Die Rüstungskontrolle ist mausetot 

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„Die Tore zur Hölle hat sich die Menschheit selbst gebaut. Der Einsatz nur eines Teils der derzeit existierenden mehr als 12 000 Kernwaffen würde reichen, menschliche Existenz weitgehend zu vernichten…“ (so Oliver Thränert, Center for Security Studies der ETH Zürich, in: NZZ, 26.8.2023, S.17). 

In den USA wurde die Rüstungskontrolle in den Formen bilateraler und multilateraler Diplomatie erfunden, um dieses ‚Ende der Geschichte‘ zu verhindern. Sie ist aktuell in großer Gefahr (siehe auch Wolfgang Richter, SWP aktuell, 7.5.2020). In den 70er, 80er und 90er Jahren war Abrüstung noch ein gängiges und kontinuierliches Prüfungsthema in der internationalen Politik (an der Universität Potsdam Wolfgang Kötter).

„Doch heute ist die Kontrolle der nuklearen Rüstung mausetot“ (so die These von Thränert), und zwar nicht nur wissenschaftlich, sondern auch und vor allem politisch. Und das zu einem Zeitpunkt, wo sie drängender und dringender ist, denn je. Es existiert nur noch der New START- Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) vom Juli 1991, der 2009 ausgelaufen ist und 2010 (Prager Vertrag) wieder erneuert werden sollte. Dabei geht es um die gemeinsame Reduzierung von strategischen Trägersystemen für Nuklearwaffen.

2026 läuft das Abkommen aus, und über die Verhandlung neuer Verträge wird nicht einmal geredet. Die Rüstungskontrolle wäre aber bei den gegenwärtigen geopolitischen Zuspitzungen und atemberaubenden technologischen Entwicklungen, die außerhalb der menschlichen Übersicht und Kontrolle sind, das wichtigste öffentliche Thema im Interesse der Menschheit.

Präsident Obama sprach noch 2009 in Prag, wofür er den Friedensnobelpreis bekam, von der Vision einer atomwaffenfreien Welt. Wie weit sind inzwischen Wunsch und die Realitäten, Rhetorik und Politik auseinander! Bei Obama kann man allerdings auch studieren, was ‚Politik als Rhetorik‘ bedeutet.

Die Angst vor dem Atomkrieg, die keine irrationale ist, und das Interesse an Zusammenarbeit, das rational ist, motivieren Rüstungskontrollverhandlungen als ein eigenes Politikfeld. Die USA hegten in Europa nach 1945 keine Expansionspläne, während die Sowjetunion nach dem gewonnenen Krieg eine Status-quo-Macht geworden war (ich folge der Kurzanalyse von Thränert). 

Infolgedessen versuchte sie, dass historisch Erreichte im Kampf gegen das Böse durch Entspannungspolitik zu sichern. Die Rüstungskontrolle war ein Teil davon und zugleich der Versuch, sich neben den USA als gleichrangige Supermacht zu etablieren, nachdem sie am 29. August 1949 im heutigen Kasachstan ihre erste Atombombe zündete. Zuvor änderte sich mit dem Abwurf der Bomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 die Welt. Dem ging ein Wettlauf der Wissenschaftler mit Briefen an Roosevelt und Stalin voraus, der wiederum zu einem Wettbewerb der Systeme führte, in den der wissenschaftlich-technische Komplex bis heute eingebunden ist.

Nicht zu unterschätzen ist der erfahrene Schrecken, den die Kuba-Krise 1962 auf beiden Seiten und international ausgelöst hatte, „als es nur mit einer gehörigen Portion Glück gelungen war, einen Atomkrieg zu verhindern“ (Thränert). Heute ist Russland nicht am Status-quo interessiert, sondern eine revisionistische imperiale Macht, wie die flächendeckende Invasion der Ukraine 2022 drastisch gezeigt hat. Tabus gibt es keine mehr.

Rüstungskontrollverhandlungen bedürfen ganz besonders der Ressource Vertrauen, wenn es über Abgründe hinweggeht. Der Wille zur Selbstbehauptung ist allen Lebewesen und politischen Kollektiven eigen. Sich durch Verträge, Regeln und Abmachungen aller Art ‚abrüsten‘ zu lassen, setzt deswegen sehr viel Vertrauen voraus, das rasch wieder verloren gehen kann. Sie bedürfen außerdem verifizierbarer Überprüfungen, die politisch zugelassen werden müssen. Dieses Vertrauen ist derzeit im Verhältnis zwischen Russland und den USA, der einstigen Anti-Hitler Koalition, nicht nur verspielt, sondern gründlich zerrüttet.

