Der Kampf um eine neue Weltordnung 

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Die einfachste Einteilung der Welt ist immer noch die nach Himmelsrichtungen: der Osten, der Süden, der Westen und der Norden. Es ist auch diejenige, mit der man die Welt am wenigsten zur Kenntnis nehmen muss – in ihrer vielfältigen Geographie, Geschichte und politischen Selbstwahrnehmung. Die Zäsur der europäischen Revolutionen von 1989 hatte da schon Einiges verändert, aber nur für Europa und das auch nur selektiv. Europa ist aber nicht die Welt, je länger je weniger.

Die aufstrebende Supermacht China bemüht sich darum, den vernachlässigten globalen Süden zu vertreten. Aber auch der ‚globale Süden‘ ist kein einheitlicher Akteur. Der alljährliche fünfzehnte Gipfel der BRICS-Staaten vom 22. bis 24. August 2023 in Johannesburg offenbarte dies einmal mehr gerade auch im Versuch, eine stärkere einheitliche Stimme in der Weltpolitik vor allem gegenüber den USA artikulieren zu können. 

Das heterogene Bündnis wird ebenso überschätzt wie es vor allem auch unterschätzt wird, was die objektive Urteilsunsicherheit widerspiegelt gegenüber einer Welt, die man nicht kennt. 67 Länder sind eingeladen, darunter 53 afrikanische. 

Das Etikett dieser Vereinigung wichtiger Schwellenländer stammt von O’Neill, dem Goldmann Sachs Ökonom. Die Großbuchstaben stehen für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die 42% der Weltbevölkerung umfassen. Die Supermachtdiktatoren Xi und Putin wollen den Einfluss dieser Gruppe ausweiten, die weder ein Sekretariat noch einen gemeinsamen Vertrag kennt.

Dabei geht es klar und offen um eine Großmachtpolitik, welche den Einfluss der USA zurückdrängen will. Xi, der groß als Staatsbesuch empfangen wurde, sprach von einem historischen Startpunkt, und Putin ließ sich per Video zuschalten, nachdem Südafrika den internationalen Haftbefehl gegen ihn, bei allen Vorbehalten, wohl doch vollstreckt hätte – eine erste Blamage für Putins Ambitionen. 

Gastgeber Südafrika, welches der früheren Sowjetunion aus politischen Gründen und China wegen großzügiger Energielieferungen viel schuldet, steckt in einem strategischen Dilemma (Handelsblatt 26.8.). Wie weit kann die Abgrenzung zum Westen gehen? Untereinander, zum Beispiel die Riesen China und Indien, sind in wichtigen Fragen, wie gegenüber dem Westen uneins. Der „Diktatoren-Clique“ trauen kritische Stimmen als Allianz auch „im Keim keine eigene Weltwirtschaftsordnung“ zu (NZZ, 25.8., S.14). 

Der brasilianische Staatspräsident Lula sprach davon, dass man keinen Gegenentwurf zu G7 und G20 bilden wolle (23.8.). Das will aber BRICS im Kosmos von China zweifelsohne. China und Russland wollen mehr Verbündete aufnehmen und stärker werden. Die Liste der Kandidaten ist lang: ‚World of Statistics‘ behauptet am 12. August 23 Länder von Algerien über Cuba u.a. bis Kuwait und Marokko bis Venezuela und Vietnam. 

Man kann auch ironisch sagen, die ganze Bewegung sei lediglich eine Plattform der Beschwerde gegen den bösen amerikanischen Westen: „Resentments makes the world go around“ (Janan Ganesh, in Financial Times, 22. August) . Das gilt für Länder wie größtenteils ihre politischen Führer als „relative outsiders“: „There is no understanding modern Russia without a sense of its ressentiment as a shrunken empire.“ Das ist objektiv richtig. Tatsächlich spielen Gefühle und Empfindlichkeiten politisch eine große Rolle, was man an Kleinigkeiten etwa im Verhältnis des indischen Premierminister Modi und Chinas Präsident Xi ablesen konnte. 

Mehr temporäre Konstellationen und Koalitionen von Fall zu Fall sind jedoch möglich. Das schwächt den Westen und seine (universalistischen) Werte, wohl mehr in Bezug auf Demokratie als den eigentlich zentralen attraktiven Wert der Freiheit. Es entsteht so immer mehr eine multi-alliierte Welt als eine alliierte. Das bedeutet mehr Opportunismus eigener Interessen. Der von der funktionalen Systemtheorie beschriebene und empfohlene Werteopportunismus hat in diesen Fällen allerdings auch einen politischen Preis (für Südafrika, Thailand usw.). 

Für viele Länder eröffnet der Beitritt Chancen, die Außenhandelsbeziehungen von Großmächten unabhängiger zu machen und zu verbessern, da die Verhandlungspositionen von Brics bei Handelsabkommen stärker werden, dennoch will man es auch mit den USA nicht verderben. Der Handelskrieg mit Konsequenzen ist im vollen Gange. Es geht um mehr Einfluss auf die ‚global governance‘ der Uno, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IMF). 

Der ehemalige Arbeiterführer Lula da Silva ist in Johannesburg mit allen Ehren empfangen worden. Von ihm und seiner Partei (PT) ist einmal die globalisierungskritische Parole ausgegangen: „Ein andere Welt ist möglich“, Porto Alegre war die Welthauptstadt der Demokratie. Mit ihm reiste auch die Genossin Dilma Rousseff an, seine Nachfolgerin im Präsidentenamt 2010-2016. Seit März 2023 leitet sie die Entwicklungsbank der Brics-Staaten in Schanghai (NDB) und ist damit eine zentrale Figur des Treffens (NZZ, 25.8., S.18).

Als Ökonomin und Politikerin ist sie in Brasilien inzwischen sehr umstritten. Ideologisch steht sie China näher als den USA: Die Handelsrestriktionen gegen China hat sie als „neue Kriegsform“ bezeichnet. Die Bank, die sie führt, soll mehr Projekte finanzieren in den 5 Währungen der Brics-Staaten (Real, Rubel, Rupie, Renminbi, Rand). Das Fernziel ist eine gemeinsame Währung, die in Johannesburg noch nicht beschlossen worden ist. Das Kreditvolumen der Entwicklungsbank erreicht dasjenige der Weltbank bei weitem noch nicht. 

Bezüglich China dachten früher viele, dass es wegen seiner Marktwirtschaft nicht autoritär sein kann, doch es blieb autoritär und weit mehr als das ! China kennt uns besser als wir China. In der technokratischen Ära von Deng Xiaopings schien es eine Machterosion der KP zu geben. Falls nun das System unter Xi wieder zum vollständigen Primat der Politik über die Wirtschaft zurückkehrt, könnte China wirtschaftlich stark zurückfallen, was interne Probleme hervorruft, die außenpolitisch durch Krieg kompensiert werden. Gegenwärtige Vorbereitungen deuten darauf hin. 

Russland ist demgegenüber ein zerfallendes Reich mit einer langen Grenze zu China. Wie es also um die internationale Ausstrahlung beider Mächte weiterhin bestellt ist, bleibt historisch offen. Dass sie sich um strategischen Einfluss auf andere Länder, insbesondere auch in Afrika bemühen, ist indessen ein hartes Faktum. Für Russland erledigt dabei immer noch die Söldner Armee Wagner einen Großteil der Schmutzarbeit so wie einst die Fremdenlegionäre Frankreichs, dessen Politik in Afrika versagt. Die Doppelmoral der letzten Jahrhunderte rächt sich. 

Macron wäre gerne nach Johannesburg eingeladen worden. Die Zeit der ehemaligen Kolonialmächte ist indessen endgültig vorbei. China geht subtiler vor, und der Westen schaut weitgehend zu, wenn die Militärs die Macht ergreifen: in Guinea, Burkina Faso, Mali, Niger, Tschad und Sudan als „populäre Putschisten“ (siehe Die Zeit, 24. August, S.7). 

Brasilien und Südafrika sind Mittelmächte ohne internationale Ausstrahlung. Die Friedensbemühungen von Staatspräsident Lula haben das jüngst ebenso demonstriert wie eine Gruppe afrikanischer Staaten, die von Putin empfangen worden sind. Welche Ausstrahlung Russland noch hat, wurde beim Afrika-Gipfel in Sankt Petersburg Ende Juli sichtbar. Trotz Gratis-Getreide konnten Putins Angebote nicht locken. 

Indien wiederum ist hochgradig kapitalistisch und politisch voll Gewalt und Chaos. Vom Westen umworben, dem erst kürzlich als viertes Land der Welt mit ‚Chandrayaan 3‘ eine Mondlandung gelang, ist Indien kein Gegenpol zum Westen. Bleibt nur China, auch militärisch, freilich auf eine unberechenbare Weise, in dessen Gesellschaftsordnung der Unfreiheit jedoch niemand leben möchte. 

Am 24. August kündigt der südafrikanische Präsident Ramaphosa eher überraschend an, dass sich die Brics-Gruppe um sechs Mitglieder erweitert. Der Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien sollen Anfang 2024 beitreten. Das ist eine Verstärkung. Die globale Wirtschaftsleistung der teils rohstoffstarken Länder steigt damit auf 37%. 

Der Mittlere Osten rückt stärker ins Zentrum der Reichen und der Investoren. Die Welt wird tatsächlich multipolarer. Es wird mithin genauer zu beobachten sein, was das 

– wirtschaftlich und fiskalpolitisch, 

– politisch sowie 

– geopolitisch und militärisch 

bedeutet. Der Widerspruch zum Beispiel zwischen Ramaphosas Programmrede für eine bessere Welt und der repressiven Innenpolitik des Iran, die gerade (Kopftuch-) Gesetz geworden ist, sticht sofort ins Auge. 

Was bedeutet dieser Kampf um eine neue Weltordnung politisch? Was bedeutet er vor allem für die gefährliche gemeinsame antiwestliche Großmachtpolitik von Russland und China, die gerade ein dreiwöchiges Marinemanöver im Japanischen Meer und Beringmeer beendeten? Das sind die vordringlichen Fragen. 

Der ‚freie Westen‘ wird sich auf die neue Situation einstellen müssen, ob er will oder nicht. Seine Werte kommen international noch stärker auf den Prüfstand. Er ist jedoch nicht abzuschreiben, wenn es gelingt, faire Partnerschaften für eine gute Entwicklung einzugehen und aufzubauen. Einfach wird das nicht.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire