Neuer Schwung in der Sozialdemokratie

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Die neue Regierung ist kaum im Amt und Bundeskanzler Scholz vereidigt, wählt die SPD an ihrem Bundesparteitag am 11. Dezember ihre neue Führungsspitze. Klingbeil soll zusammen mit Saskia Esken neuer Bundesvorsitzender werden und Kevin Kühnert neuer Generalsekretär. Er hat den Wahlkampf von Scholz mit nur einem Ausrutscher (Liminski) erfolgreich gemanagt, in der Schlussphase spielte nur noch der markante Kopf auf den roten Wahlplakaten eine entscheidende Rolle, denn „Scholz packts an“. Diese Werbeagentur kann man nur empfehlen.

Darauf fokussierte der Generalsekretär schon den Wahlparteitag am 9. Mai, als Scholz noch deutlich zurücklag: „Wir können Schlussspurt“. Von Anfang an glaubte er aber ebenso wie Scholz und seine wenigen Getreuen unerschütterlich an den Sieg, was das Charakteristikum eines Glaubens ist, ob mit oder ohne Gott. Es ist der Fortschrittsglaube eines truly Sozialdemokraten, der auch durch Rückschläge und Niederlagen nicht zu erschüttern ist. Die Lehre zum Kanzler war für den 63-Jährigen lang, während die Studiengänge für Spitzenpolitiker heute zu kurz sind.

Die euphorische Freude der deutschen Sozialdemokraten am 8.Dezember ist verständlich und verdient, wenn man Weiß, woher sie 2020 gekommen sind. Niemand hätte es ihnen zugetraut.

Die frühe Planung des Wahlkampfs, die aus früheren Fehlern gelernt hatte, sowie die Einigkeit, Leidenschaft und Disziplin der Partei(mitglieder) hinter Scholz versammelt, haben es möglich gemacht. Mit bescheidenen 25,7%, das wollen wir nicht vergessen, ist die SPD wieder Kanzlerpartei geworden. Sie spürt Rückenwind und will, vom Wahlerfolg beschwingt, zu neuen Ufern aufbrechen – wahlkämpferisch wie paradigmatisch (nach August Bebel, Bad Godesberg und Willy Brandt).

Die beiden neu gewählten Vorsitzenden sprechen in ihren Reden von einem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“. Die Partei ist nunmehr nicht nur an einer Regierung beteiligt, sondern führt sie an. Sie kann zeigen, was sozialdemokratischer Fortschritt, der Veränderungen in Verbesserungen überführt, heißt, indem Deutschland führende Technologienation wird und Arbeitsplätze der Zukunft schafft, so Klingbeil. Und „sie wird das Land verändern, stärken und gerechter machen“, fügt Esken hinzu.

Beide, die sich seit 8 Jahren kennen, sind mit einem für sie guten Resultat (86,3% für Klingbeil, 76,7% für Esken) gewählt worden und wollen angesichts der bevorstehenden Wahlkämpfe im Saarland und vor allem in NRW (gegen Wüst als Nachfolger von Laschet) 2022 noch mehr erreichen. Kutschaty soll deshalb neuer Parteivize werden.

Es müssen ja nicht immer (fast) 100% Ergebnisse sein wie bei Platzeck und Schulz. Führen heißt heute zusammenführen, fortschrittlich integrieren, Brücken bauen und nicht Gräben aufreißen. Das sind die richtigen und wichtigen Worte und Taten von Scholz und Klingbeil. Typisch sozialdemokratisch ist die „Staatsfreundschaft“(so Sternberger zum 100 Geburtstag der SPD). Scholz spricht bezeichnenderweise vom Staat, der „Solidarität organisiert“. Organisieren ist sein häufigstes Verb, er will sogar den Fortschritt organisieren.

Man baut auf Staat, Geld und Organisation, womit man „gut regieren“ will. Der altneue Arbeitsminister Hubertus Heil hat das von Scholz eingeführte Kurzarbeitergeld verteidigt und ausgebaut, das nun bis März 2022 verlängert wird. Er wird auch das Herzensprojekt: den Mindestlohn von 12 Euro, umsetzen. Typisch sozialdemokratisch ist ferner sein Vorhaben staatlich finanzierter Auszeiten für die Weiterbildung, denn ein fairer Strukturwandel hat verschiedene Aspekte für die Arbeiter.

Vor der Rede von Scholz hat Kevin Kühnert das Wort, der als neuer Generalsekretär gewählt werden soll. Er hatte sich während des Wahlkampfs auffällig zurückgehalten, hat aber wie andere Parteilinke seine Schwierigkeiten mit den Liberalen und folglich mit dem Einfluss der FDP auf die neue Fortschrittsregierung. Der frisch gebackene Bundestagsabgeordnete will etwa beim Bürgergeld nachschärfen, das die SPD im Wahlkampf versprochen hatte. Auf die Bundestagsdebatten der neuen verjüngten Fraktionen darf man gespannt sein.

Kühnert wird mit 77,8% der Stimmen gewählt, was ein ehrliches Ergebnis ist, das, wenig überraschend, auf demselben Niveau liegt wie bei Esken. Für die linke Kritik bleibt genügend Raum bei einer grünen sozialliberalen Koalition. Ein Linksbündnis war lange Zeit die Wunschkoalition vieler. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gibt es sie wieder. Eine Ampelkoalition auf Bundesebene ist freilich schwieriger.

Die Rede von Scholz, dem „wichtigsten Politiker des Landes“ (Klingbeil) , ist neben den Wahlen der neuen Parteispitze der Höhepunkt des hybriden Parteitags. Für Scholz ist die Zeit der Sozialdemokratie nicht zu Ende (Dahrendorf). Die 20er Jahren werden vielmehr „an der Seite Bidens“ und zusammen mit erfolgreichen sozialdemokratischen Parteien in anderen Ländern auch und gerade in Europa (Schweden, Finnland, Portugal, Spanien) zu einem neuen Aufbruch führen. Bei dieser Einschätzung ist viel, zu viel Zweckoptimismus im Spiel und wenig Analyse.

Scholz spricht auffällig häufig von „unserem Auftrag“. Den sieht er zu recht darin, „die richtigen Freunde der einfachen Leute“ im Gegensatz zu den simplifizierenden Populisten zu werden. Dies will er erreichen, indem der geforderte Respekt materielle, soziale und politische Konsequenzen hat. Den Mindestlohn versteht er als „moralische Aussage“. Ob dies Ansage genug ist, bleibt abzuwarten.

Sein Regierungsversprechen ist es, dass es für die Einzelnen, die in Sorge sind, gut ausgehen wird. Das erinnert an den christlichen Glauben, nun ohne Gott: ich verspreche euch, es wird nicht einfach und ohne Schwierigkeiten, aber es wird gut ausgehen. Der Slogan im Wahlkampf lautete: Soziale Politik für dich. Angesprochen werden damit viele verschiedene Individuen, deren Bildungs- und Aufstiegsorientierung unterstützt werden soll entgegen den Abstiegsängsten der Mittelschicht. Auch das ist ein Versprechen, das Aufstiegsversprechen der (amerikanischen) liberalen Demokratie. Zumindest der amerikanische Traum erweist sich als robust.

Die Sozialdemokratie verheißt mit einer im besten Sinne schlichten (wenn auch praktisch anspruchsvollen) politischen Philosophie Zuversicht und Sicherheit im Wandel, die viele auch nicht-Sozialdemokraten anspricht. Sie ist verständlich und wirkt verlässlich. Das gemahnt an Helmut Schmidt, den Macher und Pragmatiker, der Politik als pragmatisches Handeln definiert hat, geleitet von sittlichen Zwecken (Kant, Weber, Popper). Bei Scholz heißen diese Zwecke Respekt und Zusammenhalt, was er dauernd wiederholt. Schmidt warf seinem protestantisch-ethischen Widersacher in der Philosophie der Sozialdemokratie Erhard Eppler vor, dass er keine Wahlen gewinnen könne. Eppler war der Öko-Vordenker der SPD.

Eine gespaltene Gesellschaft darf es nicht geben, eine Klassengesellschaft mit einer neuen Unterklasse auch nicht. Das Sicherheitsversprechen der modernen Sozialdemokratie, die per se sozialliberal und nicht sozialkonservativ ist, demonstrieren nicht zufällig auch die Ministerien, welche die Partei in voller Verantwortung übernommen hat: Arbeit und Soziales, Gesundheit, Innere Sicherheit, Verteidigung, Bauen und Wohnen. Die Leistungen in diesen Bereichen werden in vier Jahren von allen in schlichten Zahlen gemessen werden können. 400 000 Wohnungen zum Beispiel und eine Mietbremse, die funktioniert. Fake facts dürften es hier schwer haben.

Das ist ein demokratisches Risiko. Scholz fasst aber schon jetzt mehr als eine Legislaturperiode ins Auge, was die Ernsthaftigkeit seiner Fortschrittsphilosophie unterstreicht, die tatsächlich ein Wagnis ist. Sie ist mehr als ein Politikwechsel, sondern ein Fortschrittsglaube mit Plan unter schwierigen Umständen und mit verschiedenen Partnern, der zum Aufbruch motivieren kann. Das ist heutzutage viel und mit neuer Anstrengung von allen Seiten verbunden, wie schon die Aushandlung des Koalitionsvertrages gezeigt hat. Verlangt ist eine neue Frische des gemeinsamen Suchens und Lernens.

Allerdings ist der Aufbruch real zunächst und vor allem nur der Aufbruch einer Partei, die letztes Jahr noch auf dem Boden lag. Die Wechselstimmung in der deutschen Bevölkerung blieb stets verhalten, nüchtern, realistisch und skeptisch, woran auch die Grünen generell nichts ändern konnten, nicht einmal bei der Jugend. Auch die Erwartungen an die neue Regierung sind nach allen Umfragen nicht groß, geschweige denn überschwänglich, kein Vergleich also mit der Aufbruchsstimmung durch den Machtwechsel von Willy Brandt, der breite Hoffnungen weckte und viel in Gang brachte.

Der neue Koalitionsvertrag weckt indessen Erwartungen und die objektiven Herausforderungen, an denen kein Weg vorbeiführt, sind groß. Der Aufbruch, der zum Glück kein Bruch ist mit wichtigen Kontinuitätslinien bundesrepublikanischer Politik, was die Antrittsbesuche in Paris, Brüssel und Warschau einmal mehr verdeutlichten, ist nötig und ehrgeizig, wenngleich er durch die dramatische Pandemiekrise mit mehr als 400 Toten täglich schwer überschattet wird.

Die dringlichste Pflichtaufgabe der neuen Regierung konzentriert sich deshalb auf das Gesundheitsministerium, in das ein eigensinniger sachkundiger Professor quasi per Volksentscheid gewählt worden ist. Sollen die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts wieder ein sozialdemokratisches Jahrzehnt werden, muss jedoch die SPD in vier Jahren außerdem wieder deutlich mehr als 25% der Stimmen erreichen.

Bildnachweis: IMAGO / Sven Simon