Spiel mit der Zeit

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Unser Handeln hat eine Sozial-, Sach- und Zeitdimension. Letztere wird am meisten unterschätzt, und zwar sowohl persönlich wie politisch. Sie ist aber grundlegend – ‚Sein und Zeit‘ – und sie ist besonders schwierig. Schwierig deshalb, um nur einen Aspekt zu erwähnen, weil sie von politisch denkenden Menschen oft riskante Entscheidungen abverlangt, die sie zu verantworten haben. Wir sind indes häufig entscheidungsschwach und verantwortungsscheu.

Jedes Handeln hat unumgänglich Folgen in der Zeit, die wir weder absehen noch beherrschen, beabsichtigte und unbeabsichtigte. Die Zeit eröffnet Möglichkeiten und setzt uns gleichzeitig unter Druck. Wir haben Zeit für die Freiheit und verfügen doch nicht zur Gänze über sie. 

Der Sommer ist vorüber, der Herbst beginnt und bald beginnt für viele auch ein harter Winter, zum Beispiel für die Ukraine.

Ende August lautete das Argument wieder: die Russen haben Zeit, die Ukrainer nicht. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, nicht nur militärisch, sondern auch angesichts des bevorstehenden Winters, welcher die Bevölkerung des zerstörten Landes hart treffen wird. Es bahnt sich eine weitere humanitäre Katastrophe an: Große Teile der Infrastruktur sind zerstört, und es fehlt an Energie. Es wird ein kälterer Winter werden als in Deutschland, soviel ist sicher.

Deshalb drängen manche Selenski zu Verhandlungen auf höchster Ebene noch im Herbst. Andere sagen, je schneller und besser jetzt die Waffenlieferungen aus dem Westen kommen, desto eher kann der Krieg beendet werden. Tatsächlich ist das ukrainische Militär, das weiterhin tapfer kämpft, zu 100% auf diese Unterstützung angewiesen, um den Krieg noch gewinnen zu können.

Spitzenpolitiker wiederum geben zurzeit den öffentlichen Kommentar ab, dass der Krieg auch mit weiterer Unterstützung des Westens noch „jahrelang“ dauern könne, während sich immer größere Teile der Bevölkerungen gegen die Aufrechterhaltung der Sanktionspolitik wenden, weil sie ihnen zu schaden beginnt. Die außergewöhnliche Solidarität des Westens mit ihren nationalstaatlichen demokratischen Regierungen gerät so zunehmend unter Druck. 

Damit wird die „Kriegsmüdigkeit“ (mit-) erzeugt, welche eine nötige solidarische Politik bekämpfen möchte. Wohlstandsverluste und soziale Massenproteste drohen. Der starke deutsche Sozialstaat zum Beispiel kommt kaum noch hinterher damit, Entlastungspakete (Inflationsprämien, Kindergeld, Wohngeld u.a.) für möglichst viele Leute zielgenau und wirksam zu schnüren. Die zunehmende Inflation überall ist der „Taschendieb des kleinen Mannes“ (Blüm).

Fast alle Beobachter stimmen darin überein, dass ausgerechnet jetzt der Zeitpunkt für Verhandlungen nicht gegeben ist. Was Russland bisher dazu geboten und aufgeboten hatte, bewegt sich auf dem untersten Niveau. Die Abnützungsschlacht im Donbass läuft weiter, und Selenski geht am Unabhängigkeitstag (25. August) in die Offensive und verkündet nichts weniger als den Sieg mit der Rückeroberung der annektierten Gebiete. 

Das ist eine ganz andere Position, als noch im März, als er mit dem 6 Punkte-Plan bereit war, mit Putin über den Donbass zu verhandeln und die Krim-Frage für die nächsten 15 Jahre offenzulassen. Inzwischen gibt es Angriffe auf die Krim, und am 29. August startete die angekündigte Großoffensive um Cherson, der ersten Stadt, die von den Russen erobert worden war. Gleichzeitig wird dringend eine demilitarisierte Zone rund um das größte AKW in Europa in Saporischschja verlangt. Zumindest hier muss es sofort einen begrenzten Waffenstillstand geben.

Ist die gegenwärtige Gegenoffensive mehr als ein Angriff, ist sie eine Illusion oder hat die Ukraine die Kraft zu dieser Offensive und zum Sieg? Von der russischen Seite wollen wir an dieser Stelle nicht reden. Auch hier ist vieles offen und ungewiss. Russland hat aber nach wie vor die Eskalationsdominanz und eine nicht zu unterschätzende Durchhaltefähigkeit trotz schrumpfender Wirtschaft. Resilienz ist hier kein Modewort.

Was aber im Moment am meisten überrascht, ist die plötzliche Offensive mit westlicher Unterstützung (siehe Die Zeit, 1.9., S.1) : Sie verändert die „Logik des Krieges“, “ jetzt spielen die Ukrainer das russische Spiel auf Zeit nicht mehr mit.“ Die genaue militärische Sachlage ist zwar weiterhin unklar, gleichwohl sind jetzt einige Grundannahmen zu überdenken, welche der politischen Debatte zugrunde liegen: 

Gegen die schiere Größe und Macht Russlands kann man ohnehin nichts ausrichten, was den verbreiteten Defätismus begründet. Dagegen stehen zwei Thesen, die in eine andere Richtung weisen:

1. Waffenlieferungen, Ausbildung und Beratung verlängern den Krieg nicht, sondern verändern ihn zugunsten der Ukraine. Der Krieg hat inzwischen schon mehrere aufschlussreiche Phasen hinter sich, die das belegen. Und zweitens die gewagtere Hypothese:

2. Russland erweist sich als ein überdehntes Imperium, das es vielleicht nicht mehr schafft – im Unterschied zur Ukraine – die Regeln des eigenen Krieges zu definieren (Die Zeit, 1.9.).

Die Wahrnehmung dessen, was machbar ist, bleibt politisch immer mitentscheidend, wobei man sich freilich auch täuschen und scheitern kann. Erfolg und Scheitern liegen im Politischen nahe beieinander. Es handelt sich dabei weder um ingenieursmäßigen Maschinenbau noch um gesetzmäßige Physik. Die Offensive der Ukraine vor dem kommenden Winter ist militärisch wie psychologisch von größter Bedeutung.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire