Protest und Widerstand

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Wenn Bauern demonstrieren, dann aber richtig. Das kennen wir aus der Schweiz, wenn sie in ‚Bundesbern‘ auf dem Bundesplatz vor dem Bundeshaus auffahren und gelegentlich ihren Mist abladen. Das sind keine ‚Latschdemos‘, ‚Berufsdemonstranten‘ sind sie nicht.

Die Bauern haben nicht viel Zeit, da sie zu den Höfen zurückkehren müssen. Und sie demonstrieren erst, wenn sie wütend sind und das sprichwörtliche Fass übergelaufen ist, wenn sich viel Frust angesammelt hat gegenüber einer Regierungspolitik, die ihnen fern ist. Vielen Bauern fehlt in den Ämtern, mit denen sie es zu tun haben, die nötige Fachkompetenz. Sie kommen aus einer anderen Arbeits- und Lebenswelt. Die Sparbeschlüsse 2023 haben sie als „katastrophales Weihnachtsgeschenk“ erlebt.

Deshalb müssen Demonstrationen wirksam sein, wenn man schon demonstrieren geht. Dazu kommt der Bauernverband, eine Organisation, die nicht schwach ist in der Verbändedemokratie der organisierten Interessen. Ohne starke Verbände gibt es hier keine Kompromisse. Das gilt für Deutschland wie die Schweiz mit durchschnittlich viel kleineren Höfen, die hochsubventioniert sind (die Höhenlage kommt dazu).

Die Bauern in Europa befinden sich in einem beruflichen Zwiespalt: sie möchten selbständige stolze Unternehmer und Produzenten sein, sind aber gleichzeitig durch die Subventionen, von denen sie abhängig sind, abhängig Beschäftigte. „Gefangen in der Subventionsfalle“, wie die NZZ schreibt (16.1., S.13).

Ohne Staat überleben sie nicht, in der Schweiz, als Nicht-EU-Mitglied noch ausgeprägter als in Deutschland. Kritiker haben diesbezüglich, etwas überzogen, auch schon von „Planwirtschaft“ gesprochen. Mit der Rolle des Staates hat auch die überbordende Bürokratie und heute die (grüne) Bevormundung – „Landwirtschaft gab es schon vor den Grünen“ (Transparent) – zu tun, über die sie klagen. Diese Klagen sind keine auf hohem Niveau (NZZ, 15.1., S.15). 

Die kognitiven Dissonanzen zwischen Freiheit der Arbeit und Abhängigkeit zermürbt vielmehr die bäuerlichen Existenzen, so dass viele aufgeben. Wer Jahrzehnte eine Subvention erhält, empfindet diese als Besitzstand. Doch der gesamte EU-Haushalt ist ein einziger Verschiebebahnhof für Agrarsubventionen. Zum Kulturkampf der Landbevölkerung kommt heute die europäische und internationale Konkurrenz, die sich verschärft, hinzu.

Bauer sein, ist nicht nur ein besonderer Beruf, die Landwirtschaft ist auch eine besondere Branche. ‚Das Höfe sterben‘ ist ein allgemeiner Trend, auch in Bayern, wenngleich dort der Bauernstand in der Politik einen anderen Stellenwert hat. Das hat die Rede von Söder in Nürnberg am 5. Tag der Bauernproteste (12.1.) erneut unterstrichen: “ Ohne Bauern kein gutes Deutschland“. Die Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe ist freilich sehr unterschiedlich.

Das wird auch von Lindner am letzten Tag der Aktionswoche vor dem Brandenburger Tor bekräftigt, wo er die Sparpolitik der Regierung verteidigt und zugleich das Angebot macht, über die einzelne Maßnahme ‚Agrardiesel-Subvention‘ hinaus grundsätzlich über Landwirtschaftspolitik in liberaler Perspektive zu reden. Und das in Absetzung von der bisherigen Politik, genauso etwa von Klöckner (CDU) oder Künast (Grüne), weg von der bisherigen Bevormundung. Die Rufe, „die Ampel muss weg“, übertönen trotzdem seine mutige Rede. 

Lediglich eine einzelne FDP-Fahne wurde durch die Menge getragen. Das ist aufschlussreich: für die Parteien wie die Friedfertigkeit der wütenden Bauern. Der Finanzminister konnte trotz einer starken inhaltlichen Argumentation jedoch nicht befrieden. Der Unmut gegenüber der Regierung wächst vielmehr, der auch in den Ansprachen von Vertretern der Bäcker, der Waldwirtschaft und des Transportwesens zum Ausdruck kam. 

Lindner hat sich nicht nur für die Regierung „gestellt“, er hat auch buchstäblich „die Stirn hingehalten“, was mir besser gefällt. So wie bisweilen der Vizekanzler für den Kanzler oder der Staatssekretär für den Minister, wie im Falle des PCK Schwedt, wenn es ungemütlich wird. Das ist die Voraussetzung dafür, um besorgte, ja wütende Leute auch in schwierigen Situationen mitnehmen zu können. Krisenmodus in der Politik benötigt besonders anspruchsvolle und anstrengende Krisenkommunikation.

Widerstand gegen die Ampel-Regierung

Die CDU/CSU war von Anfang an auf Seiten der Bauern und grundsätzlich gegen die Ampel-Regierung, die sie ablösen möchte. Beim notwendigen Sparen sei die Landwirtschaft einseitig belastet worden, heißt es. Die Regierung entscheidet nicht richtig, wo gespart werden muss, während Kanzler Scholz die Subventionskürzungen verteidigt. Ihn trifft der Vorwurf, dass der Haushalt „unsozial“ sei. Das ist im Grunde genommen die Substanz der politischen Auseinandersetzung seit dem Urteil aus Karlsruhe, welches gerichtlich die Austeritätspolitik auferlegt.

Dazu kommt der Seitenhieb gegen die Grünen: Die ungeliebte Regierung Scholz, der Kanzler “ kann es nicht“, betreibe mit den Grünen eine „Politik gegen den ländlichen Raum“, heißt es aus bayrischer Perspektive (12.1). Der Stadt-Land-Gegensatz wird so wieder reaktiviert, und selbstverständlich springen alle oppositionellen und widerständigen Bewegungen, Gruppen und Grüppchen opportunistisch auf – von den ‚Freien Wählern‘ über die AfD: „Die Ampel macht mehr Mist als unser Vieh“ , über die „Freien Sachsen“ in Dresden bis zum rechtsradikalen „3.Weg“, sei es mit Flugblättern, Plakaten oder eigenen Demonstrationen. Die Demonstration der ‚Freien Sachsen‘ in Dresden beispielsweise war nicht vom Bauernverband angemeldet und hatte mit landwirtschaftlichen Themen nichts zu tun, so wenig wie die AfD in ihrem Parteiprogramm.

Damit wird der Protest der Bauern, der sich anfänglich gegen die Kürzung des Agrardiesels gerichtet hat, inhaltlich erweitert. Weitere Gruppen, die sich dem Protest anschließen wie die Spediteure mit ihren Lastwagen, Gastronomen, Fischer, Handwerker und Unternehmer kommen hinzu. Das Spektrum erweitert sich zu einem „Aufstand des Mittelstandes“. Traktoren und Lastwagen blockieren den Verkehr, so dass Deutschland buchstäblich „lahmgelegt“ wird, wovon die Klimabewegung in ihrem Widerstand gegen den Autoverkehr bloss phantasieren kann.

Die Polizei spricht dennoch lobend von einem „geordneten Protest“, der einen großen Rückhalt in der Bevölkerung findet. Die befürchteten gewaltsamen Ausschreitungen gab es nicht, die Distanzierung von Extremisten erfolgte vielfach, und die Gefahr für die Demokratie blieb aus. Davon werden die Klimakleber negativ abgesetzt: „sie arbeiten nicht, die Landwirte schaffen etwas“ (Söder).

Sie beschmieren das Brandenburger Tor als Symbol der nationalen Einheit, bei ihnen sollte die linksextremistische Unterwanderung wahrgenommen und skandalisiert werden und nicht den Bauern eine rechtsextremistische Unterwanderung unterstellt werden (Lindner 15.1.). Was die meisten aktiven Bauern und Bäuerinnen gegen die Regierung aufbrachte, war, dass sie in die „rechte Ecke“ gestellt werden.

Die Landwirte pflegen die Natur in vielfacher Hinsicht, in der Schweiz werden sie deshalb auch „Landschaftsgärtner“ (Kurt Gloor 1970) genannt. Wie sähe die Landschaft aus ohne sie?! Sie sind nicht nur eine Branche, sondern übernehmen wesentliche Funktionen für ein Land nicht nur den ländlichen Raum, zum Beispiel Ernährung und regionale Produkte, heute anders als früher. Auch das stimmt, wenn man es nicht ideologisch überhöht (siehe dazu den Historiker und sozialdemokratischen Politiker im Appenzellerland Matthias Weisshaupt zur Bauern- und Bauernstaatsideologie in der nationalen Geschichtsschreibung, 1992).

Nur scheinbar ideologiefrei wird gegen die ideologische Politik der Grünen polemisiert. Ideologisch im negativen Sinne sind heute nur noch die Grünen, während diese, nach vielen Lernprozessen, zum Glück für die Republik – in den heutigen „aufgeregten Zeiten“( Scholz) – staatstragend geworden sind. Aber aus künftigen Regierungskoalitionen will man sie im parteipolitischen Machtkampf gleichwohl entfernt haben wie in Hessen und Bayern, so auch im Bund.

Dabei dienen die realen Probleme der Bauern, die es auch in Bayern und der Schweiz zuhauf gibt, oft als Vorwand. Sie wollen nicht zu viele Vorschriften von Leuten akzeptieren, die keine Ausbildung haben und „eine Kuh nicht von einem Schwein unterscheiden können“ (so der bayrische Wirtschaftsminister Aiwanger, der selber Bauer ist), heißt es dann. 

Solche starken Sprüche gab und gibt es, aber sie überwiegen bei weitem nicht, wenn man die zahlreichen Stimmen von Bauern und Bäuerinnen hört, die sich tagtäglich bei Welt TV und anderswo äußern. Sie wollen gehört und in ihren Anliegen anerkannt werden. Erst daraus können faire Kompromisse entstehen, was es in der demokratisch legitimierten Politik zu beachten gilt.

Der Protest wird immer mehr zu einer Bewegung und zu einem Widerstand gegen die Regierung, die zunehmend unter Druck gerät. Es ist eben nicht nur symbolischer Protest, sondern realer Widerstand mit einer Preiserhöhungsstrategie. Wird die Regierung einlenken? Und wird sie erpressbar, wenn sie das tut? Wie weit gehen die Bauern in ihrem Protest nach der geplanten Abschlusskundgebung in Berlin?

Sie hoffen noch auf Gespräche mit Abgeordneten und Fraktionen bis Donnerstag, den 18. Januar, wo im Bundestag das Haushaltsbereinigungsgesetz besprochen wird. Die Drohung, den Protest fortzusetzen, sollte der Agrardiesel, der Priorität hat, nicht zurückgenommen werden, bleibt im Raum, so Bauernpräsident Ruckwied am 15. Januar nach einem Austausch mit den Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien. Er setzt auf lösungsorientierte Gespräche mit Ergebnissen. Austausch und Gespräche sind nicht dasselbe, Gespräche dauern länger.

Kann sie Finanzminister Linder mit dem wiederholten Versprechen des Bürokratieabbaus beschwichtigen oder kann gar ein weitergehender Kompromiss in den erneuten Gesprächen, ab Montagnachmittag dem 15. Januar, erzielt werden? Das Haushaltsgesetz liegt noch im Bundestag, Kompromisse sind also noch möglich. Oder wird der Protest weitergehen und sich radikalisieren?

Parteiendemokratie, Regierung und Staat

Das ist die Angst von Regierenden, die gewählt sind. Sozialdemokratische Ministerpräsidenten, die von Landwirtschaft etwas verstehen wie der gelernte Agraringenieur Dietmar Woidke aus Forst in der Lausitz – „ich kann Trecker fahren und Kühe melken“ –, kritisieren Scholz und raten zum Dialog. Die Brandenburger Bauern haben am Montag, den 8.1., einen 23 Kilometer langen Konvoi von Klaistow an die Staatskanzlei geführt, dort eine Protestnote übergeben, in der von zivilen Protestformen gesprochen wird. In den Reden hat man sich von Extremisten distanziert. In einem weit verbreiteten Video von Jungbauern und Jungbäuerinnen heißt es: Protest gegen die Ampel bedeutet nicht „Rechts vor Links“.

Der sozialdemokratische Landwirtschaftsminister Backhaus von Mecklenburg-Vorpommern präsentiert derweil einen Kompromissvorschlag, der mit Bauern erarbeitet worden ist und vorsieht, die Subventionen bis 2028 schrittweise zurückzunehmen. Diese Zeit soll genutzt werden zur Entwicklung von alternativen Kraftstoffen für landwirtschaftliche Fahrzeuge. Kanzler Scholz und Finanzminister Lindner, der von Anfang an die Bauernproteste für „unverhältnismäßig“ hielt (6.1. 2024), wollen dagegen an ihrer Linie festhalten.

Lindner will sich am Montag vor dem Brandenburger Tor den Bauern (der Bauernverband vorneweg und seine beharrliche Basis auf der Straße, die dort nächtigte) „stellen“. Das erwartete man am Donnerstag zuvor am 11.1. auch in Cottbus von Kanzler Scholz, der dort ein neues ICE-Werk eröffnete. Scholz ist kein Macron und kein Kretschmar, der ein begnadeter Populist ist, die aus dem Wagen aussteigen und „sich der Menge stellen“ (was für ein Wort!).

Wie aber kann man mit einer Menge diskutieren? Wie inhaltlich argumentieren, wenn die Stimmung aufgeheizt ist und Buhrufe das Reden übertönen. „Scholz drückt sich vor den Bauern“ (Welt TV, 11.1.), heißt es prompt. Die Medienerwarten Bilder eines Kanzlers, der die Bauern versteht – das ist die Realität der Massenmedien. Inwieweit soll sich Politik von solchen Erwartungen gängeln lassen? Bestimmen die Medien die Politik? Sind Politiker ihre Marionetten?

Kann man also Scholz vorwerfen, dass er kein talentierter Kommunikator ist, oder ist es nicht vielmehr so, dass nur noch ein besonnener, wenngleich spröder Stoiker die heutige Streitkultur, nur schon die einer Dreier-Koalition, aushält? Hätte es der pragmatische Macher Helmut Schmidt, das Hamburger Vorbild für Scholz, in dieser Konstellation besser gekonnt? 

Wäre es aber unter Schmidt überhaupt zu einer rot- grün-liberalen Fortschrittskoalition, von der alle drei Parteien durchaus viel voneinander lernen können, gekommen? Hätte Schmidt ihre internen Konflikte moderieren und ausgleichen können? Fehlt es also an der kantigen „Schmidt-Schnauze“, der sogar der riesigen Friedensbewegung der 80er Jahre, überhaupt nicht zeitgeistig, die Stirn geboten hat. Das ist zu bezweifeln, wir leben in einer anderen Welt.

Fehlt es also vor allem an „Führung“, die in der Kanzlerdemokratie wieder groß geschrieben wird, obwohl auch die führende CDU/ CSU keinen überzeugenden Kandidaten hat? Oder woran fehlt es genau in der Politik, zunächst einmal nur in der Regierungspolitik? Die verschiedenen Dimensionen des Politischen in der Moderne sind auseinander zu halten und können nur gesondert produktiv diskutiert werden. 

