Pentarchie oder Anarchie?

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Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler geht von der These aus, dass eine Pentarchie der großen Fünf: USA, Europa als geopolitischer Akteur, Russland, China und das ehemals blockfreie Indien heute zur Befriedung der Welt beitragen könnte (ders., Welt in Aufruhr, Rowohlt 2023).

Sie müssen sich dabei auf Regeln verständigen können, die sie einhalten wollen, und ihren jeweiligen Einflussbereich friedlich halten. Ein einzelner Akteur kann das nicht, die westliche Hegemonie der USA sei zu Ende gegangen. Die Pentarchie wäre Hüter dieser Ordnung, wo heute die UNO versagt.

Dazu gehört, dass der Westen auf die Durchsetzung seiner universalen Werte verzichtet. Als Basis für diese verlässliche Ordnung um des Friedens willen gilt, dass jeder Seite die Festlegung ihrer je eigenen Wertvorstellungen überlassen bleibt.

Als Vorbild gilt der Friedensschluss von Münster und Osnabrück 1648 nach dem Dreißigjährigen Krieg, „in dem die Ordnung der Staatlichkeit, vor allem auch die in der Religionsfrage, auf der Grundlage einer wechselseitigen Respektierung von Werten der verschiedenen Konfessionen durchgesetzt hat“ (Münkler, in: Tagesspiegel ,13. Dez., S.12/13). 

Mit anderen Worten, es ist heute wieder vermehrt strategisch zu denken:“ Man kann keinen alles vernichtenden Krieg riskieren, um die westlichen Werte global durchzusetzen“ (a.a.O.). Die Menschenrechts-Idiosynkrasien erscheinen vor diesem Hintergrund nicht als sinnvoll. Diese Kritik wird vor allem an die ‚moralische Supermacht‘ Deutschland adressiert.

Dann müsste aber auch offen darüber diskutiert werden, dass Macht, auch kluge demokratische Macht (bestenfalls!) die Welt regiert und nicht das internationale Recht nach bestimmten moralischen Vorstellungen. Vor allem wäre über die polemogene Natur der Moral, die gerade in den internationalen Beziehungen destruktiv sein kann, noch einmal selbstkritisch nachzudenken. Ebenso über das Konzept der Technokratie, das bislang wenig verstanden wird.

Zur modernen Technokratie gehören, neben der Expertenherrschaft, Märkte mit ökonomischen Folgen dazu. Die sieben Magnificents (wie Google, Apple, Tesla u.a.) sind Treiber dieser Entwicklung und mächtiger als viele Nationen. Von Europa aus gesehen, ist niemand dabei; SAP findet sich auf Rang 114.

In unserer gegenwärtigen Weltunordnung sind konzeptuell-theoretische Vorstellungen des Friedens rein spekulativ. Wir können und sollen selbstverständlich endlos weiter diskutieren über einen Weltstaat in Anlehnung an Hobbes (1651), der aus seiner Sicht des Naturzustandes theoriekonsequent wäre, oder über Kants Entwurf zum ewigen Frieden (1795) als Gegenentwurf, der in den gegenwärtig handlungsunfähigen Vereinten Nationen teilweise Gestalt gefunden hat. Kant unterscheidet zwischen ‚foedus pacificum‘ (Friedensbund) und ‚pactum pacis‘ (Friedensvertrag).

Vielleicht auch – in Anlehnung an Kant – kann eine Weltrepublik als starker Minimalstaat (Höffe) oder eben die Pentarchieals machtrealistisches Konzept erörtert werden. Das ist Stoff für interessante Seminare, der sich mit einer Reform der Uno verbinden ließe. Zumindest Vorschläge, die vielleicht sogar aufgegriffen werden, resultieren daraus. Sie bleiben aber spekulativ, da real zu viele Mächte im Spiel sind. Die internationale Anarchie der großen und kleinen Leviathane ist in vollem Gange.

Warum sollte deshalb ausgerechnet die Pentarchie weltweiten Respekt als Ordnungsmacht geben können? Wäre Belgien auch ein Kandidat, wenn es Atomwaffen hätte? So viel ist in der Staatenwelt in Bewegung, dass alle großen Fünf nicht nur gegensätzliche Interessen haben sowie jeder von ihnen eigene Allianzen und Partnerschaften sucht ebenso wie viele andere aus der zweiten und dritten Reihe hinzukommen.

Es gibt tatsächlich gewichtige Nicht-Alliierte wie Saudi-Arabien, Brasilien, Indonesien u.a.. Zudem BRICS-Affine wie Ägypten u.a., die entweder rohstoffreich oder bevölkerungsreich sind. Die Welt, die wir zur Kenntnis zu nehmen haben, öffnet sich wieder. Nicht nur aufdringlich durch zahlreiche Militärputsche in Afrika. Dasselbe gilt auch positiv von Europa aus, das kaum Osteuropa oder den Balkan wirklich kennt, trotz den europäischen Revolutionen von 1989 und den Jugoslawienkriegen, die nicht weit zurückliegen.

Ebenso sehen wir gegenwärtig (hoffentlich) buchstäblich, dass militärische Abschreckung mit Flugzeugträgern offenbar noch immer funktioniert, zum Glück für Israel, Europa und Taiwan. 
Die Beziehung zu den USA bleibt deshalb ein Schlüssel, zu dem es keine Alternative gibt: weder militärisch noch technologisch, aber auch kulturell, bei aller Kritik. 

Die Vereinigten Staaten indessen werden dorthin gehen, wo es Wachstum gibt – nach Asien. Zweitens werden die USA immer weniger europa-orientiert, bedingt durch die Migration und die Demographie. Die Politiker-Generation von Albright, Biden und Blinken wächst nicht nach. Schon der Hoffnungsträger Obama war nicht auf Europa fokussiert. 

Ein führender Republikaner (Mitch McConnell) hat kürzlich seine zynische Wahrheit über den Ukraine-Krieg bei CBS ausgeplaudert, indem er sagte, die Ukrainer kämpfen für uns gegen unseren Hauptgegner, ohne dass wir einen Soldaten verlieren. Das immense Unterstützungsgeld bleibt trotzdem im Land für unsere Rüstungsindustrie. Das zweitgrößte europäische Land kämpft seit 2022 historisch als Geburt einer neuen Nation mit dem größten ‚europäischen‘ Land, das etwas anderes ist und mehr sein will als ein normaler Nationalstaat.

Russland ist lediglich militärisch stark, könnte aber keinen konventionellen Krieg gegen die Nato gewinnen. Das weiß auch Putin, weshalb er mit den Atomwaffen droht, was in Reaktion darauf Europa zwingt, sich als Verteidigungsunion zu stärken und möglicherweise sogar nuklear zu bewaffnen. Frankreich und Großbritannien gehen dabei schon eigene Wege.

Russland ist indessen wirtschaftlich nicht stärker als Belgien oder Italien. Kritische Beobachter diagnostizieren wieder, wie schon in den 80er Jahren gegenüber der Sowjetunion vor Gorbatschow, dass sich Russland zu Tode rüstet, welches immer mehr in den Krieg investiert und die Wirtschaft auf Kriegswirtschaft umstellt.

Tatsächlich ist Russlands weitere Entwicklung schwer kalkulierbar, bleibt aber vorerst auf der harten imperialistischen Linie Putins, die Ukraine entmilitarisieren und neutralisieren zu wollen. Das muss zu einem Konflikt mit der Nato und den USA führen und in einen möglichen dritten Weltkrieg, der Europa mitbetrifft.

China wiederum ist eine Wirtschaftssupermacht und holt militärisch weit schneller auf gegenüber den großen Atommächten Russland und den USA, als vermutet worden ist. Es hat begriffen, dass Seemacht Weltmacht bedeutet. Eigene Flugzeugträger sind schon gebaut und werden noch gebaut. Mit China muss die USA zweifellos zunehmend in verschiedenen Hinsichten rechnen. Der digitale Wettlauf zum Beispiel läuft zwischen den USA und China ab.

Aber kulturell ist das Riesenreich mit eigenen Traditionen gleichwohl ein Zwerg. Denn wer möchte so leben wie die Chinesen? Der moderne Überwachungsstaat wird dort monströse Realität als Sozialexperiment. Überall rumort hier die Freiheit, wie auch in Russland, das streng autoritär regiert wird, mit viel direkter physischer Gewalt in der männlichen Gesellschaft. 

Das demokratische Taiwan bietet ein attraktives Gegenmodell zu den Herrschaftsansprüchen der kommunistischen Partei Chinas, der größten Organisation der Welt, deren ideologische Macht wiederum auf dem Militär ruht.

Verteidigungsfähige Bündnisse gegen den großen Krieg

Das Problem einer neuen verlässlichen friedlichen Weltordnung ist deutlich komplexer als der Takt der fünf Mächte. Es muss von verschiedenen Regionen aus auf unterschiedliche Weise in verschiedenen Dimensionen angegangen werden. Die EU ist keine Einheit und noch kein weltpolitischer Akteur, was man im Nahost-Konflikt wieder deutlich sieht. 

Die USA wiederum ist innerlich zerrissen, was ein großes politisches Problem und eine offene historische Frage für sich ist, genauso wie die Zukunft Russlands auf seine Weise. Es orientiert sich einstweilen an der Vergangenheit und Putins politischer Lebenszeit als Präsident, wofür dieser die Verfassung ändern ließ. 

Seine Zustimmung in der Bevölkerung ist noch immer groß, während der Krieg brutaler und verlustreicher wird. Für Putin und seinen Todeskult – die Armee als sozialer Aufstieg und sinnvolles Leben – ist dies ein Zeichen von Stärke, für das Land die Vernichtung von Zukunft.

Überall bricht sich die historische Dimension wieder Bahn, nicht nur in Russland, auch in der Türkei, in Saudi-Arabien und anderen Ländern. Zukunftsvisionen gibt es kaum, und die Vergangenheit wird situativ beliebig interpretiert.

China geht demgegenüber beharrlich, zielstrebig und selbstbewusst seinen Weg, so dass die strategische Partnerschaft Russlands mit China gefährlich aggressiv werden kann: sowohl im südchinesischen Meer wie in Europa. Sie bleibt ein strategisches Schlüsselmoment im buchstäblichen Kampf um die neue Weltordnung, wohingegen das bevölkerungsreiche Indien als politischer Akteur überschätzt wird.

Indien zählen wir instinktiv zum ‚Westen‘ wegen seiner, elektoral gesehen, großen Demokratie. Tatsächlich ist die BJP eine hindunationalistische Partei, die Bose (1897-1945) verehrt und nicht Gandhi. Bose, kurzzeitig Gast von Mussolini, bevor er nach Berlin weiterreiste, war Inspirator einer indischen Einheit, die auf seiten der Japaner gegen die Briten kämpfte. Auch Indien verfügt über kein Gesellschaftsmodell, trotz großen Potentialen, die abwandern, das global attraktiv erscheint.

Dagegen werden nur erneuerte und neue verteidigungsbereite Bündnisse gegen den Krieg, sei es die erweiterte Nato oder Allianzen zwischen Japan, Südkorea, Philippinnen und Australien zusammen mit den USA größere Kriege noch verhindern können. Gefährliche Kollisionen gab und gibt es bereits. Immerhin existiert wieder eine Krisenkommunikation auf höchster Ebene zwischen China und den USA, siehe den Blog vom 15. November.

Die pragmatischen Lösungsschritte, so winzig sie vorerst noch sind, müssen in die richtige Richtung weisen, da es die eine große Welt-Formel angesichts der dynamischen Komplexität zahlreicher verschiedener Akteure nicht gibt. Die egoistisch-kooperative Interessenorientierung ist vorherrschend, was vielen Staaten auch wieder die Chance eröffnet, opportunistisch nach vorne zu rücken.

Die Konstitutionalisierung der Außenpolitik auf globaler Ebene findet nicht statt, stattdessen konkurrieren verschiedene Allianzen miteinander: Nato, Quad, BRICS und andere. Es ist dies ein Kampf der Mittel- und Großmächte in verschiedenen, zum Teil paradoxen Konstellationen.

Bildnachweis: IMAGO / China Foto Press