Russland hat gemäß Thränert schon vor Jahren neue Marschflugkörper stationiert, die gegen den INF- Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) von 1987 (Reagan/Gorbatschow) verstießen, worauf Präsident Trump, den Vertrag kündigte, was die Nato unterstützte. Neue Verträge bedürfen bei dieser Materie zudem eine Zweidrittelmehrheit im US-Senat, was bei der derzeitigen politischen Polarisierung kaum vorstellbar ist. Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für eine Politik der Abrüstung.

Vor allem aber hat sich die internationale Lage mit dem dritten atomaren Akteur China, der Weltmachtambitionen hat, dramatisch verkompliziert. Das Land rüstet schnell und massiv auf und will seinen Aufstieg nicht durch Rüstungskontrollen behindern lassen. Auf den Weltmeeren wird dies demonstrativ und konfliktiv sichtbar, wo die Flotte jedes Jahr um die Größenordnung der französischen Marine zunimmt. Dazu kommen Flugzeugträger. Das erinnert ans Wilhelminische Deutschland und die Tirpitzsche Flottenpolitik.

Die kommunistische Diktatur würde die für Rüstungskontrollen nötige Transparenz nicht zulassen. Ohne den Einbezug Chinas machen Abrüstungsverhandlungen jedoch keinen realistischen Sinn. Und Europa? Ist es zur Zuschauerrolle verdammt? Und wie geht es mit der nötigen Abschreckung gegen Russland um? Was heißt hier Verteidigungsfähigkeit? Putin hat zurecht Angst vor allem vor der konventionellen Stärke der Nato, genauso wie Nordkorea und Iran.

Die politische und sachliche Komplexität des Problems, das ohnehin schwierig ist, hat sich damit noch einmal enorm vergrößert und verschärft. Weder die militärtechnologische Entwicklung noch die geopolitischen Konflikte sind unter Kontrolle. Fördern neue Waffensysteme, die an Rasanz und Vielfalt zunehmen, die strategische Stabilität oder wird sie unterlaufen ? Zahlreiche detaillierte schwierige militärtechnische und taktische Fragen mit großen Auswirkungen stellen sich.

Allein schon diese Komplexität führt zur kognitiven Verzweiflung. „Einfach den Dingen ihren Lauf lassen“ (Thränert), ist jedoch auch keine Lösung und widerspricht den Möglichkeiten des Politischen als Handelnkönnen, wozu auch der Mehrwert der stark personenabhängigen Diplomatie mit politischer Macht gehört.

Wie der Ukraine-Krieg ausgeht, weiß im Sommer 2023 niemand, wie es mit dem Putinschen Russland weitergeht, ebenso wenig. Auf die Kremologie ist kein Verlass und ständiger Alarmismus in Bezug auf China klärt nicht auf. Warum kann es nicht (krisenbedingt) zu einem Tauwetter in den Beziehungen zwischen den USA und China, seinem ersten strategischen Rivalen laut neuer Pentagon-Strategie, der riesige eigene Probleme hat, kommen?

Die Spannung zwischen Struktur und Ereignis ist historisch-soziologisch allgemein gegeben. Sie begünstigt in Bezug auf die Weltgesellschaft, den Welthandel wie die Weltpolitik strukturtheoretischen Determinismus ebenso – wie gerade vor diesem Hintergrund – überraschende Ereignisse und Zufälle immer möglich sind. Diese Spannung, die zur Geschichte gehört, lässt sich nicht auflösen.

Denken wir nur an Nixons Chinadiplomatie zurück (der ansonsten nicht gut wegkommt) oder auch an die Überraschung Gorbatschow und seinen Aufstieg, mit dem niemand gerechnet hatte. Das soll an dieser Stelle nur sagen: bei allem theoretischen Pessimismus, den wir hier nicht weiter ausführen wollen (die Blogs über den Ukraine-Krieg haben das zur Genüge getan), ist ein strenger technologischer Determinismus gleichwohl ebenso irreführend wie ein zivilisatorischer Exterminismus.

Wie also müssen wir heute ‚Abschreckung‘ neu denken ? Vielleicht müssen wir uns dabei auch von der alleinigen Fixierung auf die Atomwaffen lösen. Die Zerstörungskraft der stärksten konventionellen Waffen erreicht heute manch atomare Waffen, was sie als bloße Drohung relationiert, wenn auch nicht relativiert, insofern als nicht-totale Kriege wieder wie im 19. Jahrhundert geführt werden können. Das heißt: die totale (Selbst-) Zerstörung ist mehr Theorie als reale Option.

Wie aber hütet man sich vor Fatalismus in der politischen Theorie bei einem so komplexen Thema? Dagegen ist schwer anzugehen, nur schon bei der möglichen Thematisierung, die mehr als notwendig ist. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Technik müssen dabei aus sachlichen Gründen inter- und transdisziplinär zusammenspielen. Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges ist groß, da die fragile nukleare Abschreckung aus sich selbst heraus nicht strategische Stabilität generiert.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire