Politische Philosophie mit Realitätssinn und pragmatischer Vernunft

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Politische Philosophie mit Realitätssinn und pragmatischer Vernunft

Was heißt ‚Realitätssinn‘, wenn wir nicht wissen, auf welche Realität wir uns beziehen sollen? Realität erscheint subjektiv als das Allereinfachste – jeder beruft sich darauf -, aber objektiv als das Komplexeste, Facettenreichste, je nachdem aus welcher Sicht davon die Rede ist. Wie beziehen wir uns also auf die Welt? Bei den folgenden Überlegungen soll ’nur‘ die politische Welt der Staaten und ihr gegenwärtiger Kampf um die Weltordnung im Vordergrund stehen.

Diese Welt in Bewegung lässt sich nur noch schwerlich in den gewohnten fixen Koordinaten wahrnehmen. Sie bedarf einer sich verändernden Sicht, nur schon von Europa aus: Osteuropa, Russland, China, Afrika sind wieder neu zur Kenntnis zu nehmen und in Rechnung zu stellen. Politische Relationen der Größe, Macht und Bedrohung sind zu beachten, und die jüngste Geschichte aufzuarbeiten.

Mit Realismus ist hier in erster Linie politischer Realismus gemeint, auf den sich die pragmatische Vernunft kluger Macht beziehen soll. Dabei gibt es durchaus Lektionen, welche die Machiavelli-Linie politischer Philosophie erteilen kann, zum Beispiel die, dass eine feindliche Macht nicht wegen wirtschaftlicher Interessen aufhört (die Illusion des Wandels durch Handel), feindlich zu sein. An der deutschen Chinapolitik erkennt man, welche Folgen die Missachtung dieses Grundsatzes haben kann.

Wegen der Geschäfte der deutschen Industrie redete man sich China lange schön. Die Handelsnation Deutschland will und muss mit China weiter zusammenarbeiten, das ist keine Frage. Aber wie? Deshalb wurde seit längerem eine China-Strategie gefordert, um aus den gröbsten Fehlern des Umgangs mit Russland zu lernen. Seit Juli 2023 liegt sie in 61 Seiten vor. Jetzt fordert die Regierung die großen Unternehmen dazu auf, “ ihre Risiken in China zu verringern“. De-risking und nicht Entkoppelung, das heißt: Diversifizierung, lautet nun die Devise.

China ist damit strategischer Rivale geworden im globalen Wettbewerb. China reagierte prompt: „Wir sind kein Gegner“. Von einer Chinapolitik werden Strategien erwartet, die unter den verschiedenen Ressorts abgestimmt sind. In Deutschland wird darüber hinaus auch eine „nationale Sicherheitsstrategie“ gewünscht und ein „nationaler Sicherheitsrat“ gefordert. Zumindest das Wort ‚Strategie‘ ist im Schwange. Womöglich erwartet man sich zu viel davon.

China hat eine Strategie, das ist keine Frage, vielleicht sogar eine Doppelstrategie, eine geschmeidige nach außen hin und eine sehr grundsätzliche der Kommunistischen Partei. Die Großideologie ist nicht verschwunden. Chinas maßlose ‚Wolfdiplomatie‘ im südchinesischen Meer ist offensichtlich und für seine Nachbarn bedrohlich. Seine Langfriststrategie ist darüber hinaus darauf angelegt, dass die USA einmal nicht mehr die Kraft und den Willen zur Eindämmung haben werden. Die Kritik am dekadenten Westen ist ideologisch ebenso verbreitet wie in Russland.

Für die Strategie des Pentagon andererseits ist China der strategische Rivale und Russland das aktuelle Problem. Viel wird davon abhängen, wie sich die ’strategische Partnerschaft‘ zwischen Russland und China, die einstweilen auch und vor allem die Freundschaft zwischen Putin und Xi ist, weiterentwickelt – wirtschaftlich, militärisch und politisch. Europa hat zumindest, nach seiner Russland-Naivität, auch seine politische China- Naivität verloren. Es wird wohl nicht wieder vorkommen, dass Deutschland einen führenden Roboterbauer wie Kuka an die Chinesen verkauft.

Der realistische Ansatz mag theoretisch (zu) einfach sein, er verlangt aber zumindest akribisches Faktenwissen in Wirtschaft, Technik und Militär. Da haben es gutmeinende Idealisten einfacher. Realismus darf auch nicht mit Bellizismus oder gar Imperialismus verwechselt werden. Nur selbstbezügliche Diskurse in bestimmten Milieus bei den Linken, an den Unis und in den Kirchen können so argumentieren. Die Frage ist vielmehr, wie man an Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit festhalten kann in einer unfriedlichen, ungerechten und gewalttätigen Welt. 

Aufklärung mit Realitätssinn und pragmatischer Vernunft bedeutet an der Verwirklichung der oben genannten Ziele festzuhalten, aber nicht unter Absehung der Realitäten, die gerade bei Überlegungen, auch ethischen, zu beachten sind, die ein Philosophieren in der Zeit (und nicht nur nach Kanon) bedeutet, wo es auf ‚kairos‘ und ‚Urteilskraft‘ ankommt – Aufklärung post et secundam Aufklärung.

Auch bei der gängigen Redeweise von einer multipolaren Welt gilt es, vorsichtig und realistisch zu bleiben. Denn die Kritik an US-amerikanischer Dominanz kann sich als Wunsch nach einer multipolaren Welt tarnen. Beim großrussischen Antiamerikanismus ist das offensichtlich. Wird die Welt aber dadurch gerechter oder friedlicher? Im 19. Jahrhundert mag dies einigermaßen funktioniert haben.

Heute gibt es rechte und linke Vorstellungen, dass den Großmächten eigene Einflusssphären zugestanden werden müssen, dann erst finde man zu einem neuen Gleichgewicht der (Super-) Mächte. Wo bleiben dann die kleineren Staaten? Wo die Nachbarn der Großmächte? Wo der Kampf der Demokratien gegen die Diktaturen?

Das wäre dann der übelste unkritische Realismus. Dagegen nimmt sich Präsident Bidens Plan einer Liga der Demokratien, von der er in Kiew und Vilnius sprach, die grösser werden sollte, wie ein helles Licht am Horizont aus. Aber ist eine Einheitsfront verschiedener demokratischer Länder auch realistisch? Und wie steht es mit dem Vorbild Amerika selber? Nächstes Jahr werden wir mehr wissen, gegenwärtig wird der ehemalige Präsident Trump für die ganze Welt nachvollziehbar und zurecht wegen einer Verschwörung gegen die Demokratie angeklagt, was ein historisch einmaliger Vorgang ist.

Bei diesem zweifelsohne notwendigen Bündnis der Demokratien kämen im 21. Jahrhundert noch zwei neue Faktoren hinzu: möglicherweise die Notwendigkeit einer asiatischen Nato (mit Japan, Australien, Südkorea, Indonesien u a.) gegen die chinesische Vorherrschaft und die Berücksichtigung von Staaten wie Indien, die zwar heftig umarmt werden, sich aber nicht in ein amerikanisch-europäisches Bündnis einfügen möchten. 

Auch das transatlantische Verhältnis zwischen Europa und den USA wird absehbar, nur schon wegen der gestiegenen Verteidigungsausgaben, neuen Spannungen ausgesetzt. Eine große Gefahr ist dabei in einem isolationistischen Präsidenten zu sehen. Die USA verfügt über den größten Binnenmarkt, eine eigene Leitwährung und über die mit Abstand stärkste Armee, die mit Kriegsschiffen und Flugzeugen überall auf der Welt imponiert, Ende Juli sichtbar im Persischen Golf. Der Kampf um die neue Weltordnung auf den Weltmeeren und in der Luft ist entbrannt. Auch Putin versucht am Tag der Marine in Sankt Petersburg mit 30 neuen Kriegsschiffen mitzuhalten (30.7.).

Der geforderte Realitätssinn muss sich unter aufklärenden Bedingungen (Aufklärung als Philosophie und Kultur) immer wieder bewähren und neu erarbeiten. Sein Wissen ist fallibel, seine Bedingungen verändern sich. Aufklärungsfähigkeit bedeutet formal: Desinteresse am Sosein der Wirklichkeit. Erst diese Voraussetzung ermöglicht wissenschaftliche Objektivität und subjektive Wahrhaftigkeit. Stattdessen kann man sich auch in die eigene Tasche lügen. 

Die Wirklichkeit bildet faktisch einen Widerstand. Was verhindert Aufklärung? Wer kann sich Aufklärung leisten? Wir müssen auf die Selbstkorrekturmöglichkeiten der liberalen Demokratien bauen und vertrauen, bei denen selbständige und mutige Individuen ebenso wichtige Bausteine wie Institutionen sind. Es ist kein Zufall, dass sich in unseren unübersichtlichen und unsicheren Zeiten auf verschiedenste Weise, esoterisch wie exoterisch, ein Verschwörungsdenken als gezielte Gegenaufklärung breitmacht. 

Im internationalen hybriden (Informations- und Propaganda-) Krieg umso mehr. Die Manipulations – und Fälschungsmöglichkeiten haben sich ebenso technisch potenziert wie die Überwachungsmöglichkeiten, die zum Beispiel von China in den Iran exportiert werden. Der Cyberspace kommt als neuer Raum hinzu. Die Kampfzonen verbreitern sich damit, das Sicherheitsdenken und mit ihm der (Sicherheits-) Staat nimmt objektiv immer mehr überhand, entgegen allen anderen besten Absichten.

Die Konstitutionalisierung internationaler Politik ist ein Ideal, das heute ferner scheint als noch in den 80er und 90er Jahren. Zwei Großmächte und die regionale Mittelmacht Iran müssen gegenüber den jetzigen Regeln als revisionistisch bezeichnet werden. Sie versprechen sich eine Stärkung ihrer Position aufgrund von Recht durch Stärke, ja Aggressivität nach innen wie außen, während die USA und Europa das Völkerrecht verteidigen, aber nicht durchsetzen können. Aus dieser Schwäche heraus (und eigenen Fehlern) gewinnt die Abschreckung wieder an Bedeutung.

Es läuft gerade sehr im Sinne der Realisten im Zusammenhang mit der weltweiten Militarisierung, ausgelöst durch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine., der sie angeblich „entmilitarisieren“ und „entnazifizieren“ soll. Realisten stellen indes keine einheitliche Schule dar, siehe nur die unterschiedlichen Positionen etwa von Kissinger oder Hodges (FAZ, 5.8.) zur Beendigung des Ukraine-Krieges. 

Will man ihn gewinnen oder nicht? Und was heißt das jetzt im Sommer 2023? Das sind die Fragen konkreter Urteilskraft in Bezug auf das reale Kriegsgeschehen, aus denen man durch ‚Kapitulationspazifismus‘ fliehen kann.

Selbstverständlich kann man den differenzierungsfähigen Realismus innerhalb der internationalen Beziehungen (IB) theoretisch zu einfach finden. Trotzdem ist es nicht zu simpel, sondern lehrreich und elementar (im Sinne der Aufklärung) festzuhalten, dass es meist im Sinne der Realisten lief. Wenn zum Beispiel der kalte Krieg nicht zum heißen wurde.

Die Sowjetunion respektierte den Westen nicht wegen der Ostermärsche und ihrer Aufforderung zum unilateralen Abrüsten. Gleichwohl sind Kants ‚Präliminarien des Überlebens‘ (im ‚Entwurf zum ewigen Frieden‘ 1795) mehr als aktuell, und der Nuklearpazifismus für die Menschheit weiterhin überlebensnotwendig.

Ziel wäre eine Konstitutionalisierung der internationalen Beziehungen, aber ohne die Realitäten auszublenden. Das war schon der Versuch von Roosevelt mit den Vereinten Nationen als „verbessertem Völkerbund“. Die großen Ziele zu realisieren, ist Aufgabe der politischen Urteilskraft. Da kommt es manchmal zu Widersprüchen, die strittig sind bis hin zur falschen moralisch-politischen Ausgrenzung des Gegners.

Man denke in Deutschland nur an die Nachrüstungsdebatte in den 80er Jahren oder an die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine 2022, die im Sommer 2023 wieder von entscheidender Bedeutung sind: Kampfflugzeuge und Marschflugkörper, wenn man den Krieg wirklich gewinnen will. Um ein größeres Übel zu vermeiden, muss manchmal ein kleineres in Kauf genommen werden, aber das wollen die ’schönen Seelen‘ (Hegel) nicht hören.

Wenn ein Verteidigungskrieg ein gerechter Krieg gegen einen mächtigen Feind, der einen vernichten will, ist, so hat das in der politischen Theorie Konsequenzen. Die letzte Entschlossenheit, der Ukraine beizustehen, scheint zu fehlen, was sich jetzt (kairos) in bestimmten militärpolitischen (Nicht-) Entscheidungen (phronesis) manifestiert.

Man verteidigt zurzeit das Völkerrecht wie noch nie und versucht auch Lehren aus dem Fall Milosevic zu ziehen, trotzdem versagt der UN-Sicherheitsrat als oberster Wächter des Friedens. Der Krieg ist ein großer Rückschritt und muss trotzdem mit all seinen Folgen bewältigt werden. Damit verstärken sich die Krisen wechselseitig, und die globale Unsicherheit wird insgesamt gefährlich grösser. Die Zukunft erscheint wie eine Wand.

Der notwendige Handlungsoptimismus ist bezeichnenderweise nicht mehr futurozentrisch, sondern zunehmend hyperaktiv und totalpragmatisch.

Es existiert ein Konflikt zwischen Frieden und Gerechtigkeit, der bis zum Herbst grösser werden könnte, je nach Kriegsverlauf: Die Ukraine kämpft für einen gerechten Frieden, während viele im Westen bereit sind, Frieden zu schließen (genauer: einen Waffenstillstand), auch wenn dieser ungerecht, das heißt ohne die Wiederherstellung des Status quo ante sein sollte.

Jelzin wollte Russland wieder zu einem normalen Nationalstaat machen, während Putin zweierlei erreichen will: die ‚Reichsidee‘ des Russkj Mir und die Regeln von Jalta. Solange er beides will, wird es einen gerechten Frieden mit Russland nicht geben. Kann Russland heute den Frieden zu seinen eigenen Bedingungen diktieren, wie Medwedew meint (8.August 2023)?

Die Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 fand auf Einladung der Sowjetunion statt. Stalin willigte ein, drei Monate nach der Kapitulation Deutschlands Japan den Krieg zu erklären. Es ging um die Zukunft Europas, die Besatzungszonen wurden aufgeteilt, auf Druck Churchills erhielt auch Frankreich eine Zone. Roosevelt ergreift die Initiative zur Gründung der UNO, was im Oktober 1945 offiziell in San Francisco geschieht. Ziel ist es, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, von dem Präsident Biden vor kurzem sagte, er sei wieder so nah wie zur Zeit der Kuba-Krise von 16. bis 29. Oktober 1962.

Starke Machtungleichgewichte begünstigen Kriege. Friedensordnungen von langer Dauer konnten oft nur nach langanhaltenden Konflikten etabliert werden. Zuerst mussten die Ungleichgewichte beseitigt werden: so beim westfälischen Frieden nach dem 30jährigen Krieg, der Wiener Kongress nach den Napoleonischen Kriegen und Jalta auf der Krim gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Während Versailles 1919 gescheitert war. Aus den Trümmern von Imperien wachsen bis heute immer noch Nationalstaaten wie die Ukraine, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen und sich als völkerrechtliches Subjekt konstituieren.

Präsident Roosevelt versprach sich viel von den United Nations, wie die Anti-Hitler Koalition seit 1942 hieß. Sie sollte auch Stalin einbinden. Stalin indessen wollte die Westverschiebung Polens. Er hatte Polen und Finnland überfallen sowie die baltischen Staaten annektiert. Der Holodomor war ebenso bekannt wie der Große Terror. Truman, der Nachfolger von Roosevelt, wurde schnell wieder ‚Realist‘.

Bildnachweis: istockphoto.com / mizoula