Die ‚Räterepublik‘ der Beiräte 

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Rat ist gefragt, Beiräte auch. Wie Pilze schießen sie aus dem Boden, vor allem auf kommunaler Ebene, aber auch anderswo. Was die eine Stadt hat, muss die andere auch haben. Das gehört mittlerweile zum Stadtmarketing. Beratung ist freilich immer gut, Beratungsresistenz fast immer schlecht, denn Beratung ist ein Prozess, in dem Ansichten und Argumente ausgetauscht werden und somit Lernprozesse stattfinden können.

Dazu sagt man heute in der Politikwissenschaft auch: ‚deliberative Prozesse‘, wobei diese unterschiedlichen Qualitäten und Settings kennen, womit dann erst eigentlich die kritische Forschung beginnen würde, abgesehen von der Macht der Verbalisierung, die sehr ungleich verteilt ist. Aufgrund der signifikanten Zunahme solcher Prozesse in den letzten 15 Jahren ist auch – in Analogie zur Legislative, Judikative und Exekutive – von ‚Deliberative‘ die Rede, genauer: von ‚Konsultative‘ (Nanz/Leggewie 2016). 

Das heißt mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung. Das ist originell, aber was verbirgt sich dahinter? Eine verbesserte neue Demokratie oder das Gegenteil: mehr simulierte Demokratie für real weniger Demokratie angesichts überwältigender Prozesse? Dieser Frage wollen wir im Folgenden nachgehen. 

Wir beginnen klein, mit den Beiräten auf kommunaler Ebene. Das Allgemeinste, was man über sie sagen kann, ist, dass sie eine beratende Funktion und meistens nur geringe Mitbestimmungs- oder gar Entscheidungs- und Kontrollfunktion haben. Sie können und wollen aber Einfluss nehmen, im besten Falle auf die Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger, weshalb die Diskussion über ihre Wirksamkeit kein Ende nimmt. Gerade im Zusammenhang mit dem Thema der Bürgerbeteiligung und bürgerschaftlicher Selbstwirksamkeit entfacht sie immer wieder neu, so nicht zufällig auch im Beteiligungsrat der Stadt Potsdam, den es seit 2013 gibt. 

Er ist Teil der neu strukturierten Bürgerbeteiligung (die selbst Resultat eines langen Beteiligungsprozesses 2010-2013 war) mit einer internen (verwaltungsbezogenen) und einer (zivilgesellschaftlichen) ‚Werkstadt für Beteiligung‘. Das ganze Experiment ist 2013-2016 vom Institut für Urbanistik wissenschaftlich evaluiert worden (2017). 

In diesem Zusammenhang von Stadtpolitik, Verwaltung und zivilgesellschaftlicher Bewegung wird versucht, das Versprechen der Bürgerbeteiligung in der Stadt ( ‚ Mitreden findet Stadt‘ im Sinne des neuen Leitbildes ‚Eine Stadt für Alle 2025‘, beschlossen 2016 von der Stadtverordnetenversammlung) zunehmend zahlreicher und vielfältiger zu realisieren. 

Die neue Struktur sollte die Beteiligungskultur fördern. Auch der viele einbeziehende (digitale) Öffentlichkeitsauftritt und der Newsletter der Landeshauptstadt sind in den letzten Jahren ausgebaut geworden. Das ist Ausdruck der realexistierenden Stadtgesellschaft. Doch der Zweifel der (Selbst-) Wirksamkeit ist geblieben. 

Beiräte 

Der Beteiligungsrat ist nur ein Beirat. In Potsdam gibt es gemäß Hauptsatzung und auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung verschiedene Räte zur „Verwaltung von Interessen, die für die Landeshauptstadt von besonderem Belang sind“. 

Es sind dies in alphabetischer Reihenfolge: 

  • Behindertenbeirat 
  • Beteiligungsrat 
  • Digitalisierungsrat 
  • Ernährungsrat 
  • Gestaltungsrat 
  • Klimarat 
  • Migrantenbeirat 
  • Naturschutzbeirat 
  • Seniorenbeirat 
  • Wirtschaftsrat 

Der jüngste Beirat wird sich dem neuen politischen Thema ‚Ernährung‘ widmen. Der Digitalisierungsrat ist ebenfalls neu im Zusammenhang mit dem Smart City Projekt einberufen worden. Er hat 12 Mitglieder auf Vorschlag des Oberbürgermeisters, die von der Stadtverordnetenversammlung für drei Jahre bestätigt werden müssen. Neu ist, dass in ihm auch zwei Mitglieder aus anderen Beiräten: Klimarat und Beteiligungsrat, vertreten sind. 

Das ist ein Hinweis darauf, dass der Austausch und die wechselseitige Verstärkung der Beiräte ein kleiner, wenn auch wichtiger Schritt effektiver Beteiligung sind. Er sollte weiter ausgebaut werden, wofür Neugierde und ein Interesse aneinander die Voraussetzung ist, die leider zugunsten von Indifferenz und eigenem ‚Vereinspatriotismus‘ oft nicht gegeben ist. 

Kritisch lässt sich anmerken, dass solche Räte oft von Expertenräten kaum zu unterscheiden sind. So beim Digitalisierungsrat, wo die Professoren überwiegen oder beim Gestaltungsrat, wo die Architekten den Ton angeben, aber auch beim Klimarat überwiegt die Reputation trotz der Aufnahme von zwei Jugendlichen von Fridays for Future. Expertenräte gibt es viele, auch und gerade auf einflussreichen Ebenen mit großer Reichweite (EU, Bundesministerien), die dafür immer mehr Geld ausgeben. Insofern existiert insgesamt eher eine Expertokratie als eine Bürgerdemokratie. Das gilt um so mehr, je exekutivlastiger das politische System ist. 

Die wissenschaftliche Politikberatung ist seit jeher ein Kennzeichen modernen Regierens, bei dem in Krisenzeiten, wenn keine parlamentarische Mehrheit gefunden werden kann, sogar technokratische Kabinette von Fachleuten regieren (Draghi in Italien ist ein Beispiel). Sie sind oft beliebt und populär („Supermario“). Das wäre dann die Ablösung der Demokratie durch Technokratie, was ohnehin eine mächtige Entkoppelungs-Tendenz in manchen Ländern und auf der EU-Ebene ist. 

Die Wissenschaft ist zweifelsohne wichtig für eine evidenzbasierte Politik. In manchen besonders zentralen Bereichen gibt sie sogar die Vorgaben, Kriterien und Ziele, die erreicht werden müssen. Aber sie regiert nicht und übernimmt dafür auch keine Verantwortung! 

Stattdessen wird der Politik (im Singular) – wer ist das? – immer mehr aufgebürdet. Resultiert daraus der ungebremste Staat? Wo also beginnt die systematische Überforderung? Das wäre eigentlich die interessante Frage, die man sich von bürgerlich-politischer Seite selbstkritisch stellen müsste, über die man jedoch kaum diskutiert. Man tut so, als hätte man alles im Griff, in Wirklichkeit ist alles außer Kontrolle und für die großen Krisen gibt es keine Lösungen. 

Es gibt aber auch die gegenteilige handlungsoptimistische Tendenz des kompetenten und sachkundigen Bürgers – des ‚Bürgers als Beruf‘ in Analogie zu ‚Politik als Beruf’(Max Weber). Das ist die partizipative Tendenz (siehe Sintomer 2014). Daran schließen wir an mit unseren demokratiepolitischen Überlegungen zur verbesserten Bürgerbeteiligung. 

Im Folgenden bleiben wir in diesem Rahmen, wenngleich das sogenannte Expertenwissen und die Technokratie mit ihrer Legitimation der Meritokratie eine eigene gewichtige Analyse erfordern würden. Zum großen und wachsenden Stellenwert des Expertentums in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation siehe Morandi 2023, der die politische Theorie der Technokratie ernst nimmt. Über Technokratie und Populismus als zwei Seiten einer Medaille siehe auch Kleger 2018. 

