Friedensstifter ohne Frieden

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Friedensstifter ohne Frieden

Das vierstündige Treffen von Präsident Biden und Staatspräsident Xi in San Francisco war Krisenkommunikation auf höchster Ebene und fast letzter und äußerster Stufe (siehe den Blog vom 15. November). Das Wichtigste: das „rote Telefon“ haben wir wieder, es hat schon einmal die Menschheit gerettet. Ist dies mehr als eine Beruhigungspille?

Die Frage seit Immanuel Kants Friedensschrift von 1795 indessen ist, was friedensfördernde Maßnahmen sind. Der erklärte Wirtschaftskrieg, etwa mit den Chips, an dem beide Seiten beteiligt sind, ist jedenfalls deutlich zu entschärfen, „wenn die Traumwandler nicht in einen neuen Weltkrieg schlittern wollen“ (siehe Braml/Burrows 2023).

Außerdem geht das Katz- und Maus-Spiel im südchinesischen Meer weiter (NZZ, 24. Nov., S.6). Die Region hat größte Bedeutung für die internationale Schifffahrt und den Welthandel. Kenner Südostasiens sprechen von einer „stillen Invasion“ durch China (Matthias Messmer, NZZ 7. Nov., S. 7), das seinen Einfluss steigert, was zu Konflikten auch unter den sieben Anrainerstaaten (Philippinen, Vietnam, Malaysia, Indonesien, Brunei, Taiwan) führt. Durch die meistbefahrene Meerenge der Welt wird nicht weniger als ein Viertel der weltweit gehandelten Güter und ein Drittel des verschifften Rohöls transportiert.

Sieben Länder beanspruchen das Südchinesische Meer, China mit der Nine-Dash-Line den weitaus größten Teil. Die Philippinen klagten in Den Haag dagegen (NZZ, 24.Nov.). Das Urteil von 2016 war eindeutig und ist zugleich ein lehrreiches Beispiel für die heutige internationale Problematik politischer Theorie im Spannungsfeld von Klugheit, Moral und Völkerrecht. Das Urteil lautete: die Nine-Dash-Line ist unhaltbar, ‚historische Rechte‘ können unter dem modernen Seerecht nicht geltend gemacht werden.

China ignorierte das Urteil und beharrt auf seinen historischen Rechten. Es hat zunehmend die Mittel, diese auch durchzusetzen aus seiner Sicht gehören ihm 90% des südchinesischen Meeres (NZZ, 24. Nov.). Seine Marine ist inzwischen mächtiger als selbst die mächtige US-Navy (siehe auch: Die US-Navy in schwerer See, www.nzz.ch/international). Da jedes Land behauptet, im Recht zu sein, häufen sich die militärischen Beinaheunfälle.

Das moderne Seerecht hat es in sich! Wer beschäftigt sich schon damit?! So schüttet China künstliche Inseln auf, um daraus maritime Zonen abzuleiten. Der Kampf ums Recht (historische Rechte, modernes Seerecht), die Schaffung von Fakten sowie die militärische Durchsetzung der Rechte greifen ineinander. Da kann man lange Vorträge über Moral und Völkerrecht halten. 

Demgegenüber entstehen die Realitäten auf andere Weise, gegen die man gegenhalten können muss, beispielsweise durch Freedom of Navigation Operations, mit denen man sich wiederum in der faktischen Nähe des Krieges befindet – Faktizität und Geltung. Auf diese Welt, wie sie ist, muss man sich einlassen. Realitätsverweigerung hilft nicht weiter, sondern bereitet nur den Boden für größere Konflikte.

Den logischen Schlusspunkt der sachlich aufgeklärten Argumentation bildet denn auch ein militärischer: Die „Paracel-Inselgruppe, die Spratly-Gruppe und das Scarborough Shoal“ bilden ein Dreieck. Hat man allen drei Eckpunkten Stützpunkte, so kann man den Schiffsverkehr im südchinesischen Meer kontrollieren und darin sogar Atom-U-Boote verstecken (a.a.O.). Die Rüstungskontrolle ist nicht nur mausetot, China entzieht sich ihr. Es rüstet überraschend schnell und unbemerkt auf, auch um einen Atomkrieg führen zu können.

Dafür muss man allerdings zuerst einmal die geographische Karte dieses Teils der Welt studieren, der ein gefährlicher Konfliktherd für die ganze Welt geworden ist. Dann erst kann und muss man sich mit den geopolitischen und militärstrategischen Fakten beschäftigen und daraus die notwendigen Folgerungen ziehen. Wer kann das?

Gegenwärtig sind wir in Europa, das in dieser Zeit einer neuen Geo-Ökonomie kein weltpolitischer Akteur ist, vollauf vom Ukrainekrieg seit 2022 (und weit darüber hinaus) sowie plötzlich seit dem 7.Oktober auch (wie schon 1973 wieder mit dem Existenzrecht Israels) und dem Gaza- Krieg, der für die Welt ein ähnlicher Schock war wie 9/11, absorbiert. Das ist genug, ja zu viel auf einmal. Die Fragen politischer Erkenntnistheorie stellen sich neu. Wie wird politische Theorie klug, ohne gefährlichen (oft ideologiegetriebenen) gedanklichen Kurzschlüssen zu verfallen?

Der islamistische Terrorismus hat dem Westen den Krieg erklärt. Das greift nun auch auf die Migranten in Europa über Die europäischen Staaten sind zudem mit einer Neudefinition der inneren und äußeren Sicherheit (gegenüber Russland) sowie innenpolitisch mit dem Aufstieg einer neuen Rechten, die sich populistisch gegen den „Asyl-Tsunami“ (Wilders) und gegen die EU wendet, konfrontiert. Man lese noch einmal Bin Ladens Hasspamphlet „Letter to America“(2002), um die Analogie zum heutigen Nahostkonflikt und den drohenden Flächenbrand, bzw. die Falle der Hamas zu erkennen. 

In dieser weltpolitischen Situation versucht sich China als Friedensstifter zu profilieren. Es zeigt dieselbe Vorgehensweise wie beim Ukraine-Krieg: mit „prorussischer Neutralität“ und „propalästinensischer Schlagseite“ (NZZ, 22. Nov., S.3), ohne Verurteilung des russischen Angriffskrieges und des Terroranschlags der Hamas. „China steht auf der Seite des Friedens“ (Wang Yi am 16.Oktober).

Die strategische Partnerschaft mit Russland wird zielgerichtet sowohl wirtschaftlich wie militärisch ausgebaut mit klarer Stoßrichtung gegen die Dominanz des Westens. Und die arabischen Staatsführer finden sich zu gemeinsamen Verhandlungen nicht in Washington zusammen, sondern in Peking, das sich wieder als Zentrum der Welt sieht nach einer ‚mehrtausendjährigen Geschichte‘. Es zelebriert so seine historische Würde.

Inzwischen meldet sich auch Putin unter den westlichen Staatsführern wieder zu Wort beim virtuellen G20-Gipfel, der von Indien ausgerichtet wird. Die hierarchische Sprechsituation scheint ihm zu behagen. Er spricht vom Ukrainekrieg als einer „Tragödie“, den er gleichentags als brutalen Zerstörungskrieg gegen die Infrastruktur des Landes fortführt (am 25. November mit dem größten Drohnenangriff seit Beginn des Krieges auf Kiew), und behauptet zynisch, dass Russland immer zu Verhandlungen bereit gewesen sei. 

Chancen hätte es wohl gegeben, zum Beispiel das Istanbuler Communiqué, das ein Riesenschritt von ukrainischer Seite aus war, indem man bereit war, über die Krim neu zu verhandeln (29. März 2022). Es wurde von russischer Seite jedoch nicht aufgegriffen, vielmehr durch Butscha und die Zerstörung von Mariupol buchstäblich zunichte gemacht.


Diplomatische Strategien und strategische Interessen

Zwei diplomatische Strategien auf globaler Ebene stehen sich derzeit gegenüber: Selenskis ‚Friedensformel‘ (vollständiger Rückzug, Reparationen, Kriegsverbrechen) oder der Frieden zu russischen Bedingungen, der die Kapitulation der Ukraine bedeuten würde mit dem Verlust von 20% ihres Territoriums. Deshalb steigt die politische Führung in Kiew auch nicht auf den Rasmussen-Plan ein, nämlich einen Nato-Beitritt der Ukraine zu forcieren unter Preisgabe der von Putin fanatisch annektierten vier Provinzen: Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson.

Diese Gebiete braucht er als Trophäen für seine neuerliche Präsidentschaftskandidatur 2024. Derweil toben tagtäglich an dieser langen Front die heftigsten Kämpfe in kalten Schützengräben ohne Pausen. Es ist nur noch ein verlustreicher Zermürbungskrieg für beide Seiten, allerdings hat das große Russland auf grausame Weise die größeren menschlichen Reserven.

Die ‚Friedensstifter‘ Russland und China haben keinen dauerhaften Frieden mit Sicherheitsgarantien anzubieten. Zudem ist ihre Ausweitung des globalen Kriegs sowohl gegen die Nato wie gegen die Republik China, sprich Taiwan, nicht unwahrscheinlich. Weswegen man sich wappnen muss. Die politischen Naivitäten haben sie alle erschüttert. 

Die beiden selbsternannten ‚Moderatoren‘ bringen auch im Nahen Osten keinen Frieden in die Welt. Die Freilassung der Geiseln und die vorübergehende Waffenruhe mit den humanitären Korridoren waren auf amerikanischen Einfluss hin und die Vermittlung von Ägypten und das kleine Katar, das Beziehungen in alle Richtungen unterhält, möglich. Welche Strategien verfolgt China, dem auch ein mäßigender Einfluss auf Russland, auf den der Westen nuklearpazifistisch setzt, zugetraut wird:

1) langfristige strategische Interessen,

2) Einfluss im Uno-Sicherheitsrat und

3) der Kampf um die neue Weltordnung.


Zu 1) Diplomatische Strategien sind von langfristigen strategischen Interessen noch einmal zu unterscheiden. Für das aufstrebende, energiehungrige China ist der Nahe Osten vor allem als Energielieferant von Interesse. Mit dem Ölstaat Saudi-Arabien (dem klassischen Verbündeten der USA seit 1943, Roosevelt und Churchill teilen die Welt noch im Krieg auf) will man es deshalb ebenso wenig verderben wie mit dem Iran und dem Irak. Man kann dieses Verhalten „opportunistisch“ nennen, wenn man konzediert, dass, wenn es um Erdöl geht, alle Staaten ihre Interessen über die Moral stellen. 

Das Erdöl hat die Geschichte der modernen (amerikanischen Auto) – Zivilisation ebenso maßgeblich beeinflusst wie die beiden Weltkriege (siehe Öl. Macht. Geschichte, ZDFinfo, Doku 2022). Das Treffen der Außenminister von Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten, Katar, Indonesien und den palästinensischen Gebieten mit Wang Yi am 20. November in Peking war ein diplomatischer Coup. 

Ebenso das kürzliche Außenministertreffen mit Japan und Südkorea am 26. November in Busan. Beides zeigt, dass das große China mit seinen großen Problemen auch an Stabilität orientiert ist. Ist dies friedliche Koexistenz? Oder friedliche Koexistenz zu Chinas Bedingungen?

Zu 2) obwohl China auch zu Israel normale wirtschaftliche Beziehungen unterhält, steht Israel als Verbündeter der USA politisch auf der falschen Seite. Denn China braucht die Unterstützung der arabischen Staaten und muslimisch geprägten Länder, um auf der Weltbühne des Sicherheitsrates wegen seiner Unterdrückung der muslimischen Minderheit (Uiguren) nicht öffentlich angeklagt zu werden.

Beim kürzlichen Treffen Xi/Biden in San Francisco demonstrierten große Protestzüge mit Tibetfahnen und für ein freies Hongkong, was in den staatlich gelenkten Medien in China freilich nicht gezeigt wurde. Diese lenkten die Bilder vielmehr bewusst selektiv auf die Propaganda der diplomatischen Aktivitäten, während das Rumoren der Freiheit eine Gefährdung des kommunistischen Führungsanspruchs darstellt, der ideologisch und militärisch, auch in der militärischen Früherziehung (wie in Putins Russland) rigoros durchgesetzt wird. Chinas Größe ist ebenso pure Machtarroganz. Beides sind Militärstaaten auf ihre Weise.

Zu 3) China versteht sich zudem als Vertreter der Interessen des ‚globalen Südens‘, die freilich nicht einheitlich sind, und der BRICS-Staaten. Daran hat auch das Treffen mit Biden nichts geändert, dass vieles offen ließ. Hier spannt es mit Russland, wie erfolgreich wissen wir noch nicht, vermeintlich antikolonialistisch- die ‚Verflechtung von Kultur und Imperialismus‘ (Said)- gegen die freie Welt zusammen. 

Neben allen Charmeoffensiven und kooperativen Infrastrukturprojekten, die sich immer mehr der Energiepolitik und Digitalisierung zuwenden, ist Chinas Auftreten auch im asiatischen Raum mit dem Russlands vergleichbar, Nachbarländer imperial ‚verwalten‘ zu wollen ( Messmer, a.a.O.).

Wie weit es mit dieser Politik der Stärke und seiner unaufgearbeiteten dunklen Vergangenheit, zum Beispiel wurde Pol Pots mörderisches Terrorregime mit massiver Militärhilfe unterstützt (1975-79), kommt, wird sich in dieser potentiell konfliktreichen Weltregion, in der gerade Nordkorea ein Militärabkommen mit Südkorea kündigte, noch zeigen.

In Kiew und Israel reagiert man derweil auf die chinesischen Friedensinitiativen skeptisch bis kritisch, aber nicht ablehnend.

Bildnachweis: IMAGO / Xinhua