Die Fortschrittskoalition und ihre Idee des Fortschritts

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Es gab und gibt eine Tradition des Fortschritts. Fortschritt ist für uns ein grundlegender Orientierungsbegriff neuzeitlicher Prägung, ja man müsste sogar sagen: er definiert die Neuzeit (Koselleck, Art. ‚Fortschritt‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1975, S.351-423). Fortschritt ist ein geschichtsphilosophischer Universalbegriff mit der Menschheit als Subjekt ihrer eigenen Geschichte.

Real und analytisch wird Fortschritt jedoch meist sektoriell auf Bereiche (wissenschaftlich, technisch, wirtschaftlich, kulturell, politisch) eingegrenzt und mit zeitlichen Spannungen untereinander versehen, die Nachahmung suggerieren und Aufholen erzwingen. Dieses Verständnis von Fortschritt ist aktuell, umfassend und dominierend geblieben, nämlich als Dynamik und Diktat der führenden Systeme, was Anpassungszwänge für die Nachzügler hervorruft.

Fortschritt als Hoffnungs- und Zukunftsbegriff

Fortschritt führt als Begriff eine normative Zustimmungspflicht mit sich. Er meint als großer wie als kleiner Fortschritt generell einen Schritt zum Besseren, der Hoffnungen bündelt und in die Zukunft verlagert. Er ist somit neuzeitlich ein Hoffnungs- und Zukunftsbegriff. Zudem bringt dieser Fortschritt die Idee der Planbarkeit der Gesellschaft mit auf den Weg, die unmittelbar an die wissenschaftlich-technischen Zivilisation gekoppelt ist.

Letzteres führt in einem säkularen Zeitalter zu einem Wissenschafts- und Technikglauben.
Um es kurz und einfach zu sagen: Fortschritt geht mit einer optimistischen Geschichtsbetrachtung einher, deren Gegner der Kulturpessimismus ist. Selbst Krisen werden auf diesem Hintergrund zu (Lern-)Chancen für weiteren Fortschritt, insbesondere die Liberalen sehen in jeder Krise eine Chance.

Fortschritt bezeichnet demnach ein Bewusstsein historischer Zeit, wonach “ alle bisherige Erfahrung kein Einwand gegen die Andersheit der Zukunft sein kann. Die Zukunft wird anders sein, und zwar besser“ (Koselleck 1979, S.364). Dieses letzte „und zwar besser“, der Glaube an einen unwiderstehlichen Fortschritt, wie ihn zum Beispiel Kant als Fortschritt der Menschheit „Zum ewigen Frieden“ (1795) konzipierte oder wie er von Marx im „Kommunistischen Manifest“ (1848) geradezu euphorisch angesprochen wurde, ist heute, nach den Erfahrungen schwerer Krisen, von politischen Extremen und Zivilisationszusammenbrüchen, in Frage gestellt.

Die Zukunft kann anders sein als die Vergangenheit, und zwar schlimmer. Insofern ist der typische Überschwang in beiden Arten optimistischer Geschichtsbetrachtung – im Kantischen Modell über den Rechtszustand wie im Marxschen Modell über die kapitalistische Globalisierung vermittelt – zumindest gedämpft. Nicht nur für die Aufklärung, auch für die Abklärung der Aufklärung gibt es gute Gründe.

Ich will hier zunächst nur einige allgemeine Fortschrittszweifel nennen :

– der Wachstumspfad des industrialisierten Nordens als zukunftsträchtiger Entwicklungspfad
– die exklusive Besetzung durch eine holistische Idee oder Ideenströmung
– das Ende der Planbarkeitseuphorie bzw. die Grenzen der Interventionismus-Kräfte generell, was
– auf die Idee des besseren Regierens durchschlägt.

Bewusst habe ich im letzten Satz von Grenzen gesprochen und nicht wieder von Krise, denn 
– im Bespiel gesprochen – : dass sich die keynesianisch- technokratische Vision eines durch Globalsteuerung der Gesamtnachfrage für einen krisenfreien modernen Kapitalismus als Illusion erwiesen hat , bedeutet nicht, dass eine kluge Politik der Kombination von starkem Staat und Markt und – das kommt nach den 80er Jahren hinzu: – sich befreiende Zivilgesellschaft als politische Aufgabe – an der richtigen Stelle und als komplexer Mix nicht etwas bewirken kann.

Politik kann und muss etwas bewirken, Handlungs- und Zweckoptimismus gehören zu ihren Prämissen, von denen sie ausgeht. Heute heißt es positiv: ‚gestalten‘ und ‚verändern‘. Verstärkend ist ‚Engagement‘, als Wort und Begriff selbst aus der französischen Existenzphilosophie nach dem 2. Weltkrieg stammend, zur guten menschlichen Existenzform schlechthin geworden. 

Die Politik – von Menschen und nicht von Systemen gemacht- kann über sich hinauswachsen, was im Großen – über bürgerschaftliches Engagement hinaus – vor allem auch Anstrengungen und Zumutungen für alle Bürger und Bürgerinnen bedeutet. Sie müssen deshalb als Demokraten diese Politik mitdenken, mittragen und zumindest in ihren Prioritäten mitentscheiden können.

Dabei geht es vermehrt und verstärkt um demokratisches Regieren und nicht nur um bessere technokratische, neokonservative oder neoliberale Steuerungskonzepte, die sich überlegen denken. Die wuchernde Hyperkomplexität fordert Konzepte der Entdifferenzierung heraus, darunter auch demokratische Entdifferenzierung. Das ist neu in der moderne Fortschrittsgeschichte: Fortschritt als Entdifferenzierung. Was heißt dann noch Fortschritt im Streit um politische Aufklärung? 

Der kognitive Zwang zum Fortschritt verlangt heute eine komplexere Fortschrittsorientierung, welche beispielsweise die ökologische Fortschrittskritik aufnimmt. Die schleichende ökologische Krise kann nicht länger bloß als Fortschrittsnebenfolgen verbucht werden. Der Fortschritt ist gleichermaßen in eine Ziel- und in eine Steuerungskrise geraten. 

Die Rechte der Natur und künftiger Generationen sind keine akademischen Themen ökologischer Ethik mehr, sondern spätestens seit den „Grenzen des Wachstums“ Mitte der 70er Jahre ernsthafte Herausforderungen für die Politik geworden. Mit Politik meine ich gleichermaßen bürgerschaftliches Engagement, politisches Engagement und Regierungspolitik. Die Klimakrise und die Naturkatastrophen mit ihren apokalyptischen Bildern in ihrem Gefolge haben diese Diskussion in jüngster Zeit weltweit dramatisiert.

Dabei handelt es sich um eine Neu-Symbolisierung des Fortschritts, das, was heute ‚Narrativ‘ oder schlicht ‚Erzählung‘ genannt wird. Eine solche Fortschrittserzählung ist eine Konstruktion, die aktuell Tradition mit Aufbruch verbindet und für ein notwendiges Minimum an Kontinuität im Bewusstsein und gesellschaftlicher Stabilität sorgt. 

Die Neu-Symbolisierung des Fortschritts umfasst heute auch die Erinnerungsarbeit, die in der Einwanderungsgesellschaft global geworden ist. Das betrifft sowohl die Rekonstruktion der realen Geschichte (‚Globalgeschichte‘) als auch die Erinnerung an Unabgegoltenes der ‚vergangenen Zukunft‘ (Koselleck). Mit Letzterem verbindet sich die antizipatorische Kritik, die Vorwegnahme einer besseren Welt, die möglich ist.

Symbolisiert werden Richtungen und nicht nur Fortschrittsziele oder Modernisierungsschritte. Richtungen stehen anstelle von Vereindeutigungen der Geschichte. Die Geschichte gilt es perspektivisch zu öffnen und offenzuhalten gegen das Posthistoire eines technologischen Determinismus: “ die Abwicklung, das Pensum“ (Gehlen 1975, S.126). In der Realität vermengen sich freilich verschiedene Varianten, die Geschichte zu vereindeutigen (z.B. in Richtung Sozialdarwinismus, Exterminismus oder Apokalyptik), die wir hier nicht im Detail erörtern können.