Diese verschiedenen Dimensionen oder Aspekte sind: Regierung, Parteiendemokratie, Bundestag und Parlamente, Verbändedemokratie, Protest und Widerstand, Demokratie der Bürger und Bürgerinnen. Die ganze zivile Komplexität des Politischen in der Moderne ist zu beachten, wenn man die Demokratie in der nationalen und internationalen Auseinandersetzung stärken will, und darum geht es in diesen Jahren!

Ist also vor diesem Hintergrund tatsächlich die Diskussion um den Führungsstil des Kanzlers die richtige und wichtigste politische Frage bei allem unnötigen Streit, zu vielen handwerklichen Fehlern und fehlender demonstrativer Entschlossenheit, die viele kritisieren? Ist die mediengetriebene vorherrschende Art von kleinlichem und gehässigem Streit überhaupt Kultur, politische Kultur? Für wen? Für die Medienprofis aus geschäftlichen Gründen und die vermeintlich Meinungsstarken aus narzisstischen Gründen? Fehlende kluge Politik lässt sich durch (politisch missbrauchte) Moral nicht kompensieren.

Den demokratischen Auseinandersetzungen mit den vielen Verschiedenen, die über Deliberation hinausgehen, kommt es jedenfalls nicht zugute. Die Aufgabe der Parteien ist es dabei, Stimmen zu gewinnen für ihre Lösungsvorschläge. Diese Aufgabe kann man ihnen, auch mit einem Parteiverbot der AfD, nicht abnehmen. So argumentierte das Bundesverfassungsgericht schon beim gescheiterten NPD- Verbot, obwohl das Kriterium der „Affinität zum Nationalsozialismus“ erfüllt war, wie das Gericht selber feststellte.

Oder bestimmen neuerdings die ständigen Umfragen die Politik? Soll Pistorius statt Scholz Kanzler werden? Lässt sich die SPD- Fraktion von solchen Pseudo-Diskussionen beeindrucken – Demoskopie statt Demokratie? Die Ampel ist noch immer die gewählte Regierung, und wenn es am Kanzler Zweifel geben sollte, kann man im Parlament die Vertrauensfrage stellen. Wird sie verloren, gibt es Neuwahlen, auf die eine erneute Koalitions- und Regierungsbildung folgen.

Das ‚große Ganze‘, sei es die Regierung und das Regieren, sei es die Demokratie und die demokratisch legitimierte Politik, um das es jetzt angeblich geht, folgt dann seinem vorgesehenen geordneten Gang. Demokratie ist zum Glück noch immer primär verfahrensorientiert und lässt sich von Stimmungen und Protesten zwar beeinflussen, aber nicht steuern.

Scholz hält in Cottbus am 11.1., entgegen den Erwartungen, eine typische Rede für die sozialdemokratische Zukunftshoffnung und lobt das Wirtschaftswachstum in Brandenburg, das nicht von allein kommt. Er spricht gutgelaunt, überschwänglich und schlumpfig gar von „chinesischen Dimensionen“. Von Cottbus gehen heute andere Signale aus, nicht nur in der Forschung, sondern auch bei den Arbeitsplätzen und innovativer Wirtschaft. Auch das stimmt.

Scholz und Woidke sehen sich als Macher. Eine „neue Mentalität des Machens“ fordert auch die Heidelberger Erklärung der CDU (13.1.). Ihr neues Grundsatzprogramm nach 17 Jahren betont Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. „Wir sind bereit für die Regierungsübernahme“ (Merz). Die Union ist aktuell in der Gunst der Wählerschaft so stark wie die Ampelparteien zusammen.

Scholz und die SPD wissen noch, was Fortschritt ist, dafür brauchen sie keine akademischen Abhandlungen. Sie müssen Wahlkämpfe mit Argumenten für heute gewinnen und nicht mit nachgestellten antifaschistischen Kämpfen von gestern, was nicht heißt, dass es in der AfD keine rechtsradikalen Tendenzen gibt. 

Darauf hat am kalten Sonntag, dem 14. Januar, eine Kundgebung gegen Rechts in Potsdam am Alten Markt, der größten seit 1989, aufmerksam gemacht. Scholz und Baerbock waren als Potsdamer mit dabei. Zeitgleich fand auch eine große Kundgebung in Berlin vor dem Brandenburger Tor statt. Es gab mithin zwei Tage hintereinander zwei beeindruckende Demonstrationen einer demokratischen Menge (andere in Essen, Leipzig usw. kamen hinzu), die rausgeht und sichtbar werden will, anders als die bequeme schweigende Mehrheit.

Die paradigmatische Rede von Scholz am 11. Januar in Cottbus wird die Vorlage werden für Woidkes Wahlkampf in diesem Jahr. Die AfD soll erklärtermaßen nicht die stärkste Partei im Land werden: „Ihnen darf man das Land nicht überlassen“ (Woidke), sagt die Politik unisono mit der Wirtschaft. So sehen gegenwärtig die hauptsächlichen Fronten, Herausforderungen und entscheidenden Unterschiede aus, denn die AfD liegt in den Umfragen weit voraus, was man nicht ignorieren kann und worauf man sich, diesmal früh genug, einstellen muss.

Der grüne Landwirtschaftsminister Özdemir, der bei den Kürzungen bezeichnenderweise nicht gehört wurde, versucht sich zu rechtfertigen, indem er auf die Kompromisszwänge und Kompromissmöglichkeiten einer Dreierkoalition hinweist. Zudem sieht er zurückliegende Versäumnisse in der Landwirtschaftspolitik, die nicht nur ein nationales, sondern auch ein europäisches und internationales Problem ist. 

Er bringt wieder die Idee eines ‚Bauernsoli‘ ins Spiel, den schon einmal die Groko in der ‚ Zukunftskommission Landwirtschaft‘ erwägte, um die Finanzierung von Ställen zu ermöglichen, die dem Tierwohl dienen. Der Bauernsoli wäre ein weiteres Bürokratiemonster und erst noch auf Kosten der Verbraucher. 

Die Parteien werfen einander wechselseitig vor, dass sie das „Land an die Wand gefahren hätten“ bzw. „an die Wand fahren würden“, indem sie die Zukunft verspielen. Beides ist schwierig zu verifizieren, zumal es parteiliche Komplizenschaft in der jüngeren Vergangenheit gab und die Zukunft im heutigen internationalen Umfeld niemand kennt. 

Theoretisch gesehen, ist dies im Kern die Debatte um die Schuldenbremse als sinnvolles Instrument für die Zukunft (Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit zwischen den Generationen) oder im Gegenteil als Zukunftsbremse, als Instrument, nötige Zukunftsinvestitionen (in Infrastruktur, Bildung, Forschung etc.) zu verhindern.

Die Schuldenbremse ist ein zentrales liberales Anliegen, um die übermäßige Staatsverschuldung auf Kosten der Zukunft zu verhindern. Die SPD-Fraktion im Bundestag spricht sich jetzt für eine Reform der Schuldenbremse aus. Die Grünen, die in der Wirtschaftspolitik wieder stark auf den Staat setzen, sehen das ähnlich.

Kanzler Scholz stand bisher auf der Seite des liberalen Finanzministers und verteidigte, wie die oppositionelle CDU/CSU, die Schuldenbremse. Hier spiegeln sich letztlich grundlegend verschiedene Auffassungen von der Rolle des Staates in der Politik, und es ist anzunehmen, dass die Position als Regierungsmitglied (oder nicht), die Meinung mitbeeinflusst. Dies ist in der klaren Rede von Lindner am 15.1., dem Höhepunkt der Bauernproteste, wieder zum Ausdruck gekommen, in der er den Forderungen der Bauern keinen Zentimeter entgegengekommen ist.

Was bedeuten Schulden im Staatshaushalt? Meistens sind es konsumtive Ausgaben, die aber gerne und häufig als Investitionen umdeklariert werden. Wenn der Löwenanteil des Haushalts durch Sozialtransfers gebunden ist wie in Deutschland, werden viele darüber klagen, dass zu wenig Geld für nötige Investitionen übrigbleibt. Zur politischen Identität der Bundesrepublik gehört indes der starke Sozialstaat als eine Voraussetzung für Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ihn lässt man sich zurecht etwas kosten. Auch der Systemkonflikt mit dem Kommunismus spielte bei seiner Entstehung historisch eine Rolle.

Hohe Staatsschulden bedeuten in der Regel aber nicht hohe Investitionen, sondern spiegeln vor allem die Unfähigkeit von Regierungen, sich politische Zustimmung anders als durch Sozialtransfers zu erkaufen. Wer Schulden macht, muss keine Entscheidungen über Ausgabeprioritäten treffen, worin zur Zeit einer Zeitenwende die große Herausforderung für die (Regierungs-)Politik besteht. Alle Anliegen werden vielmehr finanziert, und das Geld wird auf dem Kapitalmarkt geholt und muss erst in Jahrzehnten zurückgezahlt werden. Wird dieses Spiel auf die Spitze getrieben, so kann es wie im heutigen Argentinien enden.

Politische Kommunikation

Inzwischen geht es darum, den Konflikt mit den Bauern zu entschärfen. Die Diskussion dreht sich, vor allem medial, um die richtige Kommunikation zwischen der Regierung und der Politik auf der Straße, die selbst von dieser Interaktion beeinflusst wird. Scholz wird vorgeworfen, dass er sich vor den Bauern drücke. Seine Art der Kommunikation wird als zugleich „feige“ und „arrogant“ beschrieben. 

Was heißt indessen Auseinandersetzung auf gleicher Augenhöhe in einer Krisensituation? Das ist von außen leicht und schön gesagt. Dabei geht es grundsätzlich auch um die Frage des richtigen Regierens und die Mechanismen der Parteiendemokratie, der Koalitions- und Regierungsbildung, die bei der Bevölkerung, das bringen die Bauernproteste und ihre schnelle Ausweitung wieder deutlich zum Ausdruck, gravierend an Vertrauen verloren hat. Wer trägt dafür die Schuld?

Der sächsische Ministerpräsident Kretschmer, den wir einen begnadeten Populisten genannt haben (gleichwohl liegt die AFD in seinem Land weit vorn!), weiß es genau: Schuld für die Verunsicherung im Land trägt allein die Ampelregierung. Die CDU will mit ihrem neuen Grundsatzprogramm dagegen „Halt und Orientierung“ geben, während die Ampel nur noch „plan- und ziellos“ agiere (Linnemann). In Ostdeutschland hat die bürgerlich-konservative Partei 2024 die letzte Chance, sich als demokratische Mitte zu profilieren, bevor das deutsche Parteiensystem kollabiert.

Der ‚Parti socialiste‘ (PS) ist untergegangen, obwohl diese Partei einst François Mitterand zum Präsidentenamt gebracht hat, was eine historische Zäsur in Frankreich war. Ebenso sind die Republikaner, die Partei des noch größeren Charles de Gaulle wie verschwunden. Auch die großen Traditionsparteien von Konrad Adenauer und Willy Brandt sind davor nicht gefeit. Politologen glauben ohnehin, dass Proporz-Systeme mit der Zeit dazu tendieren, viele Parteien hervorzubringen, die in mehr oder weniger fragilen Koalitionsregierungen regieren müssen, wobei auch linke und rechte Ränder sichtbar hervortreten. Die stabilere Alternative wäre ein Majorz-System nach dem Westminster-Modell. Die regierende Partei ist hier zumindest handlungsfähig, solange sie regiert.

Schluss:
Der Bauernprotest in Deutschland hat sich an der Kürzung der Subvention von Agrardiesel entzündet. Von Anfang an ging es allerdings um mehr: „Zu viel ist zu viel“, heißt nicht zufällig der Aufruf zum Protest, der sich von Tag zu Tag ausgeweitet hat und zum Widerstand des Mittelstandes gegen die Ampelregierung geworden ist. 

