Rot oder schwarz in grünen Zeiten

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Das Finale des Wahlkampfs ist eröffnet.

Scholz hat für viele überraschend deutlich mehr als 20% erreicht und liegt vor der Union, die in einem historischen Tief ist. Dieses Ziel strebte er schon zu Beginn des Wahlkampfs vor mehr als einem Jahr ausdrücklich an. Er hat immer daran geglaubt und daran gearbeitet. Laschet glaubt auch daran, noch gewinnen zu können, so wie damals 2017 gegen die favorisierte Hannelore Kraft in NRW, die einmal sozialdemokratische Hoffnungsträgerin war. Erst mit dem TV-Triell vom 29. August beginnt für ihn die Zeit, endlich über Inhalte zu reden – spät, aber noch nicht zu spät.

Am 3. September stellt Laschet sein achtköpfiges „Zukunftsteam“ vor. Die Union verfolgt eine Doppelstrategie: mit der Warnung vor einem Linksbündnis will sie die Wechselwähler der bürgerlichen Mitte gewinnen und mit einer neuen Agenda die Zukunft. Diese soll von Experten und nicht von Experimenten ideologischer Natur getragen werden, womit lediglich die linken Ideologen gemeint sind. Laschet will für die Vielfalt der Union und des Landes stehen. Dies umfasst zum einen die verschiedenen Flügel der schwächelnden Volkspartei CDU/CSU: christlich-sozial, liberal und konservativ.

Zum anderen gibt es starke Bezugspunkte, die er aus NRW mitbringt, zum Beispiel die gleiche Beachtung und das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen kommunal, regional und Bund. Gerade die kommunale Ebene hat bei der Bewältigung der Coronakrise originelle Problemlösungen hervorgebracht, die bundesweit zu Vorbildern geworden sind (Tübingen, Rostock).

Ebenso sind die neuen und unterschiedlichen Probleme von Metropolregionen und ländlichen Räumen zu beachten. Mit der überraschenden Berufung von Joe Chialo will Laschet zudem die Kreativwirtschaft und die Kultur stärker in den Fokus rücken. Die wissenschaftliche Beratung hat sich in der Pandemiekrise bewährt, mit Peter Neumann setzt Laschet nach dem Afghanistan-Desaster deshalb auch bei den Terrorismusfragen auf die Wissenschaft.

Dorothee Bär von der CSU, Staatsministerin im Kabinett Merkel, soll für ein Superministerium für Digitales werben. Dazu gehört zentral die „Staatsmodernisierung“. Hier soll nun endlich der “ digitale Turbo gezündet werden“, dem Staat will Bär „ein Update verpassen“. Das sind große und bezeichnende Worte: Die Letzten wollen wieder die Ersten sein, was den Streber, der heute ein Surfer des Zeitgeistes ist, auszeichnet.

Dazu wiederum passt die „Entfesselung der Wirtschaft“, die Friedrich Merz als Experte für Wirtschaft und Finanzen verspricht. Er, der einstige Rivale von Laschet, ist das Schwergewicht im Team. Seine Einbindung ist für Laschet ein inhaltliches Risiko und zugleich eine wahlstrategische Chance. Merz, der noch immer viele Anhänger in der Union hat, polarisiert und mobilisiert. Die FDP fordert er auf, von der Ampelkoalition Abstand zu halten.

Merz steht auch für solide Staatsfinanzen, die im Zusammenhang mit den Problemen der EU als Transfer- und Schuldenunion zu großen kontroversen Themen werden. Merkel war schon vehement gegen Eurobonds. Die Europapolitik ist im Wahlkampf noch kaum angesprochen worden, sie wird indes bald heftig auf die Tagesordnung der neuen Regierung kommen.

Scholz spricht von einem solidarischen souveränen Europa. Was bedeutet das in finanz- und verteidigungspolitischer Hinsicht? Und Laschet bewundert Macron. Wie aber sieht die deutsch-französische Zusammenarbeit nach den französischen Wahlen im April 2022 aus?

Scholz antwortete neulich auf die Frage, mit wem er am liebsten eine Koalition eingehen möchte: “ mit den Freunden von den Grünen“ (3.9.). Scholz und Baerbock kennen sich gut aus unzähligen Talkrunden von Potsdam her, wo sie sich als Direktkandidaten für den Bundestag gegenüberstehen. Tatsächlich weist inzwischen die Sozialpolitik, der Lieblingsbereich der Linken, viele Überschneidungspunkte mit den Grünen auf (Mindestlohn, Kindergrundsicherung u.a.).

Die Grünen werden inhaltlich und personell in einer Regierung Scholz genauso ihre Handschrift hinterlassen wie in einer Regierung Laschet. Für sie geht es primär um eine Klimaregierung. Die klimapolitischen Ziele sind inzwischen klar festgeschrieben. Werden sie von der Regierungspolitik unter welcher Führung auch immer nicht eingelöst, werden die Protestbewegungen der aktiven Gesellschaft dafür sorgen. Wir unterscheiden bewusst zwischen Regierungs-, Demokratie- und Engagementpolitik.

Für Laschet ist die Jamaikakoalition eine realistische Machtoption, für Scholz die Ampel. Geht das aber mit dem Vierten neben dem Triell: nämlich Christian Lindner? Eine Jamaika-Koalition würde er nach 2017 nicht noch einmal absagen, nach dem Motto: Lieber nicht regieren als falsch regieren. Gemeint war Merkel – im Stil oder im Inhalt? Scholz fand auch im Triell, die Entscheidung zur Großen Koalition ausdrücklich „gut“ , weshalb jetzt die Union die Geschichte von den zwei SPDen polemisch ins Feld führt: wer Scholz wählt, bringt demnach die linke SPD von Esken und Kühnert an die Macht.

Da wird bewusst ein Popanz aufgebaut, denn Scholz hat sich als Kanzlerkandidat und Wahllokomotive für die schwächelnde Volkspartei SPD (siehe nur die Wahlen in Sachsen-Anhalt vom 6. Juni) eine eigene Autorität aufgebaut, um auch bei einer möglichen Regierungsbildung eigene Wege zu gehen, was eine große Veränderung gegenüber dem Weiter-so bedeuten könnte. Überraschungen sind ihm zuzutrauen.

Können aber die Liberalen, die ausdrücklich wieder regieren wollen (siehe ihr Programm vom März) und in NRW mit Laschet regieren, mit den staatsgläubigen Sozialdemokraten und Grünen kooperieren? „Der Staat, das sind wir alle“ (Habeck) – schön wäre es. Da müssten die freien Demokraten über ihren eigenen Schatten springen, was inhaltlich gut und historisch wäre. Scholz könnte mit der gewonnenen Autorität ausgleichen und vermitteln. Er hat sich zu den liberalen Positionen noch nicht geäußert, wohl aus taktischen Gründen. Konzeptueller gefragt: Ist ein neuer ‚ grüner Sozialliberalismus‘ überhaupt möglich? Das Wort macht nicht gerade die Runde, ebenso wenig wie Ordoliberalismus.

Lindner kennt seinen Dahrendorf (siehe Lebenschancen, 1979). Das Leitbild des Chancen-Liberalismus, der sich auch um die Voraussetzungen der Freiheit kümmert, könnte eine Brücke bauen zu einem neuen grünen Sozialliberalismus, der kreativ wäre. Die Bewältigung der akuten Klimakrise ist neu und vordringlich und bei den großen Bereichen Wirtschaft und Finanzen wird es zugegebenermaßen schwierig, Kompromisse zu finden. Mittelstand und Linke müssten voneinander lernen. Das Regieren wird nicht einfacher, sicherlich wird man sich aber, der historischen Krisensituation geschuldet, von einseitigen und vereinfachten Staatsvorstellungen auf allen Seiten verabschieden müssen, auch auf (neo-)liberaler Seite.

Für Lindner wird es die letzte Chance sein, ein Westerwelle zu werden; es ist bekannt, dass er anstelle von Habeck gerne Finanzminister werden möchte, was wiederum inhaltliche Konflikte in sich birgt. Auf die inhaltlichen und personellen Ansprüche der Parteien sowie ihre Verhandlungsbereitschaft und internen Auseinandersetzungen darf man deshalb ebenso gespannt sein wie auf das definitive Resultat am 26. September. Vieles ist diesmal offen.

So oder so: über das neue Regierungsprogramm entscheiden nicht die Wähler und die ideenpolitischen Abhängigkeiten (links, grün, liberal), sondern die Parteien. Scholz, die Grünen und Lindner könnten sich für eine wirklich neue historische Reformkoalition einsetzen. Warum sollen Parteien nicht zu neuen politischen Synergien fähig sein? Wie müsste dann eine liberale Mindestagenda aussehen?

Unstrittig wären die allgemeinen Programmpunkte:

  • Versöhnung von Ökonomie und Ökologie
  • Stärkung der Grund- und Bürgerrechte
  • Chancengerechtigkeit durch Bildung
  • faire Löhne
  • Steuererhöhung für die Internetriesen
  • neue Technologien und Forschung stärken.

Lange kontroverse Diskussionen wird es darüber geben:

  • was vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik heißt?
  • Maastrich-Kriterien statt schwarzer Null
  • Klimazertifikate in der ordoliberalen Tradition u.a.

Der ‚grüne Sozialliberalismus‘ muss einigermaßen kohärent und zugleich prägnant sein, konsistent kann er nicht sein. Im Gegenteil werden sich schon aufgrund der zahlreichen Politikfelder die Widersprüche und Konflikte in der Regierung eher häufen und verschärfen. Die außenpolitischen Probleme kommen hinzu. Sicherheit und Stabilität bedeuten nicht mehr Harmonie. Auch Deutschland wird sich an Regierungskrisen und neue Formen des Regierens gewöhnen müssen. Solange jedoch eine lernfähige Parteiendemokratie populistische, autoritäre und technokratische Versuchungen abwehren kann, ist das, nüchtern betrachtet, ein Erfolg.

Ausländische Beobachter (so der ehemalige Botschafter Kornblum) sagen häufig, der deutsche Wahlkampf sei deshalb so langweilig, weil die stabilitätsverwöhnten Deutschen vor allem an Stabilität interessiert seien. Sie sehen in der Kanzlerdemokratie die Sehnsucht nach charismatischen Politikern (wie Söder oder Habeck) nicht gestillt. Dies scheint mir ein oberflächliches und problematisches Urteil zu sein, gemischt aus Bewunderung, Neid und Häme.

In Zeiten beschleunigten Wandels ist das Bedürfnis nach Stabilität komplexer zu sehen: Das commonsense-nahe sozialdemokratische Fortschrittsmodell ist vom konservativen Orientierungsmodell zu unterscheiden, und die forsch-grüne Leitvorstellung „Halt durch Veränderung“ ist für viele Menschen zu dünn.

Es gibt wieder eine sozialdemokratische Fortschrittserzählung, die den Tiger des ungeplanten gesellschaftlichen Wandels, auch industrie- und energiepolitisch reiten will und möglicherweise den frischen Wind der Grünen aufnehmen kann. Scholz hat sie am 9.Mai vorgetragen, an ihr ist weiterzuarbeiten, theoretisch wie praktisch. Die Demokratiepolitik, die über Engagementpolitik hinausgeht, kommt hinzu, und die meist vereinzelten liberalen Stimmen gegen eine überambitionierte Politik- und Staatsvorstellung bleiben darüber hinaus gerade in Deutschland von Bedeutung.

Am 26. September werden wir wissen, ob die Partei von Laschet oder die Partei von Scholz vorneliegt. Davon wird einiges abhängen.

Bildnachweis: IMAGO / Eibner