen 12 und 15 Uhr stattfinden. Die Nachbarschaft muss vorab mit einem Flyer informiert werden; und mit der Lautstärke dürfen es die Muezzins nicht übertreiben. Kurzum, es ist alles schön deutsch.“

So schreibt Benedict Neff unter dem Titel „Selbstverleugnung im Namen der Toleranz“ (NZZ, 16.10.2021). Der Artikel dient uns als Anstoß für Überlegungen zum Toleranzedikt als Stadtgespräch, das immer wieder konkret unterfüttert werden muss. Es ist offen und unabgeschlossen.

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker bezeichnet das Projekt als „Zeichen des Respekts“ gegenüber den vielen Muslimen in der Stadt. Der Muezzin-Ruf ist keine Kölner Premiere, in Köln aber besonders umstritten, wo die Große Ditib-Zentralmoschee steht, zu deren Eröffnung der türkische Ministerpräsident Erdogan eigens anreiste, während kaum deutsche Spitzen-Politiker zu sehen waren. Die Veranstaltung wurde im Fernsehen übertragen.

Der Verband ‚Ditib‘ (‚Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion‘), der dem türkischen Religionsamt angegliedert ist, das die Imame nach Deutschland sendet, gilt als verlängerter Arm von Erdogan. Deshalb war die Imamausbildung auch das Hauptthema der letzten Islamkonferenz. In der Zentralmoschee sollte in deutscher Sprache gepredigt werden und sie sollte als interreligiöse Begegnungsstätte im Zeichen von Toleranz und Integration dienen. Der Muezzin-Ruf war vertraglich nicht vorgesehen.

Der Vorwurf lautet, dass diese Toleranzvorstellung politisch naiv sei:“ Ditib verkündet den türkischen Islamismus und Nationalismus von Erdogans Prägung“ (NZZ,16.10.). Auch der Vergleich mit dem kirchlichen Glockengeläut stimme nicht, denn der Ruf des Muezzin ist “ ein Glaubensbekenntnis, das die Suprematie des Islam zum Ausdruck bringt: „Allah ist groß. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Allah. Ich bezeuge, dass Mohammed Allahs Gesandter ist. Eilt zum Gebet “ (a.a.O.). Nun folgt die These in zwei Teilen, die wir weiter besprechen wollen:

1. „Eine Stadt im Westen, die diese Verkündung erlaubt, verrät ihre eigenen Werte.“

2. „Sie wird damit ihr Ziel, Toleranz und Integration zu fördern, kolossal verfehlen.“ (NZZ,16.10.2021)

Auch liberale Muslime sehen das Kölner Beispiel kritisch. So äußert sich Ahmad Mansour, der in Berlin und Brandenburg im Bereich der Demokratieförderung und Extremismusprävention tätig ist: „Ich bin Muslim und sage trotzdem: Nein!“ (Focus online, 18.10.2021). Mansour wendet sich gegen einen politischen Islam, der mit einem „Exklusivitätsanspruch“ mit „Anspruchsmentalität“ agiert. Solch einer politischen Religion geht es weder um Gleichberechtigung noch um Toleranz, „sondern ausschließlich um mehr Sichtbarkeit, mehr Macht und mehr Unterwanderungsmöglichkeiten“. Die Debatte in Köln ist für ihn „Sinnbild einer kranken Diskurskultur“.

Was also heißt Aufklärung über den Islam? Wie bringen wir Aufklärung und Toleranz zusammen – auf allen Seiten? Vorausgesetzt, Aufklärung als Prozess beginnt bei einem selber: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Hier kommt ein Selbst ins Spiel, das wir als urteilsfähiges Subjekt verstehen. Es ist das Subjekt der Toleranz, das mit anderen zusammenlebt und interagiert. Toleranz und Zusammenleben sind miteinander verbunden. Also schlagen wir ein Toleranzedikt als Stadtgespräch vor, das klein beginnen und größere Kreise ziehen kann. Es handelt sich um eine anlassbezogene Aufklärung.

Soll und darf nun der Muezzin rufen oder nicht? Sechs Experten, darunter fünf Muslime und Musliminnen sowie eine katholische Theologin äußern sich dazu unterschiedlich ( in: Die Zeit, 21.10., S.60). Für Nurhan Soykan, Vizepräsidentin des Zentralrats der Muslime in Deutschland, ist der Ruf zum Gebet Teil der Religionsausübung und fällt damit unter die garantierte Religionsfreiheit. Für sie ist der “ mit Steuergeldern finanzierte Rechtspopulismus die wahre Gefahr für unsere Demokratie.“

Ali Ertan Toprak, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland, will der Ditib sagen, dass es „Toleranz nie nur in eine Richtung geben kann.“ Er ist der Auffassung, dass „deutsche Muslime eine Balance finden müssen zwischen der Forderung nach mehr Raum für ihre Religion und der Kritik an ihren intoleranten Religionsvertretern.“

Berivan Aymaz wiederum, Landtagsabgeordnete der Grünen in NRW, sieht einen Platz für Muezzine. Die Pluralität sei in Köln neu „auszuhandeln“ und den Menschen, die Angst vor dem Islam zu nehmen. Der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad kritisiert „ethnisch-nationale Vereine, die Moscheen betreiben“ und spricht sich dafür aus, „die Integrationsdebatte zu entislamisieren“.

