Der Westen mit der Ukraine gegen Russland 

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Die begrenzte „Militäroperation“ sollte zu Beginn ein Blitzkrieg werden gegen die Kiewer Regierung. Daraus ist für beide Seiten ein langer harter Krieg geworden, der immer härter wird für die Soldaten an der mehr als tausend Kilometer langen Front von Kupjansk im Norden bis Cherson im Süden. 

Militärexperten sprechen bereits von 2025, sie überspringen gerne konkrete Situationen und die Ratlosigkeit, die oft mit ihnen verbunden ist. Großen Erwartungen entsprechen große Enttäuschungen, die Prognosen liegen oft daneben. Das ist den realen Ereignissen und Handlungen nicht angemessen.

Aus dem Durchbruch der Großoffensive seit Sommer ist gegen Ende 2023 nichts geworden, außer einer großen realistischen Ernüchterung auf militärischer Seite, während die politische Führung handlungsoptimistisch bleiben muss, obwohl auch sie einen Rückgang der Unterstützung konstatiert aufgrund des neuen Fokus auf dem Nahostkonflikt seit dem 7. Oktober. 

Die russischen Angriffe nehmen derweil im November bei Wintereinbruch nicht zufällig zu. Um Adijiwka und Robotyne tobt ein Kampf wie zuvor um Bachmut und Mariopul. Für jeden Meter wird gekämpft und gestorben: „Wir sind am Ende, wir sind müde“ (‚Tagesschau‘ vom 28.November). Die kämpfenden Soldaten und mit ihnen die große Mehrheit der Bevölkerung wollen diesen zermürbenden Krieg ein für alle Mal, mit dem Ziel der Grenzen von 1991, beenden. 

Sie wollen nicht ein Verhandlungsergebnis mit neuen Gründen für einen künftigen Krieg ihrer Kinder und Kindeskinder, einen Pseudofrieden. Das wäre konzeptuell eine andere Sicht und Theorie. Das sollte nicht unsere Perspektive und deren unmittelbarer Zeithorizont sein. Dafür brauchen die Ukrainer gerade jetzt wieder die Unterstützung mit Offensivwaffen, die nicht zu spät (wie die amerikanischen Abrams Panzer) und nicht zu gering an Zahl und Ausmaß kommen. Die notwendige Munition, die schon im März versprochen war, ist das Mindeste. 

Der Krieg spitzt sich noch einmal zu, und die Angst des Westens, gerade auch der stark unterstützenden USA und Deutschlands vor weiterer Eskalation, wenn für Putins Russland die Krim auf dem Spiel steht, ist groß. Die Ukraine will einen Lebensnerv von Putins Invasionsarmee kappen: es ist die großartige Krim-Brücke, welche die Meerenge von Kertsch überspannt. 

Sie ist nicht nur Putins Prestigeprojekt, sondern auch die hauptsächliche Nachschubtrasse für das Militär. Experten sind sich schon lange darin einig, dass der Ukraine-Krieg auf der Krim entschieden wird und durch die Unterbrechung des Nachschubs. Die Zerstörung der Brücke würde den imperialistischen Auftritt Russlands vor der Weltöffentlichkeit bloßstellen, was der deutsche Marschflugkörper ‚Taurus‘ könnte. Dass Scholz zögert, ist verständlich. 

Zur selben Zeit spricht Putin als Präsidentschaftskandidat für den März 2024 davon, dass Russland wieder eine Großmacht geworden ist. Die militärischen Videos demonstrieren eine Politik der Stärke. Der Militärhaushalt ist für das nächste Jahr um 70% gestiegen. Ein Drittel des Haushalts fließt in den Krieg, die Rüstungsindustrie ist auf Kriegswirtschaft und damit auf einen langen Krieg eingestellt.

Russland wird den Krieg nicht ‚einfrieren‘, aber auch die diplomatischen Aktivitäten nicht neu justieren bis zu den amerikanischen Wahlen im November 2024. Auch die USA wird sich erst dann zum Nato-Beitritt der Ukraine äußern, den Präsident Biden in Vilnius im Juli 2023 zugunsten des ‚Israel- Modells‘ ausgebremst hatte, sehr zur Enttäuschung von Selenski. 

Ich weiß nicht, wie durchschlagend das Argument westlicher Militärexperten ist, die darauf setzen, dass das BIP der USA und Europas und damit die industrielle Kapazität immer noch weit grösser ist für den Zerstörungs- und Zermürbungskrieg in der Ukraine als dasjenige Russlands. Man soll jedoch Russland nie unterschätzen, zumal in diesem Spiel auf Zeit noch andere Ressourcen eine Rolle spielen. 

Keine Frage: Russland erleidet im Moment so viele Verluste an Menschen und Material wie noch nie, von °“Fleischwolf“ und „Knochenmühle“ wird gesprochen, bei dem freigelassene Strafgefangene dezimierte Einheiten auffüllen, und eine verbreitete Korruption es ermöglicht, sich vom Fronteinsatz freizukaufen. Die Nato schätzt über 300 000 Tausend getötete oder verwundete russische Soldaten sowie tausende Panzer und hunderte Flugzeuge, die zerstört worden sind.

Die glorreiche russische Armee, die von der Vergangenheit zehrt, gibt keine guten Bilder mehr ab. Daran ändert auch die großartige Landesausstellung in Moskau mit den „Errungenschaften Russlands“ nichts, darunter bezeichnenderweise die Brücke von Kertsch und der Anschluss der ukrainischen Regionen an die Russische Föderation, der bejubelt worden ist.

Dennoch verkündet Putin: „Wir werden stärker“, und viele im Land folgen ihm, während die Nato eine „Ukraine-Müdigkeit“ (Stoltenberg am 28. November) feststellt. Wird Russland stärker eingeschätzt als es ist? Das ist eine entscheidende Frage, die wir nicht beantworten können. 


Russland als Großmacht


Putin sieht Russland wieder als Großmacht in einer Videoansprache zur Präsidentenwahl im März, wo er sich noch einmal eine plebiszitäre Legitimation verschaffen möchte. Die einfachste Definition dafür lautet: Russland hat wieder einen bestimmenden Einfluss auf die Weltpolitik. Was heißt das? Wo auf welche Weise? Im Sinne der Wagner-Söldner? Russland ist nicht so isoliert in der Welt, wie es seine Gegner gerne möchten, das ist wahr, aber es hat auch erkennbar an Attraktivität und Stärke verloren. 

Im ausgehenden 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, das den Krieg nicht besiegt hatte, waren Großbritannien als Seemacht, Frankreich, Russland, Preußen und Österreich Großmächte. Im 20. Jahrhundert kamen Japan und die USA hinzu, welches den Staffelstab von GB übernahm. Im frühen 19. Jahrhundert kam der Begriff ‚Großmacht‘ auf, als die Hegemonie Frankreichs nach Napoleon durch die Zusammenarbeit von Russland, Österreich, GB und Preußen mit dem besiegten Frankreich abgelöst wurde (Wiener Kongress 1815). 

Der Begriff ‚Weltmacht‘ tritt sodann allmählich an die Stelle von ‚Reich‘, während ‚Supermacht‘ sich ausschließlich auf die ‚bipolare Weltordnung‘ nach dem 2. Weltkrieg, auf den kalten (Weltanschauung-) Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA bezieht. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 (für Putin die größte geopolitische Katastrophe) bleiben die USA als letzte Supermacht(‘Weltpolizist‘) übrig, was nach weiteren Kriegen mit verheerenden Folgen (Irak, IS) zum heutigen Vielfrontenkrieg (dem ‚globalen Krieg‘, siehe Blog vom 8. Nov.) führt. 

Die heutige alleinige Stärke, vor allem militärisch-technologisch, wie offensichtliche Schwäche (etwa gegenüber China und dem globalen Süden) macht den gegenwärtigen ‚Aufruhr in der Welt‘ (gemessen an herkömmlichen Ordnungskategorien) aus. Man kann aber auch sagen, dass es nie eine Weltordnung gegeben hat (Kissinger) und der Kampf um sie permanent ist und dynamisch bleiben wird. 

Hypermacht“ wiederum ist eine Begriffsschöpfung des französischen Außenministers Hubert Védrine (1999) für die dominierende Stellung der USA nicht nur im Militärischen (die heute 2023 für Kiew, Israel, Europa und Taiwan ein Glücksfall ist), sondern auch politisch, kulturell, wissenschaftlich und medial. Dahinter steht auch eine Imperialismus-Kritik. Mit dieser Brille nimmt Putins Russland, das nach Jelzin kein ‚normaler‘ Nationalstaat geworden ist, die USA umgekehrt als nicht ‚normalen‘ Nationalstaat war.

Der „gefährlichste Philosoph der Welt“ (Umbach über Alexander Dugin) nutzt diesen Gegenbegriff für den zivilisatorischen Konflikt von Putins Russland mit dem Westen (siehe auch den Blog Was heißt „Vierte Politische Theorie“?, 2. Mai 2023). Darin liegt weiterhin eine mögliche Weiterung des Krieges beschlossen, die hybrid und propagandistisch bereits existiert. 


Neue Strategie des Westens?
Der besonnene Nato- Generalsekretär Stoltenberg mahnt an der Tagung der Außenminister am 28. November in Brüssel davor, Russland nicht zu unterschätzen. Gleichzeitig kritisiert er den türkischen Staatspräsidenten Erdogan, der wie ein osmanischer Scheich auftritt, in ungewöhnlich scharfen Worten, den Beitritt Schwedens, welches die Solidarität mit dem kurdischen Widerstand nicht ganz aufgegeben hat, zu blockieren. 

Derweil schließt Finnland, das erste neue Nato-Mitglied, seine lange Grenze zu Russland wegen illegaler Migration (Moskaus Rache?) und ruft Frontex zu Hilfe. Estland zieht nach. Das erinnert an Vorgänge an der belarussisch-polnischen Grenze vor drei Jahren. Niemand soll sagen, dass in unserer Welt, selbst im ‚kosmopolitischen‘ Europa Grenzen im Sinne von Begrenzung keine Rolle mehr spielen. Sie schützen die Bürger und schaffen Sicherheit in einer unsicheren gefährlichen Welt des globalen Krieges. 

Am 29. November tagt erstmals das neue Format des Nato-Ukraine Rats, der die Ukraine sowohl an die EU wie an die Nato heranführen soll. Das ist die große Perspektive für den Befreiungskampf der Ukraine, zu der sich Europa und die USA für die Zukunft verpflichtet haben. Nicht alle in Europa und im amerikanischen Wahlkampf jedoch wollen das in derselben Weise (Ungarn, Slowakei).

Biden sprach in Vilnius noch vorsichtig vom Israel-Modell der Unterstützung. Das war vor dem 7. Oktober, der die Existenz Israels durch einen Terrorangriff wieder bedrohlich infragestellte. Die USA reagierte sofort mit der Entsendung von zwei Flugzeugträgern und mehreren Kriegsschiffen ins östliche Mittelmeer, um den Iran und die Hizbollah abzuschrecken. Die Hamas ruft am 30. November zur „Eskalation des Widerstands“ auf. Gleichzeitig hat Israel der Forderung nach einem dauerhaften Waffenstillstand vor dem Weltsicherheitsrat eine Absage erteilt.

Israel und die Ukraine haben gemeinsam, dass sie mit einem Feind kämpfen, der sie vernichten will. Es handelt sich um Existenz- und Überlebenskämpfe mit barbarischer Kriegsführung. Diktaturen, welche Freiheit und Toleranz hassen, kämpfen mit Demokratien, deren Soldaten Bürger sind. Hier kann man lernen, was demokratische Wehrfähigkeit und legitimer Widerstand heißt, worum wieder ein internationaler Deutungskampf tobt, der sich auch innenpolitisch auswirkt.

Es handelt sich um zwei Fronten in demselben Krieg. Opfer und Täter werden eindeutig und fix verteilt, und die Opfernarrative legitimieren und enthemmen. Die andere Seite müssen die bösen Täter als ‚Nazis‘, ‚Faschisten‘, ‚Juden‘ und ‚Imperialisten‘ sein. Sie können mit gutem Ge-Wissen, das Terroristen brauchen, vernichtet werden. Russen und Palästinenser sehen sich nicht als moralfreie Täter, sie verteidigen nur ihre Heimat. Nach der Annexion der ukrainischen Gebiete am 30. September 2022 wird diese verschärfte Rhetorik zugunsten Russlands nach innen wie außen vorherrschend. 

Beim Nato-Rat in Brüssel geht es vor allem um die unmittelbare Lage an der Front, um Munition, Luftabwehr und eine generelle Winterhilfe, mithin um die elementare materielle Basis für den weiteren Kampf der Ukraine. Hier ist weit mehr versprochen als gehalten worden. Seit eineinhalb Jahren ist bei der gemeinsamen Rüstungsproduktion nicht viel geschehen.

In Bezug auf das Gefechtsfeld herrscht Pessimismus, der kaschiert wird, schon das „Halten gilt als Gewinnen“. Gar von einer Gegenoffensive im Frühjahr 2024 redet niemand. Der beliebte Oberbefehlshaber Saluschni, der Selenski auch politisch Konkurrenz machen könnte, spricht bezeichnenderweise von “ technischen Neuerungen“, auf die er noch setzt, und davon, möglicherweise „nicht genügend Leute zu haben, die kämpfen können“. 

Saluschni erwähnt auch die russischen Kamikaze-Drohnen, die der ukrainischen Armee aus der Luft, da sie vom Radar nicht erkannt werden können, schwere Verluste beibringen, einschließlich Artillerie und Panzer. Der Wettlauf um die führende Technologie ist im vollen Gange und geht mit dem laufenden Krieg, den sie zugleich verändert, einher. Ironie der Geschichte: Die neueste Drohnenproduktion gehört zum Kalaschnikow-Konzern im Ural (ausführlich Andreas Rüesch NZZ, 30.11., S.3).

Der ukrainische Außenminister Kuleba verlangt in Brüssel vorausschauend ein transnationales Netz für die Sicherheit aller Nato-Länder. Die nationalistischen Autokraten sind im Moment weit besser in solidarischem Transnationalismus als die Demokratien, die einander mehr unterstützen müssen im Kampf um die neue Weltordnung. Das imperiale Russland will auch in Europa ein dominierender Akteur sein.

Frankreich wiederum, die ‚ grande nation‘ redet viel von der „strategischen Autonomie“ Europas. 2017 war schon die große Rede von der „Neugründung Europas“, aus der nichts geworden ist. Frankreich hat indes seine Raketen für die Atom-U-Boote modernisiert. Es hat schon immer eigensinnig Europa von den USA abkoppeln wollen, während Deutschland, die Benelux-Länder und Italien diesem Pfad nicht gefolgt sind. Die ‚ europäische Souveränität‘ ist derzeit nicht einmal in der Lage, ihre Außenpolitik in zentralen Fragen wie Ukraine, Gaza, China-Strategie etc. zu koordinieren.

Ein isolationistischer amerikanischer Präsident würde die Situation noch einmal grundlegend verändern, was nicht ausgeschlossen ist, wenn man sich vergegenwärtigt, was es schon 1917 und im zweiten Weltkrieg (Pearl Harbour) brauchte, um die Amerikaner für den „crusade in europe“ ((Eisenhower zu mobilisieren. 9/11 war noch einmal ein solches absolutes Ereignis für den weltweiten Krieg gegen den Terrorismus. 

Er führte in der Folge zu zahlreichen Fehlentscheidungen (Iraqui freedom) und vielen Verstrickungen. Der schnelle Abzug aus Afghanistan „enduring freedom“ sodann war kein Sieg, sondern eine Niederlage, welche der Taliban das Feld überließ, was Russland als Schwäche registrierte. So reihen sich gerechte und ungerechte Kriege aneinander.

Unbestritten ist, dass Europa, gerade auch in einem fruchtbaren transatlantischen Verhältnis, das politisch notwendig ist, mehr für die Verteidigung tun muss, national und transnational in Abstimmung mit der Nato. Polen hat das erkannt und einen Mentalitätswechsel in dieser Hinsicht vollzogen: Wer sich nicht selbst verteidigen kann, wird nicht darauf bauen dürfen, dass andere es verteidigen. 

Ohne die Klammer der USA wird es konventionell und nuklear nicht gelingen, Abschreckung neu zu denken. Der worst case steht möglicherweise noch bevor: er besteht darin, dass die USA selbst die Ukraine-Unterstützung und/oder die Nato infragestellt. 

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire