Nicht einmal Immanuel Kant, auch sein Denkmal im heutigen Kaliningrad vor der Universität wurde beschmiert. Mit rosaroter Farbe im November 2018.
2024 befinden wir uns wieder in einem sogenannten Kant-Jahr. Der 22. April ist sein 300. Geburtstag. Der ‚Weltbürger aus Königsberg‘ (vgl. Manthey 2005) wird gefeiert – als Vordenker der Vernunft und Friedensphilosoph in Zeiten des Krieges.
Krieg und Frieden
Kant hat die Verfassung der Vereinten Nationen inspiriert, obwohl auch schon Abbé Saint-Pierre und Rousseau den „ewigen Frieden“ forderten. Kant hatte diesen Titel ernst und zugleich ironisch gemeint (1795). Seine Feder ist nicht einfach und seine Texte sind hartes Brot, die immer wieder gelesen werden müssen. Die Anstrengung des Begriffs bleibt einem nicht erspart, insbesondere in der Erkenntnistheorie (1781) und der Moralphilosophie (1788),
Republikanische Verfassung, Völkerrecht, Kosmopolitismus, Frieden als Zustand der Gerechtigkeit, moralische Verpflichtung zum Frieden – all das scheint gegenwärtig europäische Folklore zu sein. Der Weltfrieden ist durch die Aufrüstung und Konkurrenz der drei Supermächte gefährdet. Der Welt- und Atomkrieg ist so nahe wie seit der Kubakrise 1962 nicht mehr, die Rüstungskontrolle ist mausetot: „in hostem omnia licita“ (Medwedew).
Wir sind kognitiv verzweifelt: Wie kann es nachhaltigen Frieden geben mit einem erstarkenden Militärstaat wie Russland? Wie geht Frieden mit Diktaturen dieser Art, etwa auch mit Nordkorea? Außer über Abschreckung! Was werden China und die USA zur neuen Friedensordnung beitragen? Wie ist ein Verhandlungsfrieden in der Ukraine möglich? Siehe auch den Blog Welcher Friede in Zeiten des Krieges? 6. März 2024. Eine Antwort haben wir nicht gefunden.
Auch das Zeitalter der Aufklärung von Kant war ein Zeitalter der Kriege. Zunächst waren es die Kriege Friedrich des Großen – die Schlesischen Kriege – dann die europäischem Kriege nach der Französischen Revolution. Napoleons Triumph über Preußen 1806 erlebte Kant nicht mehr, während Hegel in Jena, der zweite große deutsche Philosoph und Konkurrent zu Kant in Napoleon den Kaiser als „Weltseele“, den Weltgeist zu Pferde, das exemplarische welthistorische Individuum sah, welches die „Veilchen am Rande“ zertritt.
Es gab immer wieder längere Friedensperioden in Europa. Nach der Neuordnung durch den Wiener Kongress 1815 florierte eine langdauernde Friedenszeit mir großer Friedenssehnsucht.
Der deutsch-österreichische Krieg, der zur ‚kleindeutschen‘ Lösung der nationalen Frage führte, und der deutsch-französische Krieg 1870/71 standen im Zusammenhang mit dem deutschen ’nation-building‘ und machen aus dem 19. Jahrhundert kein durchgehend friedliches Zeitalter. Dieses endet mit dem 1. Weltkrieg.
Er wird zurecht die „Urkatastrophe der Moderne“ genannt, in der viele Gewissheiten für immer zu Bruch gehen, und die Imperien auf europäischem und russischem Boden untergehen. Phasen des Krieges haben zu Machtgleichgewichten geführt oder zu neuen Machtungleichgewichten, je nachdem. Die Machtbalance im Ausgang des 1. Weltkriegs war nicht nachhaltig und führte zum 2. Weltkrieg.
Der gegenwärtige Ukrainekrieg ist aus Sicht dieser realistischen Denkschule ein Versuch, das Ergebnis der Niederlage für die Sowjetunion im Kalten Krieg wieder zu korrigieren. Man kann eine Parallele sehen zum Versuch des Deutschen Reiches nach dem 1. Weltkrieg. Auf solche Versuche, Machtgleichgewichte zu ändern, lässt sich grundsätzlich mit zwei Strategien reagieren: mit Appeasement oder mit Abschreckung und erneuter Konfrontation.
Das gilt auch im Verhältnis zur heutigen russischen Föderation. In dieser psychisch drückenden Entscheidungssituation steckt gegenwärtig Deutschland, das zweite Unterstützerland der Ukraine nach den USA. Deutschland ist eine sonderbare, ja paradoxe Nation. Sonst ließe sich nicht erklären, warum die Anhänger der Grünen für Waffenlieferungen, einschließlich Taurus, eine besondere Waffe, an die Ukraine eintreten, jedoch kaum bereit wären, das eigene Land mit Waffen zu verteidigen. Selbst die Wehrpflicht nach schwedischem Modell ist umstritten.
Appeasement funktioniert dann, wenn die Macht, die besänftigt werden soll, sich durch Zugeständnisse binden lässt und dadurch saturiert wird. Die Gefahr besteht, dass solche Erklärungen lediglich rhetorischen Wert haben, wie diejenigen des deutschen Reiches in München 1938. Zugeständnisse dienen oft nur dazu, Zeit zu gewinnen, um selbst aufzurüsten und kriegsbereit zu werden. Heute wird dies dem neoimperialen Russland unterstellt, dessen Ambitionen noch nicht befriedigt scheinen und das deshalb eine Gefahr für Europa darstellt.
Appeasement ist kein Weg zum Frieden – der ist voraussetzungsreicher, wie Kants Präliminarartikel demonstrieren (1795, 1984) -, sondern eine Taktik des Konfliktaufschubs. Die Frage ist, wie dies Politiker in der Demokratie mit dem Einfluss der öffentlichen Meinung, von dem sie abhängig sind, verbinden. Welchen Weg gehen sie: den der Panikmache und Falschinformation oder den der Wahrheit und der Zumutungen für die Bürger, sich auf eine Konfrontation einzustellen? Das führt zu ungeliebten Prioritäten.
Denn letzteres kann für wehrfähige Demokratien nur bedeuten: Verteidigungsfähigkeit durch Militär und Zivilschutz zu stärken. Damit stehen zwei weitere Themen von Kant in einem engen Zusammenhang, die für unsere Gegenwart von grundsätzlicher Bedeutung sind:
- Streit um Aufklärung und
- Wahrheit und Lüge
Streit um Aufklärung
Die wohl bekanntesten Sätze von Kant neben dem Kategorischen Imperativ beziehen sich auf die Definition der Aufklärung. Auch die Aufklärung hat Kant natürlich nicht erfunden, die als historische Epoche verschiedene Varianten umspannt. Insofern gibt es die Aufklärung nur im Plural, denn sie hat schon vor Kants Geburt mit Locke, Leibniz, Spinoza, Bayle und anderen im 17. Jahrhundert Höhepunkte erreicht, an denen man heute genauso wenig vorbeikommt wie an Kant. Das hätte die Gegenwart zumindest zur Kenntnis zu nehmen, statt ihre Denkmäler zu beschmieren und ihre Autorität in den Dreck zu ziehen.
Die ‚Berliner Aufklärung‘ um Nicolai, Lessing und Mendelssohn ist dabei eine Variante genauso wie die schottische Aufklärung und andere nationale Varianten. 1783 veröffentlichte der Berliner Pfarrer Zöllner in der ‚Berlinischen Monatschrift‘ einen Aufsatz gegen die Zivilehe ohne Gottes Segen und monierte, man solle doch zuerst einmal die Frage beantworten, was Aufklärung sei, bevor man aufzuklären beginne.
Damit hatte er recht. Zöllner war keineswegs ein Gegenaufklärer, sondern stellte eine berechtigte Frage, die sich heute mitnichten erledigt hat, im Gegenteil. Moses Mendelssohn antwortete im Septemberheft 1784, Immanuel Kant aus Königsberg, das damals näher bei Berlin war als heute Kaliningrad, im Dezemberheft: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen des Menschen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Das zitierte Wort von Horaz aus seinen Episteln macht deutlich, dass man nur durch eigene Anstrengung die Lebensweisheit finden kann. Auf den eigenen Entschluss kommt es an! Dabei setzt Kant vor allem auf die kritische Haltung des Selberdenkens, während Moses Mendelssohn in seiner Antwort stärker das Wissen und die Bildung betont (siehe den Blog vom 20. Juni 2022 über Mendelssohn „Wir träumten von nichts als Aufklärung“ 1784).
Mut allein garantiert noch keine Aufklärung, die Arbeit am Urteilen kommt hinzu, persönlich und im Diskurs. Dafür wird keine elitäre Bildungsbürgerlichkeit vorausgesetzt, lediglich gesunder Menschenverstand, der nicht exklusiv ist.
Aufklärung ist primär ein individueller Prozess, aber auch ein gesellschaftlicher Prozess, in dem es darum geht, Freiheitsgewinne und Toleranzräume zu erkämpfen und zu verteidigen. Aufklärung ist infolgedessen mit gemeinsamen Fortschritten in wissenschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht verbunden, aber nicht als linearer Prozess mit einem utopischen Geschichtsziel.
Auch Kants eigene geschichtsphilosophischen Überlegungen kennen Rückschläge, Kriege und Katastrophen trotz eines Verständnisses von normativen Fortschritten, die nicht nur zustimmungsfähig, sondern im Rahmen eines Rechtsstaates auch zustimmungspflichtig sind.
Kant vertritt keine idealistische Geschichtskonzeption und keine politische Utopie, sondern vermittelt mit seinen regulativen Ideen zwischen ‚Realismus‘ und ‚Idealismus‘. Es ist kein Zufall, dass Eduard Bernsteins Parole „Zurück zu Kant“ in Absetzung vom Hegelianismus und Marxismus, den Reformismus und Meliorismus – Stückwerk, nicht „Sozialphilosophie als Raketenwissenschaft für eine bessere Gesellschaft“(Felsch) – in der modernen politischen Theorie demokratischen Regierens inspiriert hat (Holzhey 1994).
Von hier aus lässt sich auch eine Brücke zum kritischen Rationalismus (Popper) und zur Wissenschaftstheorie schlagen – Fallibilismus vs. Dogmatismus und Rigorismus. Erst dann beginnt die eigentliche Arbeit, die wir mit der strittigen Politik in der Demokratie immer wieder vor uns haben.
„Der Mensch ist aus krummem Holz“, so lautet die treffende Quintessenz von Kants weder pessimistischer noch optimistischer Anthropologie (1798). Womöglich denkt er auch systematisch als vorurteilsbeladener preußischer Denker aus seiner Zeit Friedrich des Großen heraus, den er mit dem „Zeitalter der Aufklärung“ gleichsetzte, zu sehr und zu eng, dass sich Menschen „gehorsam regieren lassen“ müssen, freilich in einem vernünftig- einsichtigen Sinne.
Es liegt auf der Hand, dass in der Konsequenz dieses ‚verrechtlichten‘ juridischen Denkens Freiheit und Toleranz aus moderner Sicht (der Pluralisierung und Individualisierung) zu kurz kommen müssen, ebenso wie die spontane Solidarität sozialer Bewegungen. Daraus ergeben sich selbstverständlich wieder neue und andere Folgeprobleme, die wir hier nicht erörtern können.
Immerhin ist Kants (problematische) Kritik des Widerstandsrechts mit einer Theorie des Rechtsgehorsams und einer Staatstheorie verbunden, die gerade heute in ‚ liberal-toleranten‘ Zeiten inflationären Protests (Ausverkauf des zivilen Ungehorsams) und unreflektierten Widerstandes bis hin zum Terrorismus zur Kenntnis genommen werden sollte, wenn es wieder um die vorrangige Verteidigung der rechtsstaatlichen Demokratie gegen ihre Feinde geht. ‚Freiräume‘ sind nicht nur ‚rechtsfreie Räume‘ insofern, als hier das Recht in die eigenen Hände genommen werden darf.
Aufklärung ist nicht irreversibel, das gilt es zu bedenken, vielmehr gibt es permanent, besonders in der weltweiten Mediengesellschaft und deren Öffentlichkeit eine giftige Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung, was man heute auch ‚Kulturkämpfe‘ oder sogar zivilisatorische Konflikte im globalen Raum nennen kann. Die extremistische Anstiftung zum Bürgerkrieg kommt hinzu. Innere und äußere Sicherheit sind wieder zu einem zentralen Thema geworden.
Einen gesicherten Monopolanspruch auf Aufklärung gibt es nicht, wohl aber das legitime Gewaltmonopol des Staates. Auch hinter Kants Rechts- und Staatstheorie steht die Frühaufklärung von Hobbes. Es handelt sich dabei um eine sowohl geistige wie politische Auseinandersetzung, die in der (post et secundam) ‚Nachaufklärung‘ des 21. Jahrhunderts nicht einfacher geworden ist.
Totalitäre Aufklärung versucht, die freie Stelle in der arbeits- und gewaltenteiligen Demokratie zu besetzen. Rechthaber und Machthaber fallen dann in eins. Es gibt allerdings ebenso – seit Rousseaus kulturkritischen Schriften – das Erbe einer Aufklärung über die Aufklärung, eine durchaus problembewusste Dialektik der Aufklärung und des Fortschritts. Was vermag also Aufklärung als öffentliche Kampagne heute, wo liegen ihre Grenzen, wie geht sie mit Kontingenzen um?
Aufklärung ist eine meteorologische Metapher, sie hellt auf – wie das Wetter -, das sich wieder eintrüben kann. Das heißt auch: sie hat kein endgültiges und dauerhaftes Ergebnis. Sie benötigt vielmehr vor allem Bedingungen und Institutionen, um auf Dauer gestellt werden zu können. Am besten durch geschützte Freiheiten wie die Wissenschaftsfreiheit, Meinungs-, Presse- und Glaubensfreiheit, die keineswegs selbstverständlich sind.
Wahrheit und Lüge
Bei der heutigen Diskursvergiftung durch Verschwörungstheorien, dem genauen Gegenteil von Aufklärung, systematischer Desinformation im hybriden Krieg, Fakes, Deep Fakes und KI bedarf es ganz besonders der Ausbildung neuer (Medien-) Kompetenzen und eigener Urteilskraft.
Dazu braucht es Handlungsmut, von dem Kant spricht, der kein Gratismut ist, da sich Individuen mit ihren Behauptungen/Urteilen (die ein Wagnis bleiben) in einer vermachteten Öffentlichkeit behaupten müssen, in der bestimmte Medien, Experten und Reputation den Ton angeben. Politischer Moralismus (Argumente gegen die Person und nicht zur Sache), Korrektheitsregeln, Meinungskorridore und Hate Speech erschweren zudem die offene Kommunikation.
Begriffene und gelebte Demokratie bedeutet aber, sich einzumischen, mitzureden und mitzuentscheiden, immer wieder. „Die Grundrechte regieren das Grundgesetz“ (Carlo Schmid). Für diese Grundrechte muss man kämpfen. Der moderne Verfassungsstaat ist unter Druck. Er ist ein Experiment der Freiheit und der Wahrheit. Man muss sich also die Wahrheit zutrauen. Was aber heißt Wahrheit?
Subjektive Wahrhaftigkeit ist eine Voraussetzung der Wahrheit. Man kann sich freilich auch mit selbstbehauptungsförderlicher Selbsttäuschung in die eigene Tasche lügen und findet immer wieder Ausreden, nicht „in der Wahrheit zu leben“, so Vaclav Havel gegenüber einem propagandistisch verlogenen politischen System, das lediglich eine Fassadendemokratie war. Bei der Annäherung an die Wahrheit kommen Transsubjektivität, Genauigkeit und Objektivität als Bemühen ins Spiel – Kritik und Selbstkritik.
