Helle und dunkle Visionen

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Im letzten Blog haben wir von Revisionen, die zahlreich sind und anhaltend sein werden, und Visionen, die bleiben, gesprochen. Das Wort ‚dunkle Vision‘ fiel nicht, ebenso wenig die Unterscheidung zwischen hellen und dunklen Visionen. Wenn nun nachfolgend vom Ringen um eine neue Weltordnung die Rede ist, wird dies notwendig, ohne dass wir sagen können, in welche Richtung es gehen wird.

Am 24. Februar, dem ersten Jahrestag des Ukraine-Krieges wurde mit großer Spannung die chinesische Friedensinitiative erwartet. Sie ist eher ein Positionspapier als ein zeitlicher Friedensplan. China hat Einfluss auf Putin, darin besteht kein Zweifel. Aber kann es auch ein neutraler Vermittler sein?

Es hat bisher Russland für den Angriffskrieg nicht beschuldigt, vielmehr gibt es den USA die Schuld und spricht mit Bedacht nicht einmal von Krieg, sondern von Konflikt. Feststellen lässt sich allerdings, dass China objektiv und zurecht in Sorge ist vor einer weiteren Eskalation des Krieges.

Die nächste Eskalationsstufe wird absehbar der Konflikt um die Krim sein. Die Waffenlieferungen wertet Putin neuerdings als Kriegspartei, dabei hat er insbesondere Deutschland und seine Panzer im Auge. „Die Nato ist nicht mehr nur unser Gegner, sondern unser Feind“ (Peskow 28.2.2023).

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar waren Russland und Iran nicht eingeladen, dafür war der chinesische Spitzendiplomat Wan präsent, der danach nach Moskau reiste und dort von Putin empfangen wurde. Die Bilder von Putin und Lawrow mit Wan – Händedruck und freundlicher Gesichtsausdruck – sagten mehr als alle Worte. Man verstand sich bestens und versprach beidseitig „vertiefte Kooperation“. Xi Jinping soll im Frühling Moskau besuchen.

Das chinesische 12-Punkte-Papier fordert Waffenstillstand und Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg:

– Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität aller Länder
– Einhaltung der UN-Grundsätze
– legitime Sicherheitsinteressen der Staaten ernstnehmen
– Ende der Mentalität des Kalten Krieges
– Ende der westlichen Sanktionen gegen Russland
– Sicherung von Atomkraftwerken
– Sicherung des Getreideabkommens

Der letzte Punkt deutet darauf hin, dass China vor allem gegenüber dem globalen Süden als Friedensvermittler auftreten will. Das ist nicht nur gegen die USA gerichtet und für den Rest „of the west“, sondern ebenso schwingt (seit dem Ussuri-Konflikt 1969) die alte interne (kommunistische) Missionskonkurrenz gegenüber der sogenannten ‚Dritten Welt‘ mit.

Der gemeinsame ideologische Hauptgegner bleibt indes in wachsendem Maße die US-Hegemonie, was sogar ein gemeinsames Marinemanöver mit Südafrika ermöglicht. Dort verhält man sich neutral gegenüber dem Ukraine-Krieg und erinnert an die langjährige Unterstützung der Sowjetunion im Kampf gegen die Apartheid.

Mit der falschen Mentalität des Kalten Krieges wird vor allem die USA beschuldigt, wobei die steigende Attraktivität der Nato für die osteuropäischen Länder unverstanden bleibt. Diese wiederum hängt mit Putins dunkler Vision zusammen, die Verhältnisse vor 1991 wiederherstellen zu wollen. Der neue tschechische Staatspräsident Pavel, der ein ehemaliger Nato-General ist, vergleicht Putin mit Hitlers Expansionspolitik in Bezug auf sein Verhalten 1938/39 in der Tschechoslowakei.

Was genau ist mit den „legitimen Sicherheitsinteressen“ gemeint? Sind sie deckungsgleich mit dem, was Putins Russland „Einflußsphäre“ nennt? Demnach gehört die Ukraine dazu, Belarus ebenso und die baltischen Staaten. Wo hört dieses „grenzenlose Russland“ auf? Sollen Polen und Tschechien zur Breschnew-Doktrin zurückkehren? Polen, Tschechien und die baltischen Staaten führen dagegen gegenwärtig vor, was verteidigungspolitische Zeitenwende in Europa bedeutet und wie sie geht.

Was meint dann noch souveräne Nation, Freiheit und Demokratie? Putin spricht bezeichnenderweise von den „Freiheitsrevolutionen“ als „Farbenrevolutionen“. Die ‚Orangene Revolution‘ von 2004 sitzt ihm immer noch im Nacken, die belarussische Revolution im Sommer 2020 auch; Venezuela und Hongkong wollen wir auch nicht vergessen.

China reklamiert, insbesondere für die Länder des globalen Südens, ein eigenes „Recht auf Entwicklung“ und strebt über dieses wieder nach Weltmachtgeltung. Russland will auf internationaler Bühne ebenfalls eine Weltmacht sein, und ist dieses immer mehr lediglich als Atommacht.

Seine ‚Herabstufung‘ als Regionalmacht und normaler großer (vielleicht sogar?) föderalistischer Nationalstaat empfindet die sowjetisch geprägte Elite als kränkende Demütigung. Daraus wurde inzwischen das Ressentiment der Revanche. ‚Raum für Politik‘ bedeutet horizontal demokratische Macht, die regional wachsen kann, und nicht die Anbetung zentraler vertikaler Macht, die ein Riesenreich über verschiedene Zeitzonen wie ein Zar diktatorisch zusammenhält.

Dies wissen bereits mutige Bürger/innengruppen der jüngeren postsowjetischen Generationen. Es sind zumindest Keime einer möglichen Zukunft gegenüber einer großen Mehrheit, die sich vergangenheitsfixiert dem anpasst, was sich nicht verändern lässt; die riesigen Distanzen und der „Antisapadismus“ verfangen. Die internationale Attraktivität des Kommunismus als Entwicklungsmodell ist ohnehin Geschichte, während China den Spagat zwischen westlichem Kapitalismus und kommunistischem Herrschaftsanspruch mit seiner eigenen Weisheit für Widersprüche versucht.

Die kommunistische Partei ist die größte Organisation der Welt, ihre Macht beruht auf dem Militär, das von einem wachsenden Verteidigungs- als Aufrüstungshaushalt profitiert und Xi verfassungsmäßig zum alleinigen Herrscher gekürt hat. Legitimitätskonzessionen gibt es hier nicht (Tibet, Uiguren, Menschenrechte, Hongkong, Taiwan). Auf jedes Tibetfähnchen und jeden ausländischen Besuch in Taiwan wird vielmehr allergisch reagiert. Taiwan ist für China keine Frage von Demokratie und Menschenrechten, sondern ausdrücklich eine von Wiedervereinigung und Souveränität.

Dokumentationen haben in den letzten Jahren klargemacht, wie zielstrebig diese Weltmachtrolle ideologisch und strategisch verfolgt wird bis auf jede Insel, einschließlich Flugzeugträger, und bis hinaus in den Weltraum und führbaren Atomkrieg in Befehlsbunkern. Man sollte China keinesfalls unterschätzen, so wie man Putins Russland naiverweise lange unterschätzt hatte.

Umso wichtiger ist der Punkt, der bei den obigen Punkten der chinesischen Friedensinitiative noch fehlte: keine Drohung mit Atomwaffen. Das muss auf jeden Fall ein wichtiger Anknüpfungspunkt der Diplomatie sein, die auf die Aussetzung des Start-Abkommens durch Russland reagiert.

Mit dieser ’nuklearpazifistischen‘ Botschaft war schon Bundeskanzler Scholz von seiner China -Reise erleichtert zurückgekehrt. Die Atomangst in Deutschland ist seit jeher groß, und Putin, der schlechte Stratege und große Manipulator weiß sie zu schüren. „Putin kultiviert seine Irrationalität, um unberechenbar zu bleiben“ (Thomas Müller in SZ, 28.2., S.13). Er ist rationaler, als viele glauben; eine Dämonisierung macht es sich jedenfalls zu einfach.

In Berlin demonstriert man in diesen Tagen lauter gegen als für Waffenlieferungen, darunter überwiegend ältere Menschen, die schon bei den großen Demonstrationen der Friedensbewegung in den 80er Jahren (Hofgarten in Bonn) dabei waren. Eine historisch-politische Querfront ist diese Bewegung jedoch noch lange nicht trotz der Einladung von Höcke an Wagenknecht.

Selenski meinte, Chinas Initiative sei ein erster Schritt. Ohne die Vermittlung Chinas ist ein zuverlässiger Weltfrieden ohnehin nicht in Sicht. Ansonsten waren die internationalen Reaktionen eher verhalten. Selbst Peskow blieb nicht im Ungefähren, sondern sagte deutlich, dass Voraussetzungen für eine friedliche Lösung derzeit nicht gegeben seien (27.2.).

Manche Beobachter urteilten, es sei vor allem ein Auftreten mit eigenen Interessen und bekannten Positionen gewesen. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn China tatsächlich zum Frieden beitragen kann. Neutral muss man (kann man?) für diese Aufgabe nicht sein.

Die härteste Kritik sprach sogar von einer Propagandaaktion ohne konkreten Lösungsvorschlag (Podoljak). Präsident Macron allerdings will den diplomatischen Ball aufnehmen und im April nach China reisen. Die USA warnt China inzwischen vor Waffenlieferungen an Russland, das über Nordkorea schon involviert ist. Als Schutzmacht könnte es an dieser Stelle jederzeit für den Abbau von martialischen Bedrohungen sorgen.

Welche Rolle also spielt China? Vieles ist unklar und selbst Teil des Informationskriegs. China irritiert bewusst, um sich mehrere Optionen offen zu halten. Das ist seine Variante des strategischen Pragmatismus, der mit allen Seiten in Kontakt bleibt. Die USA wird den Wirtschaftskrieg gegen China zweifellos verschärfen, sollte die strategische Partnerschaft zwischen Xi und Putin zur Blockbildung werden.

Weltpolitisch entscheidend werden wieder effektive Bündnisse (politischer Aufklärung) werden, welche auch geistig die Richtung bestimmen – ähnlich wie im Kalten Krieg das transatlantische Bündnis, freilich in einer anderen Konstellation und unter anderen historischen Bedingungen, die nicht metaphysisch garantiert sind. 

Politiktheoretisch bergen ‚Bund‘ und ‚Bündnis‘ eine Weisheit, die es auszuschöpfen gilt (siehe dazu ausführlich Kleger, Vom Bund zum Bündnis, von der amerikanischen zur atlantischen Zivilreligion, 2001). Die alliierte Bündnisgesinnung enthält nicht nur eine fundamentale Wertedimension, sondern ebenso eine konfliktreiche wie produktive (überlappende) Brückenfunktion, die dem Internationalsozialismus immer überlegen war.

Zudem spielen die Staaten der EU inzwischen eine eigenständige Rolle wie die EU insgesamt, was natürlich zu mannigfachen Konflikten führt, die permanent geworden sind.

Auch die Rolle von Deutschland wird sich wieder verändern müssen, nachdem die Friedensdividende aus den 90er Jahren wie die demographische Dividende aus den 80er Jahren aufgebraucht sind. Man kann von einer multipolaren Welt sprechen, die zugleich in bestimmten Hinsichten antagonistischer und in anderen kooperativer wird.

Was vermag demgegenüber der ‚alte Weltpolizist‘ USA in seinem Mehrfrontenkrieg und was das keineswegs ’souveräne‘ Europa? Wer kann hier wie konstruktiv werden? Kooperationen auch mit dem neutralen Indien und Brasilien werden zunehmend gesucht. „For many outside the west, Russia is not important enough to hate“ (Krastev, Financial Times, 22. Feb. 2023).

Wohlstand und Sicherheit

‚Wohlstand und Sicherheit‘ wollen die Großmächte USA, China und Russland auf ihre Weise sichern. Und welcher Staat will es nicht? Dafür gibt es verschiedene Entwicklungsmodelle und den Wettbewerb der Systeme, der mehrere Dimensionen hat.

‚Moderne Entwicklung‘ ist an sich positiv besetzt und wird häufig synonym verwendet mit ‚Fortschritt‘. Dieser schließt den militärischen und technologischen Rüstungswettlauf mit ein, der nicht unter Kontrolle ist, was schon in den 80er Jahren zur Exterminismus-Diskussion geführt hat. Der nuklearpazifistische Weltfrieden muss deshalb der erste Punkt der weltpolitischen Agenda sein. Die UN-Charta ist dafür die Verfassung, und der Sicherheitsrat trägt dafür die Verantwortung. Letzteren wollte man immer wieder reformieren, was aber nicht realistisch ist, solange die drei Großmächte über ein Veto verfügen.

Die Uno ist indessen nicht nur dieser wichtige Sicherheitsrat in New York, der derzeit blockiert scheint, sie ist ebenso der Menschenrechtsrat und die Abrüstungskonferenz in Genf („Frieden schaffen ohne Atomwaffen“). Gegenwärtig ist sie auch Geberkonferenz für den Jemen, wo ebenfalls ein Stellvertreterkrieg (zwischen Saudi-Arabien und Iran) zur großen humanitären Katastrophe mit Hunger und Wassermangel geführt hat. 

Auf dieser Ebene können die Großmächte im Konzert mit anderen Ländern durch minimale Einigung und Kooperation untereinander beweisen, was verantwortungsvolle Machtpolitik heißt. Kluge Macht, die neu zu erfinden ist, und Diplomatie sind dafür gefragt.

Die China-Spezialistin Marina Rudyak bezweifelt, ob China tatsächlich primär am Ende eines Krieges in der Ukraine interessiert ist. Warum nicht? Er schwächt Russland, und er lenkt die USA vom Indopazifik und Taiwan ab. China sei primär an Stabilität und Status quo interessiert (in Tagesspiegel, 24. 2., S.10). China will aber nicht, dass Russland, mit dem es eine lange Grenze teilt, auseinanderbricht, was Freunde (z.B. Medwedew) wie Feinde Putins bei einer Kriegsniederlage gleichermaßen befürchten. Das brächte noch mehr gefährliche Unruhe.

Putin hält den russischen Staat noch zusammen. Im Unterschied zu den USA will sich China als verantwortungsvolle Großmacht profilieren, die sowohl autonome Entwicklung wie internationale Sicherheit ermöglicht und fördert. Zwei sicherheitspolitische Papiere, auf die Rudyak hinweist, veranschaulichen dies: „Die US-amerikanische Hegemonie und ihre Gefahren“ und das „Konzeptpapier zur Globalen Sicherheitsinitiative“ (a.a.O.).

„Russland ist noch lange nicht am Ende“ heißt es aus westlichen Sicherheitskreisen am 27. Februar 2023 (NZZ, S.4). Selenski hat das Kriegsende im Kampf gegen Goliath auf Ende Jahr verschoben. „Wir glauben mehr an unsere Armee als der Papst an Gott glaubt“, so eine Einwohnerin aus dem befreiten Cherson.

Bildnachweis: IMAGO / SNA