Politische Theologie und demokratische Bürgerreligion

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Das Verhältnis zwischen Religion und Politik ist vielfältig und kompliziert (Kleger/Müller 1986). Es bewegt sich zwischen einer Aufladung des Politischen durch das Religiöse (Politische Theologie) und einer Substituierung des Religiösen durch das Politische (Politische Religion), dazwischen existiert ein breites Spektrum von schwierig zu analysierenden distinkten Phänomenen. 

Darunter sind die verschiedenen Varianten von Zivilreligion. Im Folgenden will ich aus aktuellen Gründen lediglich einen Aspekt herausgreifen: die begriffliche und inhaltliche Unterscheidung zwischen politischer Theologie und demokratischer Bürgerreligion. 

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als irdischer politischer Religion (Ryklin 2008), einschließlich der Kirchen- und Priesterverfolgung, entstand ein Vakuum, das nun durch Traditionen gefüllt wird, denen wieder Symbolstrukturen politischer Theologie zugrunde liegen. 

Die russisch- orthodoxe Kirche, deren institutionelle Stellung seit Jelzin gestärkt worden ist, spielt hierbei eine besondere Rolle. Ihre konservativen Vertreter reihen sich in eine Tradition ein, die ihre Wurzeln in Byzanz hat (siehe den Blog vom 22.8.22: Zivilisation) und unterstützen damit einen speziellen Zivilisationsstrang. Hat die Orthodoxie ein zivilisatorisches Projekt? (Lévy 2020) 

Staat und Kirche lassen sich vor diesem Hintergrund im deutlichen Unterschied zum westlich liberal-zivilreligiösen Modell nicht trennen. Der Staat wird vielmehr sakralisiert, überhöht und personifiziert; das Volk dient lediglich als akklamatorische Kulisse. Die Macht der russisch-orthodoxen Kirche versucht seit Peter dem Großen eine Mauer gegen Einflüsse der westlichen Aufklärung zu bauen, die mit Locke (1632-1704) und Voltaire (Lettres anglaises 1743) beginnt. 

Die Kirche wird – als indirekte Gewalt – nach dem absolutistischen Modell von Hobbes dem Staat untergeordnet. Hobbes mythischer Leviathan (1651) steht gegen Locke, der – noch vor dem historischen politischen Liberalismus – eine liberale Theorie des Staates entwickelt (Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1689, Ffm.1977). 

Die Kirche wird unter dem geistigen Regime von Hobbes‘ System zur Staatskirche und die Religion zur Staatsreligion im doppelten Sinne des Wortes. Über beide verfügt der absolute und kompakte Souverän. Die politische Theologie erzeugt eine Religion des Gehorsams. Sie bildet eine ‚beeindruckende‘ (wörtlich und bildlich gemeint) vertikale Macht, der die Untertanen ausgesetzt sind. 

Es ist kein Zufall, dass Carl Schmitts namensgebende Schrift ‚Politische Theologie‘ (1922) eine Schrift über die Lehre der Souveränität ist, in der er an Hobbes und die Staatsphilosophie der Gegenrevolutionäre von de Maistre, Bonald und Donoso Cortes anknüpft, welche die Diktatur rechtfertigen (S. 57- 70). Das Band zwischen Kirche und Souverän ist innig und eng, beide Seiten brauchen und stärken einander. Davon zehrten auch die langen Diktaturen von Franco und Salazar in Europa. 

Putin forciert ebenfalls diese diktatorische Politik auf seine Weise. Er zehrt von ähnlichen Legitimitätsquellen wie der frühere Zar. Seine zahlreichen Symbolhandlungen unterstreichen dies. Politische Theologie sieht zudem den politischen Gegner als Feind (Schmitt, Begriff des Politischen 1932) – ‚hostis‘ im Unterschied zu ‚inimicus‘. In diesem Fall müssen das für die postsowjetische politische Führung „Banderiwzi“ oder „Nazis“ sein. 

Indem Putin und jüngst Lawrow ausführlich vor der UN-Generalversammlung am 24. September den kollektiven Westen, insbesondere die USA und die Nato, als Feind bestimmten, der Russland zerstören will, verkehren sie den imperialen Angriffskrieg in einen Verteidigungskrieg, wodurch er für die Welt noch gefährlicher wird, da das Recht auf Atomwaffeneinsatz reklamiert wird (Medwedew), was Washington ernstnimmt. 

Bei dieser letzten Zuspitzung vor einem möglichen Weltkrieg kann Putin sich auf den Segen der Kirche und ihren Kampf gegen den geistigen Westen und seine politische Zivilisation stützen. Insbesondere der Patriarch Kyrill hat sich immer wieder deutlich für Putins Krieg als „Krieg gegen die Sünde“ ausgesprochen, obwohl es in seiner Kirche auch Ungehorsame und Protestierende gibt. Eine Spaltung mit den Orthodoxen, die dem Metropoliten von Kiew folgen, ist unausweichlich. Auch die orthodoxe Kirche ist kein Monolith. 

Bei diesen Konflikten geht es um existentiell Grundsätzliches: die ‚russische Welt‘ à la Putin gegen die dekadente westliche Welt, ein religiös—traditionelles System, das politisch instrumentalisiert wird, gegen ein säkular-humanistisches System, das von außen kommt. 
Die (Liberalisierungs-) Geschichte seit den 90er Jahren wird so gedeutet, dass der Westen versuche, Russland ein fremdes System aufzuzwingen. Den Amerikanern wird vorgeworfen, in der Ukraine ein „Anti-Russland“ einzurichten.

Russland muss sich demzufolge jetzt entscheiden, welchen Weg es gehen will: Putin sieht sich als historische Figur, die dem „Teufelsreich“ die Stirn bietet. Die entsprechend fatalen Geschichtsinterpretationen, welche letztlich die Zerstörung des Ukrainertums rechtfertigen, sind die Folge. 2014 bezeichnete Putin die Krim als „sakrales Land“, das er mit dem Tempelberg in Jerusalem vergleicht: „Christianity was a powerful spiritual unifying force that helped involve various tribes and tribal unions of the vast Eastern Slavic world in the creation of a Russian Nation and Russian state. It was thanks to this spiritual unity that our forefathers for the first time and forevermore saw themselves as united nation. All of this allows us to say that Crimea, the ancient Korsun or Chersonusus, and Sevastopol have invaluable civilisational and even sacral importance for Russia, like the Temple Mount of Jerusalem for the followers of Islam and Judaism. And this is how we will always consider it “ (Putin 2014, zitiert bei Nix 2017). 

Zivilreligiöses Modell 

Der scharfsinnige John Locke kann den theologischen Debatten seiner Zeit wenig abgewinnen. Er ist der Auffassung, dass das Christentum eine einfache Religion ist, die auf wenigen Glaubenssätzen beruht; sie ist keine esoterische Wissenschaft (The Reasonableness of Christianity 1665, Oxford 1999). Locke gehört zu den wenigen Philosophen, der allen Bürgern ein eigenes Urteil zutraut (Über den menschlichen Verstand 1690, 2 Bände, Berlin 1968). Das gehört zu seiner Religion des Vertrauens. 

Letztlich kann man sagen, dass Lockes liberale Zustimmungstheorie des Staates avant la lettre koextentiv ist mit der Religion des Bürgers. Seine politische Theorie, die, was oft vernachlässigt wird, aus theologischen Prämissen abgeleitet ist, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen (ich folge Nix 2017, S.76): 

1. Alle Menschen sind frei geboren und kein Mensch darf über den anderen Menschen herrschen (Zwei Abhandlungen über die Regierung 1689). 
2. Herrschaft des Menschen über Menschen muss begrenzt bleiben. 
3. Wird dieses Prinzip missachtet, so hat der Mensch ein Widerstandsrecht aus 
Gewissensgründen. 
4. Innerhalb politischer Gemeinwesen soll es ein Höchstmaß an Freiheit geben. 
5. Der christliche Common sense/Konsens bildet die Grundlage des Gemeinwesens. 
6. Zu diesem Konsens gehört die Religionsfreiheit und die Toleranz gegenüber Andersgläubigen, die allerdings nicht gegenüber Katholiken und Atheisten gilt (Ein Brief über Toleranz, 1689, Hamburg 1957. Diese Argumente haben lange durchschlagend gewirkt). 
7. Der Staat ist nur eine Regierung und an das Recht gebunden, es gibt keinen Souverän über dem Recht. 
8. Der Staat setzt keine Staatsreligion ein, er garantiert vielmehr die Religionsfreiheit. 

Locke kommt damit der modernen westlich-amerikanischen liberalen Bürgerreligion erstaunlich nahe. Was kommt also heute systematisch noch dazu? Wir sagen: die Toleranz der Demokratie und die Bürgerreligionsfreiheit. Toleranz ist dabei das Stichwort und Gebot der Stunde. Wie viele gegensätzliche Meinungen können wir aushalten? Was ist noch vertretbar? Wann wird auch der liberale gesellschaftliche Common sense/ Konsens übertreten? 

Diese Fragen sind nicht neu. Schon die historische Aufklärung hat über die Grenzen der Toleranz gestritten. Muss es uns wundern, dass (historisch) nach der Aufklärung, der ‚Nachaufklärung‘ (Lübbe) mit ihren institutionellen Errungenschaften, und einer weltweiten Medienöffentlichkeit, die durch das Internet schnell und schrankenlos geworden ist, sowie in Auseinandersetzung mit der aggressiven Gegenaufklärung und der verbreiteten Indifferenz der Spaßgesellschaft das Thema der Toleranz zentral wird. 

Genauer gesagt: als Streitfeld erst recht zentral wird, denn die Meinung hat es unter heutigen Bedingungen einfacher, sich als Wahrheit zu präsentieren. Politisch gilt es deshalb, Toleranz und Entschiedenheit bzw. Widerstand zu kombinieren, was eine schwierige Aufgabe ist. 