Für die katholische Professorin Johanna Rahner ist der deutsche Staat „nicht laizistisch“, sie setzt auf die „Kompromissbereitschaft vor Ort“. Und Seyran Ates schließlich, die Gründerin der liberalen Moschee in Berlin, sieht die Kölner Entscheidung als „Anbiederung an eine freiheitsfeindliche Art des Islam.“ Das ist wahrlich genug Stoff für ein Toleranzgespräch, das so schnell nicht enden wird, da es bei der Sichtbarkeit des Islam um eine europäische Identitätsfrage geht.

Toleranzedikt als Stadtgespräch ist eine konstruktive Idee und zugleich eine städtische Aktualität, die mit zivilem Wachstum und seinen Konflikten verbunden ist, sei es einer kleineren oder größeren Gruppe, idealerweise einer Stadt, Region oder Nation. Es ist ein bürgerschaftlicher Weg, der eine heterogene Gesellschaft mit ihren verschiedenen Teilen, Schichten und Dimensionen umfasst.

Dieser Weg verknüpft die Offenheit des Dialogs mit der Verbindlichkeit von Normen und Werten, einschließlich eines gemeinsamen Toleranzverständnisses. Obwohl dieser Weg offen und unabgeschlossen ist, kennt er gleichwohl Fixpunkte, an die angeknüpft werden kann (Dokumente, Archive) im Sinne einer selbstgewählten Tradition.

Die oberste Normenebene dabei ist die Verfassung. Handlungsträger sind die Vielen bzw. parteienübergreifende Bündnisse und zivilgesellschaftliche Vereine. Für alltägliche Aufklärungsprozesse unter modernen individualisierten Bedingungen ist Bündnisfähigkeit vonnöten, die wiederum Toleranz erfordert. 

Letzteres gehört heute maßgeblich zur Toleranz als Stärke, wenn sie denn parteiliche Positionskämpfe und identitätspolitische Kulturkämpfe überwinden kann. Sie gewinnt so nicht nur individuell und gesellschaftlich an Bedeutung, sondern auch politisch in einer inklusiven Demokratie an Gewicht, was die demokratischen Parteien erkennen sollten. Sie ist einfach, aber anstrengend.

Oft sind es nicht die ‚populismusanfälligen‘ Bürger allein oder in erster Linie, welche die Toleranz falsch auslegen, sondern führende Politiker, die naiv gegenüber dem Islam und seinen

‚repräsentativen‘ Verbänden agieren. Sie haben Angst davor, sich mit unbequemen Themen auseinandersetzen zu müssen und tappen häufig in Fallen oder sehen sich mit Vorwürfen konfrontiert, die nur schwer zu entkräften sind.

Dazu sind viele Politiker, die auch nur Menschen sind, nicht in der Lage. Der Islam in Europa, die Migration und die Flüchtlingsfrage sind solche Themen, die aber ganz besonders einer offenen und ehrlichen Diskussion, die voller Schwierigkeiten steckt, bedürfen. Stattdessen dominieren Verdrängung und Hilflosigkeit, wie auch der Wahlkampf jüngst wieder gezeigt hat.

Da immer mehr von Religion und schon gar nicht vom Islam viel wissen, wird es in einer säkularisierten Gesellschaft noch schwieriger, solche Diskussionen überhaupt führen zu können. Toleranz benötigt aber einen gewissen Boden, auf dem sie gedeihen kann. Alle Parteien müssen zudem Spielregeln einhalten, sonst bringen auch Gespräche nicht viel.

Toleranz kann auch als Vehikel benutzt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Manche, welche die Geschichte der ‚Ditib‘ seit längerem verfolgen, erheben diesen Verdacht. Das wiederum ist eine Frage der politischen Urteilskraft, der sich auch die Toleranz stellen muss.

Wie lernen wir heute, angemessen zu urteilen, nicht nur vorurteilshaft fixiert und ressentimentgeladen? Überdies nicht zu schnell und ohne jede Vorsicht, Rücksicht und Nachsicht, das heißt buchstäblich: ohne genauer hinzusehen oder hinzuhören, ohne Empathie und Sachkenntnis. Die Kommunikationsformen der neuen Medien laden heute zum schnellen (Ver-)Urteilen geradezu ein: zum chatten, twittern, posten und teilen.

Dann haben wir auf der einen Seite „die Rassisten, welche Muslime und den Islam als eine homogene Gruppe sehen“ und auf der anderen Seite „die heiligen Toleranten“ (Mansour), die aus Bequemlichkeit oder politischer Naivität eine „falsche Toleranz“ üben (so die FAZ am 20.10.2021, S.9, bezogen auf das Kölner Beispiel).

Was hierbei nicht nur zu kurz kommt, sondern gar nicht erst entstehen und sich ausbreiten kann, ist das nötige Toleranzgespräch unter Vielen, das eine differenzierte Debatte und berechtigte Kritik ermöglicht, die in einer Demokratie für alle zumutbar sein muss.