Ernst Cassirer war in den 30er Jahren des ‚Jahrhunderts der Extreme‘ einer der wenigen Philosophen, der die Aufklärungsphilosophie und das Individuum verteidigte (1932/2007). Sein Antipode war der damalige Star der Philosophie Martin Heidegger, der die Seinsfrage stellte (Sein und Zeit ,1927). Seine Daseinsphilosophie war durchzogen von der ‚Sorge‘, das Sein zum Tode. Der Neukantianer Cassirer wollte dagegen den Menschen in und durch seine Freiheit, nicht „der Angst ausliefern“. Darüber kam es 1929 in Davos zu einem berühmten Disput zwischen den beiden.
Aufklärung soll den Menschen befähigen, sich der Angst zu stellen. Wie sieht also eine rationale Politik der Angstbewältigung aus, das ist eine sehr aktuelle Frage, was Krieg und Frieden betrifft? Sie ist heute bei den großen Problemen, die prozedural zu lösen sind, zu verknüpfen mit einer geteilten Verantwortung der Menschen. Eine demokratisch geteilte Verantwortung ist einzurichten, wobei Politik hier auch bedeutet, kollektive Verantwortung zu übernehmen.
Wer verbreitet dagegen heute unnötig Angst und Schrecken in der Bevölkerung? Wer Angst zeigt, kann nicht abschrecken. Das ist klar, gleichzeitig gibt es darüber eine Diskussion in Europa zwischen GB, Deutschland und Frankreich. Gewählte Spitzenpolitiker richten sich in starkem Masse nach der öffentlichen Meinung, die ständig in Umfragen neu erhoben wird und sie unter Druck setzt.
Insofern hat die Aufklärung als moderne Demoskopie, was die Plausibilitätsstrukturen betrifft, die Demokratie ersetzt. Der Bezug auf Öffentlichkeit kann jedoch auf unterschiedliche Weise hergestellt werden und ist selbst Teil der demokratischen Auseinandersetzung beziehungsweise des Streits um Aufklärung.
Zur öffentlichen Vernunft gehören Demokratie und Aufklärung. Sie wird hier prozessual verstanden, themen- und problemorientiert. Wird Wissen (Geheimwissen, Herrschaftswissen, strategisches Wissen) zurück gehalten in Bezug auf die Wirksamkeit und Kontrolle eines Waffensystems (Taurus-Debatte in Deutschland seit Oktober 2023)? Wer spielt hier mit den Ängsten vor einer Eskalation?
Besonnenheit (oder Nachdenklichkeit) ist zweifelsohne wichtig, wenn politisch klug und mutig gehandelt werden soll. Die Grenze zum verantwortungslosen Übermut darf nicht überschritten werden. Besonnenheit setzt Mut voraus, ersetzt ihn aber nicht, und Ängstlichkeit kann als Besonnenheit maskiert werden.
Man kann sich mit Rhetorik auch eine mutige Fassade verschaffen, hinter der wenig ist. Für beides stehen im Moment Personen wie der deutsche Bundeskanzler als „Friedenskanzler“ einerseits und der französische Staatspräsident, der die Verbündeten auffordert, „nicht feige“ zu sein, andererseits.
Der Einzelne versucht demgegenüber ohne legitimatorisches Leitseil, sich im Denken zu orientieren, weshalb er den Austausch, das Gespräch und die Bestätigung von anderen braucht. Zuhören können, kontroverse Debatten und lebenslanges Lernen sind notwendig. Wahrheiten werden also auch durch Intersubjektiviät getragen und können sich wieder auflösen.
Sie haben einen Zeitindex: „Es ist schon bald nicht mehr wahr“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Wahrheit ist konkret, lautet ein anderer Satz, der ihren Streitwert unterstreicht, um den es in demokratischen Debatten immer wieder geht.
Literatur:
- Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland, hrsg. von Erhard Bahr, Stuttgart/Reclam 1974
- Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781)
- Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788)
- Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Stuttgart 1983
- Kant, Zum ewigen Frieden (1795)
- Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung ( 1932), Hamburg 2007
- Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1974 ( Hg. Manfred Riedel)
- Helmut Holzhey (Hg.), Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Ffm. 1994
- Jürgen Manthey, Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München/Wien 2005
- Heinz Kleger, Präliminarien des Überlebens, Reformatio 5/1984.
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