Bundespräsident Steinmeier appelliert in seiner Rede an die Nation am 28. Oktober an die „widerstandsfähigen Bürger“, er spricht von „Widerstandsgeist“ und „Widerstandskraft“. Das sind neue zentrale Worte im politischen Vokabular der repräsentativen Bundesrepublik.
Angesprochen ist damit die Bürgersouveränität, die letztlich die Demokratie der Bürgerinnen und Bürger selber verteidigen muss. Die lernende Demokratie ist in die Hände der Bürgerinnen und Bürger zu geben (Kleger, Demokratisches Regieren 2018). Das ist eine langfristige und nicht nur politische Aufgabe.
Die Rede Steinmeiers ist eingebettet in die Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand gegen einen übermächtigen Aggressor, der, wenn er nicht gestoppt bzw. militärisch besiegt werden kann, „Appetit“ auf weitere kleine Staaten wie Moldawien, Georgien, das Baltikum u.a. hat.
Diese sollen sich nun auf Deutschland im Rahmen des westlichen Bündnisses verlassen können, das meint die vielzitierte verteidigungspolitische Zeitenwende. Und auf die Demokratien in den Ländern wird man sich genauso im geopolitischen Großkonflikt des 21. Jahrhunderts ‚Demokratien vs. Autokratien‘ verlassen müssen. Das gilt selbst für die USA, GB, Italien, Schweden, Frankreich und andere wichtige Länder! Es ist keine Selbstverständlichkeit und eine Voraussetzung europäischer und internationaler Politik, die etwas bewirken kann.
Von ‚Epochenbruch‘ würde ich nicht sprechen, aber von schwierigen neuen Aufgaben vor allem in der Sicherheits- und Außenpolitik. Auch für die Wirtschaft gilt das. Mit einer Arbeitsgruppe allein wie bei den Koalitionsverhandlungen für die Fortschrittsregierung wird man nicht mehr auskommen, auch fünf werden nicht genügen, wenn man die Problematik der EU noch hinzunimmt.
Inzwischen ist das neue 80seitige Strategiepapier des Pentagon erschienen, in dem zwar Russland als „akute Bedrohung“, China aber als „größte Bedrohung für die internationale Ordnung“ bezeichnet wird: „Es ist das einzige Land, welches dafür eine Strategie verfolgt und auch die Kraft dazu hat“ (Austin, 27.10). Selbst im Krieg geht es um Politik, das gilt für Putin wie für Xi, für Nordkorea wie Iran usw.
Als Konsequenz aus der Kuba-Krise 1962, die in letzter Minute am 27. Oktober abgewendet werden konnte, ist die Gefahr von Politik im Atomzeitalter (hier scheint mir für einmal das Wort ‚Zeitalter‘ berechtigt) bewusster geworden, der Stopp von Atomtests, die Ausweitung der Atommächte und die Beseitigung der Atomwaffen (‚Nuklearpazifismus‘) sind indessen gescheitert.
Das neue Pentagon-Papier spricht diese Tatsachen, die gerne verdrängt werden, wieder an, was auch Europa unter dem amerikanischen Sicherheitsschirm zur Kenntnis nehmen muss. Die Rüstungskontrolle muss weltpolitisch wieder Priorität bekommen.
China hat Zeit. Xi sagte immer offen, dass das ‚Eine China‘ sich Taiwan wieder einverleiben werde, das sei nur eine Frage der Zeit. Chinas ideologische politische Führung ist empfindlich bei jedem Zentimeter, wenn es um Machtansprüche geht: das haben jüngst die Besuche ausländischer Politiker auf Taiwan wieder gezeigt, wie früher jede Fahne für Tibet und jede Einladung an den Dalai Lama.
Mit China ist politisch nicht zu spaßen, und trotzdem müssen wir für eine künftige Weltordnung der friedlichen Koexistenz Strategien finden und können nicht ständig hysterisch und orientierungslos reagieren. Das gilt auch für den größten Flächenstaat der Erde: Russland. Wie gesagt: Dafür brauchen wir weit mehr als 5 (parteipolitische) Arbeitsgruppen. Das ganze kollektive Wissen muss dringend zusammengeführt werden, wenn es künftig um die neuen Präliminarien des Überlebens geht in Bezug auf Krieg, Klimawandel und Umweltzerstörung.
Kommen wir aber wieder zurück zu unseren vergleichsweise bescheidenen Begriffen „Widerstandsgeist“, „Widerstandskraft“ und „Bürgersouveränität“ (den Steinmeier nicht benutzt). Steinmeier hätte stattdessen modisch auch einfach „Resilienz“ sagen können (das „Zeitalter der Resilienz“ ist ja schon ausgerufen worden) und müsste dann nicht beschwerlich über legalisiertes Widerstandsrecht, gerechte Kriege, zivilen Ungehorsam und Widerstand im Rechtsstaat nachdenken. Schon die Ideengeschichte dieser Begriffe ist verwickelt, erst recht sind es die aktuellen Anwendungsdiskurse.
Antonio Gramsci (1891-1937) sprach vom Widerstandsgeist des „senso commune“ (sensus communis, common sense, gesunder Menschenverstand) im Kampf gegen den heraufkommenden Faschismus, dem er sich ausgesetzt sah (‚Philosophie der Praxis‘). Hannah Arendt (1906-1975) sprach als politische Theoretikerin davon, dass den Deutschen der gesunde Menschenverstand fehle.
Oder meint Steinmeier in seiner Rede mit Deutschlands „starker Mitte“ heute genau das?! Das wäre beruhigend, denn Ränder gibt es immer. Gesunder Menschenverstand ist keine Haltung der Überheblichkeit, aber auch nicht Populismus. Er bemüht sich, objektiv und ehrlich zu sein, er ist auch keine Klassenfrage. Dazu ist er zumindest fähig, das ist das Entscheidende, vielleicht gerade auch in außergewöhnlichen extremen Situationen.
In der deutschen Philosophie (auch in der Kritischen Theorie der Bundesrepublik wie im DDR- Marxismus) war der ’senso commune‘ kein Thema. Selbstverständlich ist er auch immer ein umstrittenes Thema im Alltag wie in der Politik, denn niemand hat ihn für sich gepachtet. Er ist auch nicht einfach gegeben: jedermann/frau kann sich auf ihn argumentativ beziehen und ihn streitbar beanspruchen, verteidigen oder bestreiten.
Wenngleich er gegen Fanatismus im Überzeugtsein und Wahnsinn immunisiert, sollte er offen und lernfähig bleiben. Damit sind wir beim notwendigen und oft mühsamen Meinungs- und Parteienstreit der Demokratie, an dem kein Weg vorbeiführt, durch ihn muss man vielmehr hindurch. Diesen Streit kann man gewinnen, aber auch verlieren. Zur demokratischen Bürgersouveränität gehört eine robuste Politik- und Staatsfähigkeit. Zu ihnen beizutragen, ist Sinn und Aufgabe politischer Theorie, die man mehr pflegen sollte.
Bei allen Widersprüchen und Enttäuschungen gibt es Grundbegriffe der Demokratie, an die sich jeder halten kann. Sie erfordern eine Einübung in der Praxis. Dabei geht es nicht darum, bei allem Wettbewerb, sich ständig als bessere Demokraten überbieten zu müssen – intern wie nach außen. Mehr Wahrnehmung und Selbstkritik ist genauso notwendig wie eigene Anstrengung und Geduld.
Und man darf sich nicht vereinnahmen und von eigenen Erfahrungen, Bemühungen und Erfolgen von anderen enteignen lassen. Das gilt zum Beispiel für die Lebensleistungen der Menschen in Ostdeutschland, aber auch ganz allgemein und überall. Das gehört grundlegend zur demokratischen Bürgersouveränität.
Die wirklich ‚Rechten‘ dagegen, die revolutionären Rechten, verwenden „Ostdeutschland“ inzwischen sezessionistisch als politischen Kampfbegriff. Das ist nicht nur undemokratisch, es ergibt auch keinen Sinn für die vielen und vielfältigen Menschen in den neuen Bundesländern mit ihren unterschiedlichen Prägungen und Leistungen.
Steinmeiers Motto ist richtig: Alles stärken, was uns verbindet. Das ist auch der Weg politischer Aufklärung, der in der heutigen Welt bestehen kann. Bündnisfähigkeit ist immer wieder herzustellen, was nur unter Bedingungen der Freiheit, Toleranz und Kompromissfähigkeit gelingen kann – im Kleinen wie im Großen.
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