Bundespräsident Steinmeier kritisierte jüngst die Haltung der russisch-orthodoxen Kirche als „blasphemischen Irrweg“. Das erinnert an das klassische ideengeschichtliche Thema “ Der politische Philosoph in der Rolle des Ziviltheologen“ (Kleger/ Müller), das Hobbes, Rousseau, Spinoza und Locke gleichermaßen zutiefst bewegt hat und heute ebenso noch immer ein aktuelles Zeugnis für eine Variante der Zivilreligion ist. 

In seiner Rede vor der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe äußert sich Steinmeier als evangelischer Christ zum Ukraine- Krieg: “ Kein Glaube, der seinen Glauben und seine Vernunft noch beisammen hat, wird darin Gottes Willen erkennen können“ (Tagesspiegel, 1.9. 2022, S.4). 

Der Generalsekretär des Weltkirchenrates, der orthodoxe Priester Ioan Sauca, will nicht die „Sprache der Politik“ sprechen, sondern die „Sprache des Glaubens“. Er sieht die ÖRK als Plattform der Begegnung und des Dialogs, der die Kraft der Versöhnung habe. Sollen also die Russen an der größten internationalen Christenvereinigung mitreden? „Wir wollen versöhnen“ (Sauca), ja, aber nicht voreilig. 

Hier treffen unterschiedliche Auffassungen unversöhnlich aufeinander, siehe auch „Kirchenstreit um die Ukraine“ (‚Die Zeit‘, 1.9., S.62). Die ‚ Frankfurter Allgemeine‘ spricht von „Steinmeiers Bußpredigt“ (1. Sept., S.1), da der frühere Außenminister und enge Vertraute Schröders notwendigerweise auch schwerwiegende „Irrtümer einer ganzen Politikergeneration“ selbstkritisch ansprechen muss. Diese Selbstkritik gehört zur spezifisch bundesrepublikanischen Zivilreligion, die Steinmeier als Staatsoberhaupt repräsentiert (siehe den Blog vom 28.12.2021: Ein Repräsentant der bundesrepublikanischen Zivilreligion). 

Sie ist historisch voller Entschuldigungen und Bußrituale. Erst kürzlich (am 5. 9.) entschuldigte sich Steinmeier für das Staatsversagen in Fürstenfeldbruck anlässlich des 50. Jahrestages des palästinensischen Terrorangriffs auf die israelische Olympiamannschaft in München. Zivilreligiöse Messen wie das Innehalten mitten in der tiefsten Pandemiekrise (19.4.2021) manifestieren ebenfalls diese zurückhaltende Zivilreligion, die das Erinnerungsgebot hochhält (siehe den Blog vom 19.4.2021: Bundesrepublikanische Zivilreligion). 

Wir haben vier Bedeutungen von Zivilreligion unterschieden (neue Einleitung Kleger/ Müller 2011, S. Vlll): 
– Zivilreligion als religiöses Recht 
– Zivilreligion als höchste Werte (ultimate values) 
– Zivilreligion als transkonfessioneller Brückenschlag 
– Zivilreligion als Bürgerreligion oder Religion des Bürgers. 

Von Letzterer gibt es unterschiedliche Varianten (amerikanische, französische, deutsche, eidgenössische, israelische usw.), deren vergleichende Forschung ergiebig und für die politische Theorie lehrreich ist. Das mehr staats- oder bürgerbezogene Spektrum reicht bis zum Bürgerglauben der Demokraten (siehe Nix 2014, der auch ausführlich auf John Dewey eingeht). 

Welchen Bürgerglauben braucht die Demokratie? Siehe dazu den Blog vom 14. April 2021. Diese Frage übergreift freilich die Zivilreligionsforschung. Was für den christlichen Glauben gilt, gilt erst recht für die demokratische Bürgerreligion: Sie gründet in der Pluralität der Gedanken- und Bekenntnisfreiheit. 

Literatur: 

Kleger/ Müller, Alois (Hg.): Religion des Bürgers, München 1986, 2. Auflage mit neuer Einleitung , Berlin 2011 
Kleger/Müller: Der politische Philosoph in der Rolle des Ziviltheologen : in: Studia philosophica 1986, S.86-111 
Lévy, Antoine: Hat die Orthodoxie ein ‚zivilisatorisches Projekt‘? In: Staat und Zivilgesellschaft (Hg. A. Nix), Baden- Baden 2020, S.161-195 
Nix, Andreas : Über Ursprünge und Aktualität der Politischen Theologie, in: Das Narrativ von der Wiederkehr der Religion (Hg. H. Zapf/Hidalgo/Hildmann), Wiesbaden 2017 
Nix, Andreas : Bürgerreligion als ‚democratic faith‘, in: Bürgerschaft und demokratische Regierbarkeit (Hg. D’Amato/Karolewski), Baden-Baden 2014, S.87-116

Bildnachweis: IMAGO / Russian Look