Für uns ist an dieser Stelle nur wichtig, in ‚deliberativ-partizipativer‘ Hinsicht selbstkritisch zu bleiben und bei der „professionalisierten Bürgerbeteiligung“ auf solche Tendenzen (auch der Akademisierung in Sprache und theoretischer Reflexion) zu achten und diesbezüglich nicht unkritisch zu werden, wenn es beispielsweise um Stadtentwicklungen einer deklarierten ‚Stadt für Alle‘ geht. 

Inklusion und Beteiligung müssen zusammenspielen. Die Stadtgesellschaft ist nicht nur vielfältig, sondern auch sozial geschichtet und gespalten. Nicht nur für die Wissenschaftsstadt Potsdam, die zur ’soliden Mitte‘ gezählt wird, ist das offensichtlich. 

Beiräte werden gewählt, gelost oder berufen. Ihre demokratische Legitimation ist also ganz unterschiedlich. In Brandenburg entscheidet die einzelne Gemeinde, ob sie Beiräte einrichten will (KomVerf &19). Gewisse Beiräte vertreten zudem Interessen: zum Beispiel der Migrantenbeirat seit 1992, als er noch Ausländerbeirat hieß, der Behindetenbeirat, der eben nach langer Abstinenz wieder gewählt worden ist, oder der Seniorenbeirat mit großen Potentialen für die ehrenamtliche Arbeit. 

Diese Beiräte sind ihrer Klientel verpflichtet und müssen oft anecken, wenn es zum Beispiel um den Standort eines Asylbewerberheimes oder um das Ausländeramt geht oder um Behindertengerechtigkeit oder Altersarmut und Einsamkeit. In solchen Fällen zeigt sich, wie nötig sie sind. Sie müssen zudem den Kontakt zum Land ebenso suchen wie zu den gesellschaftlichen Bewegungen, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, die laut sein muss. 

So ist der Migrantenbeirat auch Mitglied bei ‚Potsdam bekennt Farbe‘ und beim ‚Neuen Potsdamer Toleranzedikt‘. Die Beiräte können sich mithin nach innen verstärken durch eine eigene Geschäftsordnung, im Austausch untereinander sowie nach außen zusammen mit Bewegungen in der Stadtgesellschaft. 

Sie sind nicht bloß Gremien und als Interessenvertretung mehr oder etwas anderes als Rat, Beratung und Deliberation. Als solche sollten sie auch nicht arbeiten, wenn sie attraktiv bleiben wollen. Politische Selbstläufer wie demokratische Institutionen (Wahlen, Abstimmungen, Parlamente, Koalitions-Regierungen, Verfassungsgerichte) sind sie nicht. 

Oft hat man Mühe, überhaupt engagierte ehrenamtliche Bürger und Bürgerinnen zu finden, welche bereit sind, kontinuierlich die zeitlich anspruchsvolle Arbeit, die sich schnell erweitert, zu machen. Mit der Zeit ist deshalb besonders sorgsam umzugehen. Der Bürger/ die Bürgerin hat auch noch andere Berufe und Verpflichtungen. Lückenbüßer der Politik sind sie nicht. 

Ortsbeiräte 

Ortsbeiräte wiederum sind nicht lediglich Beiräte im obigen Sinne. Sie haben ein Mandat und sind demokratisch gewählt, meist im Zusammenhang mit Kommunalwahlen. Sie sind Interessenvertretungen von Ortsteilen, nicht nur in Potsdam und Brandenburg. In unterschiedlichen Bundesländern heißen sie verschieden. 

Die Gemeindegebietsreform 2003 hatte zur Eingemeindung der umliegenden Dörfer, zum Teil gegen ihren Willen geführt. Seitdem gibt es Spannungen zwischen den Ortsbeiräten (zum Beispiel von Groß Glienicke, Neu Fahrland oder Golm) und der SVV in Potsdam, denen sich auch der Beteiligungsrat angenommen hat. Siehe dazu die Stellungnahmen vom 3.11.2020 und 28.5.2021: „Ortsbeiräte stärken“. Ein Workshop und ein Gutachten (Franzke 2021) waren die Folge. 

Systematisch geht es um das Verhältnis von Dörfern, die solche bleiben wollen, und den Sichtweisen der Stadt auf Probleme wie Verkehr und Schulplanung. Planung muss heute weitgehend regional ausgerichtet sein. Das eingemeindete Land/ Umland, welche das Gemeindegebiet erheblich vergrößert hat, führt mit seinem Eigenleben indessen zu Konflikten mit der innerstädtischen Demokratie, bei dem sich die Ortsbeiräte oft übergangen und nicht gehört sehen, obwohl sie formal zur Stadt gehören. Sie wollen aber nicht bloß städtische Baulandreserve sein. 

Auch bei den Stadtteilen stellt sich das Problem einer eigenen Vertretung, und man muss aufpassen, dass es nicht diesbezüglich wieder zu einem Wildwuchs der Räte (Stadtteilräte) und verschiedener Arten der Beteiligung kommt. Umgekehrt ist die Verbindlichkeit der Ortsbeiräte auch von der Landesverfassung her definitiv zu klären. Das sind kleine demokratietheoretische Probleme auf einer neuen Ebene, die aber demokratisch gewünscht waren und bestimmten stadtregionalen Entwicklungen entsprechen. 

Bürgerräte 

Bürgerräte sind wiederum etwas anderes. Sie stehen demokratietheoretisch in der Nähe von losbasierten Beiräten wie etwa dem Beteiligungsrat, den es nicht nur in Potsdam, sondern auch in Erfurt gibt, wenn auch in anderer Form. Ein Austausch hat immerhin schon stattgefunden, was vermehrt zu begrüßen wäre. Bürgerräte indessen funktionieren temporär für jeweils ein bestimmtes Thema. Nicht jedes Thema ist gleichermaßen geeignet.

Bürgerräte sind momentan der nächste Hype der Bürgerbeteiligung nach den ‚Planungszellen‘, den ‚Stadtforen‘ und den ‚Bürgerhaushalten‘. Nicht immer ist daraus etwas geworden, was man sich überschwänglich erhofft hatte, was oft an der mangelnden Vorbereitung, der nötigen politischen Verankerung und falschen Erwartungen lag, die meistens im Kopf beginnen mit fehlenden begrifflichen Differenzierungen.

Das war schon bei der Einführung des Bürgerhaushalts in Deutschland der Fall. Dort jedoch, wo der Bürgerhaushalt in der Stadtgesellschaft angekommen ist und immer weitere Kreise zog, war nicht nur viel Beharrlichkeit, sondern auch ein intensives kooperatives Zusammenspiel zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft (siehe Dänzer/Maaß 2023) über mehrere Jahre erforderlich.

Was ist eigentlich aus den Ergebnissen des Klimarats 2021 mit 160 Menschen und 12 Sitzungen geworden, wenn heute die ‚Letzte Generation‘ wieder vehement einen Klimarat oder ‚Gesellschaftsrat‘ fordert? Auf Bundesebene will man neuerdings mit einem Ernährungsrat beginnen, den es auf kommunaler und regionaler Ebene schon gibt. Das alles wirft ein Schlaglicht auf die bestehende Öffentlichkeit sowie die Effektivität und Legitimität dieses spezifischen Politikinstruments, das letztlich von führenden Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie (Schäuble, Bas) lanciert wird.

Auch die losbasierten Bürgerräte darf man sich nicht einfach als Ersatz der direkten Demokratie vorstellen, sondern bestenfalls als Kombination mit ihr. Dafür müssen aber zumindest ihre Empfehlungen bekannt und handlungswirksam werden. Das Empfehlungsschreiben wird dem Bundestag übergeben, so am 19. März 2021 an den Bundestagspräsidenten Schäuble über nichts weniger als „Deutschlands Rolle in der Welt“. 

Was ist daraus geworden? Wer verarbeitet die Ergebnisse? Welche Schlüsse werden gezogen und gegebenenfalls wie umgesetzt? Worin liegt die Verbindlichkeit und wer übernimmt die Verantwortung dafür? Kann auf diese Weise durch Bürgergutachten, die immer beachtenswert sind, die Kluft zwischen der parteienstaatlichen Demokratie und der breiten Bürgerschaft kleiner werden? 

Mit neuen Formaten wie Bürgerräten, die aus Irland kommen (Irish Citizens‘-Assemblys 2016-2018), wird inzwischen auch in Frankreich (Convention Citoyenne pour le Climat 2019/2020) und in Deutschland experimentiert, in Leipzig 2019 (zum Thema ‚Demokratie‘) und in Berlin 2022 (zum Thema ‚Klima‘). In Frankreich, wo die parlamentarische Demokratie nicht so stark ausgeprägt ist wie in Deutschland, hat man den Eindruck, dass der mächtige Präsident zur Audienz einlädt. Geht also das Ganze über Anhörungen hinaus und spiegelt Bürgernähe vor? 

Sogar auf europäischer Ebene sollen Bürgerräte eine ‚Konferenz zur Zukunft Europas‘ (2021) einleiten, welche die vom französischen Staatspräsidenten in seiner Rede an der Sorbonne (26. September 2017) angekündigte „Neugründung Europas“ vorbereiten soll (22 Seiten, wer hat sie gelesen?). Dies soll – wie schon 2003 – in einen Konvent münden und zur Weiterentwicklung eines europäischen Bundesstaates führen, der dezentral und nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert ist und die Grundrechtecharta zur Grundlage hat. So steht es 2021 im Koalitionsvertrag der neuen Fortschrittsregierung (S. 132). Das sind große Ankündigungen. 

Dasselbe Problem der Verbindlichkeit existiert auch bei den verschiedenen Varianten von Bürgerhaushalten vom konsultativen Verwaltungsinstrument bis hin zum Porto Alegre-Modell. Bei diesen teils sehr aufwendigen Verfahren geht es immer auch um das Demokratieverständnis. Welche Demokratie soll wie verändert werden: die kommunale, die repräsentative, die Parteiendemokratie oder die direkte Demokratie? 

Bürgerräte müssen nicht auf den politischen Bereich fokussiert sein und können sich auf unterschiedliche Ebenen beziehen (nicht nur Kommunen, sondern auch Bund und EU). Bürgerräte können also vielfältig als Beteiligungsinstrumente genutzt werden, sie können zudem demokratiestützende Erfahrungsräume (etwa auf Wahlkreisebene) und vorbildliche Diskursräume mit Moderation und Experten werden. 

Schwache, unterrepräsentierte und abwesende Stimmen sollen durch Zufallsauswahl und aufsuchende Arbeit gestärkt werden (Liesenberg/Strothmann 2023), das ist das Ziel. Man wird sehen, was die weiteren Erfahrungen und Forschungen erbringen. Man darf gespannt sein auf die Zusammenarbeit mit den Parteien in den Wahlkreisräten. Ob sich da etwas bewegen lässt? 

Demokratie 

Wie die 68er Studenten die sozialistische Räterepublik (Sowjets, Karl Liebknecht) mit direkter Demokratie, die sie nicht kannten, verwechselten, so darf man die parteienstaatlich parlamentarische Demokratie nicht mit Bürgerbeteiligung und Räten verwechseln. Das wäre ein Etikettenschwindel. Das heißt aber nicht, dass man das Kind der Räte mit dem Bade makrodemokratischer Einwände ausschütten muss. Die parteiliche (Berufs-) Politik kann Arbeitsteilung gebrauchen und vertragen. 

Man soll nur die verschiedenen Räte kategorial und inhaltlich angemessen einschätzen und so keine falschen Erwartungen schüren, die zwangsläufig zu Enttäuschungen und Frustrationen führen müssen. Ohne den Beteiligungsrat in Potsdam hätte es keine Bürgerbudgets für den Bürgerhaushalt, keine mobile Beteiligung mit dem Planlabor auf dem Marktplatz im Schlaatz, kein neues Planungsverfahren für die Pirschheide gegeben. Das sind kleine, aber konstruktive Schritte – kleinteiliger Meliorismus, Demokratiepolitik im Kleinen. 

Zur Demokratieresignation kommt es hingegen, wenn die Kommunen systematisch überfordert werden und zum Beispiel die Flüchtlingsaufnahme an Akzeptanz verliert mit Auswirkungen auf Schulen, Kitas, Unterbringung, Sprachunterricht und Integration. An diesen Schnittstellen zu den Bürgern und ihrer Lebenswelt wirkt sich schlechtes Regieren von Bund, Ländern und EU für alle nachvollziehbar dramatisch aus. Das ist politisch gefährlich. 

Ebenso, wenn für Parlamente nicht genügend Zeit für die Beratung und Debatte von Gesetzen bleibt, wie jüngst beim Heizungsgesetz, wo sogar das Bundesverfassungsgericht eingreifen musste, was ein Desaster für die parlamentarische Demokratie darstellt. Das zeigt, dass Demokratiepolitik auch im Makro- beziehungsweise in Kernbereichen (abgesehen von den Problemen des Rechtsstaates!) nötig ist. Statt atemloser Aktivismus sollte man sich mehr Zeit nehmen für reflektierte Demokratiepolitik im Großen, die gleichzeitig mehrere Baustellen hat. Der Einsatz verschiedener Instrumente ist klug und wirkungsvoll aufeinander abzustimmen. 

Demokratiepolitik ist kein Modethema, sondern ein komplexes, relationales Feld mit verschiedenen Bezügen, die bekannt sein müssen und keine parteipolitische Einseitigkeit vertragen. Die Mikroebene bedarf dabei mehr Aufmerksamkeit und Offensive in der Öffentlichkeit. Auch die weitgehend ehrenamtlichen Stadtparlamente mit ihren überladenen Tagesordnungen müssen aufpassen, dass sie sich nicht strukturell, sachlich und zeitlich selbst überfordern. 

Dafür kompensatorisch immer neue Beiräte einzurichten, ist keine Lösung. Schlechtes Regieren und die Missachtung der föderalen Ebenen zuungunsten der Kommunen führen vor allem zur Demokratiekrise bei den Bürgern und Bürgerinnen bei allem guten Willen. 



Literatur: 
Bock, Stephanie/Reimann: Mehr Beteiligung wagen. Evaluationsbericht, Norderstedt 2017 
Dänzer, Frank/Maaß: Kein Haushalt ohne Bürgerhaushalt, in: Kleger/Klein 2023 
Franzke, Jochen : Das Zusammenwirken der Ortsbeiräte mit der Stadtverwaltung und der SVV, 32 Seiten, KWI Potsdam 2021 
Jakobs, Jann/Kleger( Hg.): Auf dem Weg zu einer strukturierten Bürgerbeteiligung, Potsdam 2013 
Kleger, Heinz: Demokratisches Regieren. Bürgersouveränität, Repräsentation, Legitimation, Baden-Baden 2018 
Kleger, Heinz/Klein (Hg,): Demokratiepolitik, Wiesbaden 2023 
Liesenberg, Katharina/Strothmann: Beyond the Hype: Was es braucht, damit Bürgerräte tatsächlich die Demokratie stärken, in: Kleger/Klein 2023 
Morandi, Pietro: Die politische Funktion des Expertentums, Göttingen 2023 
Nanz, Patrizia/ Leggewie: Die Konsultative, Berlin 2016 
Sintomer, Yves: Vom Benutzerwissen zum Beruf des Bürgers? In : D’Amato/Karolewski (Hg.), Bürgerschaft und demokratische Regierbarkeit in Deutschland und Europa, Baden-Baden 2014 
Weber, Max: Politik als Beruf, Stuttgart 1992 (1919)

Bildnachweis: Agentur Medienlabor