Kriegsangst und Friedenspolitik

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Die kleine Schweiz, die in der internationalen Politik selten etwas wagt, versucht derzeit alles, um eine von Selenski und Jermak angeregte Friedenskonferenz zu organisieren (siehe NZZ, 15. März, S.24).

Die diplomatischen Initiativen erhalten positive Signale aus China, Russlands engster Partner, und der EU, die wohl lieber nicht die Türkei oder Saudi-Arabien in der Rolle des Vermittlers sieht. Zugleich können sich wohl die Chinesen besser einbringen ohne die Vermittlung der USA, die andererseits so oder so mitentscheidend werden. Wird Trump aktiv die Pax Americana verabschieden? Wird er wie einst die Briten mit dem Empire einen geordneten Rückzug antreten? Das ist schwer vorstellbar.

Hierzu gab der chinesische Botschafter Wang Shihting, der in den USA studiert hatte, kürzlich ein aufschlussreiches Interview:“ Wir hoffen, dass die Schweiz ein neutrales Land bleiben wird“ (NZZ, 18. März). Er spricht von „doppelten Standards bei der Beurteilung Chinas durch westliche Staaten“, kritisiert die hegemonialen Bestrebungen der USA, den Handelskrieg und den „Rückfall in die Mentalität des Kalten Krieges“, das heisst: eine Welt der Blöcke statt Kooperation und friedliche Koexistenz. Die Teilnahme an der Friedenskonferenz in der Schweiz werde wohlwollend geprüft, man verteidige schließlich die “ territoriale Souveränität“ genauso wie die Uno-Charta. Der chinesische Botschafter spricht auch von der „Menschenrechtskatastrophe in Gaza“.

Die starke Betonung der nationalen Souveränität durchzieht auffällig das gesamte Interview. Neben dem freundlichen Kooperationswillen, auch und gerade mit Europa, die Schweiz hat als einziges Land ein Freihandelsabkommen mit China, springt die selbstbewusste Entschlossenheit ins Auge , wenn es um die Ein-China-Politik geht. Das gilt für die Taiwan-Frage wie im Konkurrenz-Verhältnis zu den USA (Huawei-Konflikt). Darüber sollte sich niemand Illusionen machen.

Die Lage ist schwierig, und unsere eigenen Überlegungen bleiben vor diesem zeithistorischen Hintergrund (Russland, China, USA) lediglich spekulativ. Mitentscheidend für den Erfolg der Schweizer Konferenz dürfte aber auch sein, Brics-Länder wie Brasilien und Südafrika auf seine Seite zu ziehen. Mit Saudi-Arabien ist die Schweiz in Kontakt. All diese Länder sind wichtig, um letztlich Russland in den einzigen Friedensprozess, der derzeit läuft ( sozusagen als Uno-Ersatz), noch einbeziehen zu können.

Von Russland gibt es keine ermutigenden Signale. Der Zehn-Punkte-Plan von Selenski, den Sicherheitsberater aus 83 Nationen in Davos diskutierten (siehe den Blog Friedensgipfel in der Schweiz? 24. Januar 2024), ist für Moskau keine Gesprächsgrundlage. Erst jüngst machte sich Medwedew lustig über die „Schweizer Friedenskonferenz“ und positionierte seinen eigenen 10-Punkte-Plan als Gegenposition, welche die vollständige Annexion der Ukraine vorsieht.

Derweil spielt die Uneinigkeit des Westens ohne amerikanische Führung den Kriegszielen Russlands, die man auf dem Schlachtfeld als Erschöpfungskrieg durchsetzen will, in die Hände. Neben Russland, wo Putin seine Kriegsposition – er denkt nicht daran, eroberte Gebiete zurückzugeben (18. März auf dem Roten Platz) – mit den Wahlen legitimatorisch noch einmal gefestigt hat, wofür man ihm wirklich nicht gratulieren muss, ist die ebenso zentrale Rolle der USA leider unklar. Kaum einer weiß, welche Pläne sie vor den Präsidentschaftswahlen im November verfolgen.

Die diplomatische Drähte sowohl zu China, Russland und den USA bleiben indessen intakt. Ein Eigentor hat sich freilich die Schweiz selber geschossen mit ihrer Forderung (was auch auf der Liste von Selenski ist) die Reparationszahlungen an die Ukraine aus eingefrorenen russischen Geldern zu begleichen. Das ist eine Forderung, die politisch sowohl vom Nationalrat wie vom Ständerat erhoben worden ist. Prompt wurde die Schweizer Botschafterin ins Moskauer Außenministerium einbestellt.

Welche Friedensformel?

In Deutschland sorgt die Taurus-Debatte weiterhin für Aufregung. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich (eine wichtige Position) stellte im Bundestag noch einmal klar, dass er im Grunde als ‚Friedensformel‘ so etwas wie ein Abkommen Minsk III wünscht. Das hieße: Zuerst den status quo einfrieren (was hieße das wiederum für die besetzten Gebiete?) und dann die Zeit für einen nachhaltigen Frieden laufen lassen (in welcher Konstellation ?).

Die Minsker Abkommen sind in der Ära Merkel maßgeblich von SPD-Angehörigen wie Außenminister Steinmeier ausgearbeitet worden. Der französische Staatspräsident Macron hat lange und zuerst an den Erfolg einer Appeasement-Politik geglaubt. Seine Sätze, dass es eine „gesichtswahrende Lösung“ für Putin geben solle, sind noch in frischer Erinnerung.

Doch jetzt vollzieht er eine Kehre und will offenbar nicht als “französischer Chamberlain“ in die Geschichtsbücher eingehen. Das wollte Premierminister Blair, moralisch guten Willens, auch, als es 2003 in einer “Koalition der Willigen“ um den Sturz Saddam Husseins ging. Selbst der kluge Ralf Dahrendorf war dieser Auffassung. Das demonstriert: auch das geschichtsmoralisch aufgeladene Anti-Appeasement-Argument ist nicht immer richtig und kann ebenso verblendet sein gegenüber den Fakten.

Für ein Minsk II, das 2014/2015 Hollande mit Merkel, Putin, Lukaschenko und Poroschenko mitverhandelt hatte, ist Macron jedenfalls nicht mehr zu haben. Polen sowieso nicht. Scholz und Teile der SPD wollten womöglich schon immer ein Minsk lll und wollen es immer noch. Das ist auch eine Art strategische Ambiguität. Nach der Mützenich-Rede ist das deutlicher geworden trotz der „Zeitenwende-Rede“.

Diese war nötig, weil Deutschland über keine strategische Souveränität verfügte. Es bewegt sich im Fahrwasser der Schutzmacht USA. Scholz suchte deshalb bei schwierigen Entscheidungen stets die persönliche Abstimmung mit Präsident Biden. Beide gingen zusammen den vorsichtigen Weg der roten Linien, die immer etwas verschoben wurden (Gepard, Kampfpanzer Leopard und Abrams, Himars, Atacms, F-16).

Scholz, dessen Führung Biden ausdrücklich lobte, wurde andererseits als Zauderer und Verzögerer harsch kritisiert. Der ehemalige britische Verteidigungsminister Wallace bezeichnete ihn als „falschen Mann zur falschen Zeit“, und der ehemalige Nato-Generalsekretär Rasmussen, der eng mit Selenskis Stabschef Jermak zusammenarbeitet, ging persönlich mit ihm ins Gericht: „Europa muss auf Kriegswirtschaft umstellen“ (NZZ, 6. März S.5).

Scholz muss aber auch auf seine Koalitionspartner in der Regierung Rücksicht nehmen, die ihn meistens zu seinen militärpolitischen Entscheidungen drängten. Auf der anderen Seite wurden in der breiten Öffentlichkeit seine Führungsqualitäten in der notorisch zerstrittenen Dreier-Koalition vermisst, die er als Kanzler mit Richtlinienkompetenz wahrnehmen kann. Ein Kanzler Schmidt, sein Hamburger Vorbild, ist er nicht, und ein Churchill mit seiner britischen militärpolitischen Mentalität schon gar nicht. Letzteres darf auch kein Vorwurf sein.

Bei der besonderen Waffe, dem Marschflugkörper Taurus mit grosser Reichweite, hat er nun nach langem Drängen von ukrainischer Seite ( die Diskussion läuft schon seit November 2023) ausnahmsweise das Schrödersche Basta ausgesprochen und begründet: „Ich bin der Kanzler.“ Bei der zweiten Taurus-Abstimmung im Bundestag und nach der Mützenich-Rede, welche die Außenministerin mit Kopfschütteln begleitete, wurden jedoch tiefere Risse in der Regierungspolitik trotz loyalem Abstimmungsverhalten sichtbar, die mit der Friedens- und Russlandpolitik der SPD zu tun haben.

Die deutsche Bevölkerung scheint bei dieser existenziellen Frage ‚Krieg und Frieden‘ Scholz, dem „Friedenskanzler“, folgen zu wollen. Laut Umfragen sind es mehr als 60%. Rasmussen, der militärpolitische Kritiker von Scholz, moniert, dass man in Kriegszeiten keinen Umfragen folgen sollte.

Er sieht den Kanzler deshalb nicht als geeigneten „Anführer“, das ist der alte Konflikt zwischen Militär und Politik in der Demokratie. Viele Bürger schätzen indes gerade die Besonnenheit von Scholz in diesen Fragen, der schließlich auch die politische Verantwortung für das Land trägt. „Führt er das Land in die richtige Richtung“, ist wieder zur Frage aller Fragen geworden. Auch der offene Expertenbrief an Scholz zur Taurus-Lieferung läuft ins Leere („Herr Scholz, kommen Sie Ihrer Pflicht nach“, in Welt, 15.03.2024).

Der Vorteil im Denkansatz von Scholz und Mützenich liegt darin, dass sie der Angst vor einem Atomkrieg in Deutschland Raum geben können. Das ist populär, insbesondere in Wahlkampfzeiten und ein zusätzliches Plus im Osten des Landes, etwa in Sachsen, wo die Partei unter der 5% Hürde liegt.

Überraschend deutlich wird Jürgen Kaube, der Herausgeber der „Zeitung für Deutschland“ und Autor großer Bücher über Max Weber und Hegels Welt: „Rolf Mützenich ist mit solchen Einlassungen eine verächtliche Figur deutscher Politik. Die Sozialdemokraten sollten sich überlegen, wie viel Feigheit sie als Rationalität tarnen können“ (FAZ, 19. März, S.9).

Es ist aber fraglich, ob es in Deutschland eine politische Autorität geben könnte, die Bevölkerung von einem mutigeren Kurs zu überzeugen bei einem Totalausfall der USA , wovon ich nicht ausgehe, nicht einmal bei einer Präsidentschaft von Trump. Schwarz gemalt wird viel.

Scholz spricht immerhin als Realist, wenn er von Deutschland als „Mittelmacht“ spricht (Schmidt). Das ist gut so. Der potenzielle Kanzler Friedrich Merz erwägt sogar schon eine eigene Atombewaffnung Deutschlands und sein potentieller Verteidigungsminister Kiesewetter spricht davon, „den Ukraine-Krieg auf Russland zu übertragen“.

Militärexperten sollten nicht so leichtfertig reden. Das ist nicht gut, womöglich befeuern sie noch Politiker, die von Militär gar nichts verstehen. Der staatsmännisch gewordene Merz beschwört zwar Adenauer, hat aber bei weitem nicht dessen Statur und Aura.

Andererseits könnte die Politik der Angst von Scholz und Mützenich, der die SPD-Fraktion und Leitung bis in den Wahlkampf in den östlichen Bundesländern hinein folgt, nicht nur zu einer „gewaltigen Schlacht“ ( Bundestagswahlkampf 2025) in Deutschland führen, sondern auch zu einem Gegensatz zu Polen und Frankreich. Danach sah es allerdings beim Treffen des Weimarer Dreiecks in Berlin am 15. März in Berlin nicht aus. Es war der polnische Ministerpräsident Tusk, der den Ton angab. Er sprach von „falschen Gerüchten“ und sorgte für ein harmonisches Bild nach außen, was eigene Standpunkte nicht ausschließt. Und vor allem traf er den Nagel auf den Kopf: „weniger Worte und mehr Munition“, jetzt und nicht erst in sechs Monaten!

Ein zweiter Kalter Krieg?

Macron will sich in seinem Vokabular „keine Grenzen mehr auferlegen“ und will auch Bodentruppen in der Ukraine nicht prinzipiell ausschließen, so am Vorabend seines Treffens in Berlin im Französischen Fernsehen (14.3). Er spricht von „strategischer Ambiguität“, ein gefährlich schwebender Begriff, den die Amerikaner auch bezüglich Taiwans verwenden.

Was heißt er? Den Feind im Unklaren lassen einerseits, vielleicht aber auch die eigene Wankelmütigkeit und Angst verdecken andererseits, aus der in der Geschichte oft Unzuverlässigkeit resultierte, wenn es darauf ankam („mourir pour Danzig?“).

Den Vorwurf des Appeasements will man sich jedenfalls nicht gefallen lassen, stattdessen wird nun explizit einmal mehr an Churchill , die richtige Führungspersönlichkeit im Krieg erinnert, die nach dem Krieg abgewählt wurde – am 2. August unterzeichnete schon Attlee das Potsdamer Abkommen.

Und zwar an Churchills Rede in Fulton 1946, die den Kalten Krieg eröffnete. Soll das bedeuten, dass man einen zweiten Kalten Krieg will? Und was heißt das heute? Wo China kritisiert, dass aus der „Mentalität des Kalten Krieges“ endlich auszubrechen sei ( siehe auch das Interview mit dem chinesischen Botschafter, oben a.a.O.).

Eric Gujer wiederum, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, vertritt die These, dass der Kalte Krieg das gute Beispiel sei, um zu zeigen, „wie das Schlimmste verhindert werden kann“ („Angst vor dem Weltkrieg“, NZZ, 16. März, S.1). Mit anderen Worten: Auch Schurkenstaaten können vernünftig sein!

Was können wir von der Friedensordnung des Kalten Krieges lernen? Sie basierte auf zwei Prinzipien:
1. Nicht-Einmischung, Souveränität
2. Das Prinzip von Jalta: das Interventionsverbot für raumfremde Mächte ( Carl Schmitt).

Würden wir die Westfälische Friedensordnung (1648) und die Ordnung von Jalta (4. bis 11. Februar 1945 mit Churchill, Roosevelt und Stalin) akzeptieren, wie dies während des Kalten Krieges von Seiten der Sowjetunion und der USA weitgehend der Fall war, so müssten wir auf die Politik der Menschenrechte und Völkerrechtspolitik verzichten.

Dann würde wohl Russlands Friedenskonferenz, ganz anders als die Schweizer Friedenskonferenz, ein neues Jalta-Prinzip aushandeln. Vielleicht wäre ein Präsident Trump sogar bereit dazu, zusammen mit Xi und Putin. Auszuschließen ist dies nicht. Einige Berater von Trump wie Steve Bannon sind Anhänger der Westfälischen Friedensordnung. Die Anarchie wäre dann aber eher vorzuziehen.

Konkurrierende Ordnungsvorstellungen in der Weltpolitik führen unvermeidlich zu Spannungen. Gujer sieht dennoch in der historisch-politischen Lektion des Kalten Krieges ein Vorbild für gelungenes Konfliktmanagement, so seine abschließende These ( a.a.O.).

Ein solches ist freilich an bestimmte Voraussetzungen gebunden: „Der Westen darf nicht im Hochgefühl moralischer Überlegenheit einen Kreuzzug für universelle Werte führen. China darf bei seinen Provokationen den Bogen nicht überspannen. Gelingt es, den zentralen amerikanisch-chinesischen Gegensatz einzuhegen, schrumpft der Popanz Putin auf Normalmaß.“

In Europa sehe ich keine relevante Partei, die den Mut hätte, sowohl auf die Menschenrechts- als auch die Völkerrechtspolitik zu verzichten. Ausnahmen gibt es allerdings. Die Deklaration des ‚Weimarer Dreiecks‘ (F., P., D.) geht in eine andere Richtung.

Eine neue Jalta-Ordnung kann nicht begreiflich gemacht werden, solange gleichzeitig die Osteuropäer, Skandinavier, die Balten, Franzosen u.a. davon nichts wissen wollen. Ein neues Jalta würde nur funktionieren, wenn sich der Westen seine Schwäche voll und ganz eingesteht und die Pax Americana zugunsten von Blöcken gänzlich verdämmern würde.

Bildnachweis: wal_172619 auf Pixabay