Solidarität und Friedfertigkeit unter der Landbevölkerung waren groß trotz Wut und Unmut. Man könnte auch von einer sozialen Bewegung sprechen, wenn denn die Bewegungsforschung, mit Kenntnis der Aktiven, überhaupt noch hinterherkäme. Fridays for Future und Letzte Generation hat man noch kaum erforscht und begriffen.

Das Spektrum legitimer Proteste in einer liberalen Demokratie, die alles andere als selbstverständlich ist, da sie selbst ein historischer Lernprozess ist und bleibt, ist vielfältig. Und die Toleranz gegenüber legitimen Protesten in der Bevölkerung ist groß, solange sie friedlich bleiben, selbst wenn sie manchmal schwer erträglich sind. 

Die Protestformen, ihre Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit sowie ihre Symbolik sind freilich immer umstritten. Das gilt für Bauernproteste, Klimabewegung und Arbeitskämpfe gleichermaßen, die ‚Kampf‘ nicht nur auf der Metaebene verstehen. Das zeigt sowohl die historische wie die aktuelle Forschung (Braune, Enzmann, Kleger), was nicht von genauer Wahrnehmung und Objektivität entbindet, im Gegenteil. 

Das gehört zur politischen Verpflichtung in einer rechtsstaatlichen Demokratie, zumal der illegitime Widerstand gegen Demokratie und Rechtsstaat, etwa die Anstiftung zum Bürgerkrieg und der Terrorismus, im Kopf beginnen mit einer jeweils besonderen Begründung, die sich moralisch und historisch der Demokratie überhoben und überlegen wähnt – Wahnsinn statt Common sense, der das Recht in die eigene Regie nimmt. 

Die rechtsstaatliche Demokratie ist historisch-systematisch der Versuch, das (klassische) Widerstandsrecht überflüssig zu machen. Das ist eine große zivilisatorische Errungenschaft, die man pflegen muss. Deshalb gibt es zurecht seit je eine sorgfältige, kontroverse Diskussion über die Kriterien der kleinen Widerstände des zivilen Ungehorsams im Rahmen rechtsstaatlicher Demokratie. Hier ist er lediglich eine gut begründete Ausnahme – und keine Regelmethode.

Es darf keinen modischen Ausverkauf des zivilen Ungehorsams geben, und der Widerstandsbegriff ist vorsichtig, politisch reflektiert und differenziert zu verwenden. Aufstände (der Anständigen und soziale) in Deutschland sind keine Umsturzversuche à la Prinz Reuss. Der Generalstreik ist zudem im Grundgesetz nicht vorgesehen. Die Regierungen sind auch keine Autokratien oder Diktaturen, in welcher Konstellation auch immer. Sicherlich wird der historische Bauernprotest mit nie gesehenen Bildern aber Auswirkungen auf die nächsten Wahlen haben.

Die Diskussion findet also praktisch wie theoretisch in einem gewissen Rahmen statt, der verengt oder erweitert werden kann. Diesen Rahmen zu bestimmen, ist theorieimmanent das Schwierigste, zumal auch der jeweilige Kontext zu berücksichtigen ist. Exoterisch, der Öffentlichkeit zugewandt, bleibt er sicherlich aber auch das Umstrittenste, dem man sich nicht entziehen kann. Man muss deshalb wissen, von welchem Ort aus man spricht. Die Sprecher- und Beobachterposition ist lediglich methodisch neutral.


Literatur:
Andreas Braune (Hg.): Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy. Stuttgart 2017 (Reclam)

Birgit Enzmann (Hg.): Handbuch Politische Gewalt. Formen, Ursachen, Legitimation, Begrenzung. Wiesbaden 2013 (Springer VS)

Heinz Kleger: Widerstandswelten. Der facettenreiche Widerstandsbegriff (Blog vom 16. Januar 2023, www.heinzkleger.de), auch in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 36. Jahrgang, Heft 2/2

Bildnachweis: IMAGO / Ardan Fuessmann