Die neuen GRÜNEN

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Die Grünen gehen mit ihrem Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm in die Offensive. Sie werden den Parteienwettbewerb und damit die Demokratie beleben. Mit ihren 383 Einzelpunkten auf 58 Seiten wollen sie nicht länger nur eine ökologische Nischen-Partei sein, sondern sie wollen in die Breite gehen und ebenso Themen wie Gesundheitspolitik, Sicherheitspolitik, Sozialpolitik und andere Politikfelder abdecken. Damit fordern sie den Hegemonieanspruch der staatstragenden Christ- und Sozialdemokratie heraus und formulieren einen „Führungsanspruch“ (ein Wort, das bisher tabu war). 

Ihr Ziel ist es, „eine krisenfeste Gesellschaft demokratisch zu gestalten“. Ihre philosophisch interessante Hauptparole lautet „Veränderung schafft Halt“. Das erinnert an die ‚haltenden Mächte‘ der Konservativen (Familie, Vaterland, Religion), denen sie mit der Gestaltung des sozialen Wandels den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Sie sind dabei gegenüber früheren Jahren deutlich technologiefreundlicher (selbst gegenüber der Gentechnik) und handlungsoptimistischer geworden. Man merkt sofort, dass sie regieren möchten, auch in Europa. Am überraschendsten ist das Kapitel über eine „föderale Republik Europa“. Im ambitionierten Verfassungsentwurf des Konvents (2003) hieß es noch: „Föderation von Nationalstaaten“. Die Grünen gehen darüber hinaus und setzen geradezu euphorisch auf Europa. Für sie gilt der Primat der Politik, 2021 wird deshalb sowohl für Deutschland wie für Europa ein wichtiges weichenstellendes Wahljahr werden. 

Halt durch Veränderung erfordert Sicherheitsversprechen für die große Zahl, gerade im Übergang zur ökologischen Moderne, die das fossile Zeitalter ablösen soll. Das wird sowohl eine große Herausforderung werden als auch erbitterte politische Konkurrenz hervorrufen. Denn: Welche Sicherheiten können wie realisiert werden? Welche Rolle spielt dabei der Staat? Wie sieht die Sozialstaatsagenda aus? Die deutschen Grünen sind staatsgläubig, in anderen Ländern gibt es bereits eine Spaltung in ‚grün‘ und ‚grünliberal‘. Die neuen Grünen sind regierungspragmatisch geworden, sie sind aber auch in Bezug auf viele Fragen radikal, jung und frisch geblieben, offen für neue Bündnisse, was freilich vieles offen lässt. Zwischen Halt, Haltung und Zusammenhalten gibt es bei ihnen einen deutlichen Zusammenhang: „Rechtsextremismus und Rassismus sind die größte Gefahr für die liberale Demokratie.“ Bei der Stärkung der Demokratie wird nach dem Brexit –Schock jedoch weniger auf direkte Demokratie als auf Bürgerräte und die neue ‚Räterepublik‘ (Ethikrat, Digitalrat, Klimarat usw.) gesetzt. Demokratisches Regieren indes geht in Deliberation nicht auf.

Sollten die Grünen nächstes Jahr in die Regierung kommen, werden sie sich mit den ökonomischen Realitäten schmerzlich auseinandersetzen müssen, was zu Enttäuschungen an der Parteibasis führen kann wie einst die Kosovodebatte oder die Castortransporte. Ein Beispiel dafür ist die Ermahnung des grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Kretschmann gegenüber Hofreiter (nachdem dieser den Parteibeschluss mitgetragen hat, Verbrenner bis zum Jahr 2030 zu verbieten), dass man für die Wende zur E-Mobilität noch kein ausgereiftes Konzept geschweige denn eine Infrastruktur habe. 

Wandel als Halt ist das Gegenteil einer konservativen Haltung (Halt im Vertrauen auf haltende Mächte). Die Grünen wollen weiterhin im Bewusstsein des Fortschritts (einschließlich der Fortschrittskritik) vorne sein, weder links noch rechts. Ökologie bleibt ihr erster Grundwert. Sie sind aus vielen Erfahrungen klüger und zugleich gelassener und pragmatischer geworden. Das ist cool, solange man nicht regieren muss. Zum 75. Geburtstag der CDU haben sie ihr nicht nur ihr neues Grundsatzprogramm geschenkt, sondern auch einen Präsentkorb mit Ingwer und Rhabarberschorle.        

Heinz Kleger lehrte von 1993 bis 2018 Politische Theorie an der Universität Potsdam

Bild von Dominic Wunderlich auf Pixabay