Wir schwanken heute zwischen Fatalismus und Naivität. Bei aller Kritik ist Naivität besser als Fatalismus und Demokratieresignation. Jeder Aufbruch ist mit einem Stück Naivität beziehungsweise Neugier auf Neues behaftet. Das Stabilitätsdenken ist demgegenüber (struktur-)konservativ. Genauso wie es einen Konservativismus aus Lebenserfahrung (als kontingente Herkunftsprägung und Orientierung am Bewährten) gibt, so gibt es unstreitig immer einen Handlungsbedarf in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik. Dem Fatalismus kann man sich jedenfalls in einer Leistungsgesellschaft nicht hingeben; die Folgenabschätzung, die schwierig ist, sollte man aber auch nicht außer Acht lassen: Die komplexe Fortschrittsorientierung ist reflexiv geworden.

Der Status quo kann nicht auf einmal und im Ganzen verändert werden. Heute ist es nach 16 Jahren Regierung Merkel nicht verwunderlich, dass vielfach von Stillstand und Aufbruch die Rede ist, ob berechtigt oder nicht. Dies war schon nach 16 Jahren Kohl so. Welcher Fortschrittsglaube ist also mit dem neuerlichen Aufbruch noch verbunden? Das ist unsere Frage in diesen Ausführungen.

Sozialdemokratische Fortschrittserzählung 

Das solide erarbeitete Zukunftsprogramm der SPD wird an ihrem ersten digitalen Parteitag der Geschichte mit 99% Zustimmung verabschiedet (siehe auch den Blog-Artikel vom 12. Mai). Von der Rede des Kanzlerkandidaten Scholz wird das Signal zur Aufholjagd in der Bundestagswahl erwartet. Scholz liegt zu diesem Zeitpunkt noch weit zurück. An diesem Parteitag erfährt man buchstäblich, was Fokussierung auf Kanzlerdemokratie bedeutet: „Er ist der Mann, der alles, was wir beschlossen haben, aus dem Kanzleramt heraus umsetzen soll“ (Klingbeil).Darüber hinaus ist von Demokratie selten die Rede, was auch bezeichnend ist.

In der großen Rede von Scholz erfährt man noch einmal, was Gesellschaft des Respekts heißt, die der ehemalige Anwalt für Arbeitsrecht auch an Beispielen aus seinem neuen Wohnumfeld aus Potsdam, Cottbus und Brandenburg erläutert. Viele Ostdeutsche wissen schmerzlich, was schneller Wandel bedeutet, bei dem sie nichts zu sagen haben. Hoffentlich erlebt der „Bergmann aus der Lausitz“ nicht noch einmal ungefragt, dass mühsam ausgehandelte Versprechen nichts zählen. Scholz ist mit Rücksicht auf die Arbeitnehmer für den Kohleausstieg 2038, die Grünen dagegen für den vorgezogenen Ausstieg 2030. 

Tariflöhne sollten endlich auch für die Pflegeberufe und andere Berufe gelten. Im Kleinen und Materiellen lässt sich viel aufzählen, was Verkennung von Anerkennung bedeutet. Der alltägliche ‚Kampf um Anerkennung‘ (Hegel) ist insbesondere für die sogenannt kleinen Leute wichtig, wofür sie starke Verbündete brauchen, darunter einen Staat, auf den man sich verlassen kann – Wandel und Sicherheit.

Im Großen macht Scholz die Konservativen für den „Fortschrittsstau“ verantwortlich, den er mit einer breiten Allianz – er erwähnt den gestaltenden, das heißt auch den kooperativen und korporativen Staat, Technik, Wirtschaft und Wissenschaft – für einen neuen Fortschritt durchbrechen will. Mit Fortschrittsstau ist hier auch Investitionsstau gemeint. Von progressiver oder linker Mehrheit spricht Scholz an keiner Stelle.

Dafür überrascht die häufige klassische Rede vom Fortschritt, für den die Sozialdemokratie steht – die Sozialdemokratie als moderne Fortschrittspartei. Der starke Staat in der Krise braucht diese politische Ideenströmung mehr denn je, was auch der DGB bestätigt. Es ist kein Zufall, dass Rainer Hofmann als Erster zum digitalen Parteitag zugeschaltet wird.

Den Mindestlohn von 12 Euro will Scholz im ersten Jahr seiner Kanzlerschaft einführen, was eine Lohnerhöhung für 10 Millionen Arbeitnehmer bedeutet. Ebenso wichtig ist ihm die Wohnungs- und Mietfrage als die soziale Frage unserer Zeit, die er als ehemaliger Bürgermeister von Hamburg bestens kennt. Es soll wieder mehr gebaut werden in Deutschland, und eine Mietpreisbindung soll für die nächsten 5 Jahre gelten. Auf den Sozial-Demokraten Joe Biden , dem es Scholz gleichtun möchte, bezieht er sich gleich mehrmals in seiner Rede.

Die charakteristischen Elemente des sozialdemokratischen Diskurses von Scholz sind: Gesellschaft des Respekts, Politik der Würde, Mindestlohn, bester Sozialstaat , neuer Fortschritt sowie und vor allem die Formel: technologischen Fortschritt in sozialen Fortschritt umwandeln, was bedeutet, den Tiger zu reiten.

Die alte Programmpartei hat ihre Arbeit getan, auffällig in den großen traditionellen Worten einer großen Fortschrittserzählung, gemünzt auf künftige Herausforderungen. Common sense geworden – für die staatstragende Christ- wie Sozialdemokratie – ist die keineswegs selbstverständliche Fortschrittsformel der Bundesrepublik ‚Frieden, Rechtssicherheit und Wohlstand für alle‘, heute: klimagerechter Wohlstand für alle, wobei Sozialdemokraten besonders auf sozialen Ausgleich achten.

Die Sozialdemokraten haben damit ihren neuerlichen Führungsanspruch für eine Fortschrittskoalition untermauert und personalisiert, ebenso wie die neuen Grünen zuvor, wenn auch nicht so mitreißend, aber weit bestimmter und präziser als die regierende CDU, die zu diesem Zeitpunkt noch kein Wahlprogramm hatte.

Klimakrise, Klimawahl, Klimaregierung

Als Erste hatte Annalena Baerbock bei Gelegenheit des neuen Grundsatzprogramms der Grünen im Sommer 2020 explizit den Führungsanspruch der regierenden CDU herausgefordert. Ihr Zauberwort hieß Veränderung – „Halt durch Veränderung“ – das Gegenteil von einer konservativen Orientierung. Während man ihren Konkurrenten Erfahrung und Kompetenz in Mehrebenenpolitik – kommunal, regional, national und europäisch- nicht absprechen konnte, steht die grüne Kanzlerkandidatin für Aufbruch “ mit Demut vor dem neuen Amt“.

Dieser Aufbruch gilt in erster Linie einer radikale Klimapolitik, welche die Pariser Klimaziele
von 2015 realisieren will: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsproblem.“ Die Politik steht unter Zeit- und Handlungsdruck, denn die nächste Regierung ist womöglich die letzte, die den menschengemachten Klimawandel noch stoppen kann. Deshalb ist die Bundestagswahl eine Klimawahl, und die Grünen wollen, ja müssen eine Klimaregierung bilden, die diesem Querschnittsthema den adäquaten Stellenwert und Zuschnitt gibt.

Darin besteht der Legitimationsanspruch der Grünen, die schon lange mehr als eine Bewegung sind, aber nun im Bündnis mit dem Aufbruch in der aktiven Gesellschaft sich befinden, die in Richtung Nachhaltigkeit kreativ und konstruktiv unterwegs ist. Außerdem erhalten sie kritische Unterstützung von jungen Klimaaktivisten, die ungeduldig sind.

Die Liberalen wollen mitregieren

Auch die Liberalen finden, so wie es ist, darf es nicht bleiben. Und: „Soviel zu tun, gab es noch nie“. Das will etwas heißen bei einer Partei, welche die meiste Zeit mitregiert hat, wenn auch als kleiner Koalitionspartner. Auch diesmal wird die FDP wieder eine Schlüsselrolle spielen, gleichviel ob es zu einer Ampel- oder Jamaika-Koalition kommt. Sie wird weder als rechts noch als links eingeschätzt.

Sicher ist, dass die FDP die Partei der Marktwirtschaft ist. Was das heute für die soziale oder sozialökologische Marktwirtschaft bedeutet, wird in den Verhandlungen mit der SPD und den Grünen zu klären sein. Die Liberalen stehen für einen liberalen Fortschrittsoptimismus, der auf private Initiativen und technologische Innovationen setzt. Bullerbü-Deutschland ist das Gegenbild – Marx hätte seine Freude daran, denn keine Spur von sozialkonservativer oder grüner Fortschrittskritik findet sich in dieser unsentimentalen Feier des globalen Kapitalismus.

Dazu kommt bei der ersten Digitalpartei schon früh die Digitalisierung, über die auch eine effiziente Staatsmodernisierung laufen soll. Von alter sozialdemokratischer oder neuer grüner Staatsgläubigkeit ist darin nichts zu finden. Darüber hinaus stehen die individuelle Freiheit und die dafür nötige Toleranz (auch für Porschefahrer) ebenso wie Bürgerrechte auf Bildung, Aufstieg und Eigentumsbildung im liberalen Zentrum.

Dieses Fortschrittsprogramm ist bei den jungen Wählern, unter denen viele Elon Musk-Fans sind, nach den betrüblichen Erfahrungen mit der Corona-Krise 2021 gut angekommen. Kubicki lädt ein zur kleinen Revolte, und die Fortschrittserzählung von Musk führt interessanterweise in den Weltraum, wo die neuen Visionäre am liebsten die „alte Industrie“ entsorgen würden. Science fiction wird hier zur Wirklichkeit, auch im Bereich der künstlichen Intelligenz.

In Brandenburg Grünheide ist die Gigafactory von einem anderen Planeten inzwischen gelandet. Die Probleme von Bürgerinitiativen bezüglich Wasserversorgung werden von Musk und Laschet weggelacht, und die gewerkschaftliche Tradition der sozialdemokratischen Fortschrittserzählung ausgelagert. Das gehört zur Entfesselung der Wirtschaft. Der Fortschritt hat eben seinen Preis, wenn Brandenburg zu den „Gewinner-Regionen“ (Woidke) zählen will.

Demgegenüber sind die Grünen vor mehr als 40 Jahren gegründet worden, um die natürlichen Lebensgrundlagen der Erde zu bewahren. Dies ist ein ökologischer Konservativismus, und das ‚Bauhaus der Erde‘ heute ist nur eine folgerichtige Bewegung (Berlin/Potsdam 2021). Der zweite Gründungsgedanke war der Pazifismus in Reaktion auf die damalige Politik von Helmut Schmidt. Im Kern ging es dabei sowohl gegen die militärische wie die friedliche Nutzung der riskant-gefährlichen Atomkraft (Nuklearpazifismus, Kernkraftwerke, Atomstaat). 

Seit der ersten grünen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene 1998 ist daraus der politische Pazifismus geworden und ihr Außenminister Joschka Fischer, inzwischen ein Realist auch im politiktheoretischen Wortsinne – vom ‚Realo‘ zum Realisten – , gehört zu den schärfsten Kritikern einer fehlenden europäischen und weltpolitikfähigen deutschen Außenpolitik bei der SPD und den Grünen (siehe NZZ, Interview Dezember 2020).

Sondierungen für eine Dreierkoalition

Auch bei den beiden jugendlich und cool (digital wie analog) wirkenden Parteien, die auf Veränderung drängen, wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Sie „performen“ gut und besser, die Liberalen haben indes mit 11,5% den begehrten 3. Platz nicht erreicht, und die Grünen sind mit 14,8% weit unter dem erhofften Ergebnis geblieben. Beide kommen aus unterschiedlichen Gründen nicht in die gesellschaftliche Breite, wo die politische Wechselstimmung verhalten und nüchtern bleibt.

Genauso ist das Resultat der beiden Volksparteien mit unter 30% nicht berauschend. Einige haben deshalb das Konzept der Volkspartei, vielleicht etwas voreilig, schon verabschiedet. Immerhin erreicht die SPD 2021 in Mecklenburg-Vorpommern noch fast 40% und die CDU von Haseloff in Sachsen-Anhalt 37%.

Die Gewinner-Koalition steht also trotz coolem Selbstbewusstsein von den Wahlresultaten her gesehen eher auf wackligen Beinen. Außerdem besteht kein Grund zur Schadenfreude gegenüber den historischen Verlusten der CDU (24,1%), denn sie wird noch gebraucht, im Bundesrat wie in der Europapolitik. Überdies wird die AfD im Osten dort stärker, wo die CDU schwächer wird. Eine Lega-Ost ist keine Fata Morgana.

Die Ausgangslage nach den Wahlen ist klar, aber schwierig – und neuartig. Scholz hat deutlich, wenn auch knapp mit 25,7% gewonnen. Der Zweitplatzierte versucht unterdessen, eine Jamaika-Koalition zu bilden, wobei CDU und FDP inhaltlich wie personell gut zusammenpassen. Scholz zielt dagegen eine Ampelkoalition an, weil Rot und Grün inhaltlich über große Schnittmengen verfügen, vor allem in der Sozialpolitik.

Den schwierigsten Part bildet das Verhältnis der Liberalen zu den Grünen und umgekehrt, die sich beide in einem Vertrauensraum zunächst einmal austauschen und verständigen müssen, um Gemeinsamkeiten auszuloten, bevor es in ernsthafte Koalitions(fach)gespräche gehen kann. Die Sondierungen in Zweier-Konstellationen sind am 5. Oktober mit den Gesprächen zwischen Union und Grünen beendet. 

Am 6. Oktober schlagen die Grünen der FDP vor, in ein Dreiergespräch mit der SPD einzutreten. Scholz antwortet noch am selben Tag, dass es jetzt darum gehe, gemäß dem Wählerauftrag eine „Regierung des Fortschritts und der notwendigen Modernisierung“ zu bilden. Söder und nicht Laschet zieht am Abend die Konsequenz, dass es “ wahrscheinlich eine Regierung ohne die Union gibt“.

Vor einem halben Jahr noch schien es fast sicher, dass Schwarz-Grün die Regierung bilden werden, da sie zusammen mehr als 50% erreicht hatten. Jetzt wird Scholz entscheiden, nachdem Grün-Gelb – die Königsmacher – entschieden haben, ob und wie es weitergeht. „Die Breite in der Gesellschaft“ für eine Jamaika-Koalition hat Laschet jedenfalls nicht mehr. Die Demoskopie ist an dieser Stelle schonungslos aufklärend. Das Erscheinungsbild in der Union spricht für eine Ampelkoalition, deren Rahmen des Ertragens Grüne und FDP nun gemeinsam finden müssen.

Es ist klar, dass es in den nächsten Gesprächen nicht von vornherein um Details wie etwa ein Tempolimit oder die Legalisierung von Cannabis gehen kann, sondern es muss zunächst um die großen Themen wie Klimaschutz, wirtschaftliche und industrielle Modernisierung sowie Finanzen gehen, bevor weitere Schritte ins Auge gefasst werden können.

Modernisierungsjahrzehnt


Das bezeichnende Stichwort für die neuen 20er Jahre , dem Modernisierungsjahrzehnt, lautet Entfesselung – Entfesselung welcher Kräfte wofür? Vier Komplexe sind damit gemeint:
– das Aufholen von Rückständen in der Digitalisierung
– schnellere Genehmigungs- und Planungsverfahren
– wirtschaftlicher Aufschwung
– Staatsmodernisierung

Vor allem die beiden letzten Punkte sind umstritten: Wie bewerkstelligt man wirtschaftlichen Aufschwung? Und was heißt Staatsmodernisierung? Welche Steuererhöhungen drangsalieren die Wirtschaft? Etwa auch eine moderate Vermögenssteuer, wie sie SPD und Grüne vorschlagen?

Hinter der ‚Staatsmodernisierung ‚ wiederum verbirgt sich eine interdisziplinäre Wissenschaft für sich (Staatstheorie, Verwaltungswissenschaft, Organisationssoziologie, BWL), die sich auf drei verschiedene Ebenen bezieht:
– die Idee des Staates
– die Regierungsorganisation sowie
– Bürokratie, Verwaltung und Personal.

Zunächst geht es darum, was unterschätzt wird, welche Idee von Staat man überhaupt hat. Hier treffen Welten aufeinander, wenn Sozialdemokraten, Liberale und Grüne miteinander reden. Was Liberale als Staatsgläubigkeit verachten, ist eine historisch gewachsene ‚Staatsfreundschaft‘ (Sternberger) bei der SPD und bei den neuen Grünen, was von Bedeutung ist ebenso für die Leistungen des Sozialstaates wie die nötige wehrhafte Demokratie ( Justiz, Polizei, Verfassungsschutz) gegenüber ihren heutigen Herausforderungen durch verschiedene Extremismen, die wachsen.

Zweitens geht es um die Regierungsorganisation und drittens um die Bürokratie bzw. die Frage, wo es zu viel und wo zu wenig Personal in der Verwaltung gibt, um die anstehenden Probleme bearbeiten zu können.

Über all diese Fragen wird es ausführliche Fachgespräche geben zwischen den Parteien,
die eine neuartige sozial-ökologisch-liberale Regierung bilden wollen. Wir werden auf sie in einem separaten Blog zurückkommen, wenn der Koalitionsvertrag vorliegt.

Das gemeinsame Klimaversprechen der Koalitionsparteien hingegen steht fest. Damit fesselt sich paradoxerweise in einem Entfesselungsjahrzehnt die erfolgreiche Regierungspolitik wie nie zuvor. Allein um den deutschen Anteil des 1,5%-Zieles im Pariser Klimaabkommen einzuhalten, wird die künftige Regierung ihre Anstrengungen unweigerlich um ein Mehrfaches steigern müssen.

Auf der Strecke des Regierens 

Die Linken in der SPD und bei den Grünen, die ursprünglich ein Linksbündnis anstrebten , um einen „echten Politikwechsel “ zusammen mit der ‚Linken‘ zustande zu bringen, wofür auch Scholz werben sollte, legten der neuartigen Fortschrittskoalition bislang keine Steine in den Weg, obwohl es sich dabei weder um eine linke noch eine grüne Mehrheit handelt.

Es ist trotzdem eine interessante Konstellation, deren Zustandekommen allein schon bemerkenswert wäre, weil sie sozialdemokratische, grüne und liberale Impulse aufzunehmen versucht, mithin den Versuch eines neuen grünen Sozialliberalismus in einer Gesellschaft der Individuen unternimmt, der alle Seiten verändern wird.

Probleme wird es auf der Strecke des Regierens geben angesichts der neuen Fraktionen bei der SPD und den Grünen, die grösser, jünger, radikaler und unberechenbarer sind, sowie der großen Herausforderungen, auf die man sich nicht von vornherein einstellen kann. Das war auch bei Schröder/Fischer, der ersten rot-grünen Regierung in Europa so. 

Sollte Scholz scheitern, stehen zwei neue Kanzlerkandidaten bereit: Söder und Habeck, die möglicherweise mehr als 30% erreichen werden.