„Build back better“ – eine Perspektive für die Ukraine.

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Die kämpfenden Soldatinnen und Soldaten brauchen nicht nur dringend Waffen und Munition,
die ukrainische Regierung muss ebenso dringend jetzt schon an den Wiederaufbau des großen zerstörten Landes denken. Während des Krieges gibt es den zivilen Nicht-Krieg der Wirtschaft, Schulen und Spitäler. 

Das scheint absurd, es ist aber so. Es geht dabei nicht bloß um Zeichen, sondern darum, real und alltäglich zu zeigen, dass die Zukunft nicht in einer russischen Entwicklung liegt wie in den „befreiten“ Gebieten. Putin hatte seinen Truppen zur „Befreiung“ von Luhansk am 4. Juli gratuliert, nun ist Donezk an der Reihe.

Am 4. Juli startete gleichzeitig in Lugano die zweitägige, von der Ukraine gewünschte Wiederaufbaukonferenz mit 39 Staaten und 16 internationalen Organisationen. Dabei handelt es sich nicht um eine klassische Geberkonferenz. Vielmehr sollten politische Richtlinien für den Wiederaufbau festgelegt werden und – sehr praktisch – die Koordination der Hilfe, die langfristig und vielfältig sein wird, organisiert werden.

Selenski betonte in seiner Videoansprache, dass Russland durch die Zerstörung der Infrastruktur von Schulen, Spitälern und Kindergärten und die Vertreibung der Bevölkerung der Ukraine buchstäblich die Zukunft nehmen will: Es soll keine Zukunft ohne die russische Dominanz geben. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist vertrieben worden und mehr als ein Drittel benötigt finanzielle Unterstützung, ebenso viele Arbeitsplätze sind derzeit inaktiv (NZZ, 6. Juli 2022, S.17). Die Dimensionen der Schäden sind immens: Mehr als 40 Millionen Quadratmeter Wohnfläche, 24 000 Kilometer Straßen, 300 Straßenbrücken, 40 Eisenbahnbrücken u.v.m. (a.a.O.).

Von der Leyen drängt zurecht auf die Gründung einer unabhängigen Plattform, die für Transparenz sorgen kann. Die Milliarden des Westens dürfen nicht einmal mehr verpuffen wie in Afghanistan. Dieses Desaster ist noch nicht aufgearbeitet. Die ausländische Hilfe muss angesichts der verschiedenartigen großen Aufgaben frühzeitig und kompetent koordiniert werden. Es muss von vornherein klar sein, wer was macht. Der organisierte Westen ist in effektiver Organisation bei weitem nicht so gut, wie er sich einbildet. Organisationsversagen ist häufiger als Marktversagen, obwohl ständig von lernenden Organisationen die Rede ist. Es fehlt an Kooperation und Austausch.

Die Entwicklungsministerin Svenja Schulze hat sich deshalb frühzeitig mit konkreten Vorschlägen, was zu machen ist, eingeschaltet. In Deutschland ist das in der Informationsflut untergegangen. Auch von der schweizerischen Diplomatie war wieder einmal etwas zu hören! Vor allem die ukrainische Regierung aber hat selbst Ideen eingebracht wie internationale wettbewerbsorientierte Städte- und Industriepartnerschaften. Ministerpräsident Schmihal führt in zahlreichen Arbeitsgruppen diese Arbeit weiter – zivile und vorausschauende Regierungsarbeit in einem Krieg, der an die Existenz geht.

Kernstück der Deklaration von Lugano sind sieben Prinzipien, die als politische Leitlinien für den Wiederaufbau dienen sollen. Die Konferenz war schon vor dem Krieg als Reformkongress geplant. Dabei geht es aus europäischer Sicht vor allem darum, dem Rechtsstaat den Rücken zu stärken. 2021 wurde die Ukraine noch als eines der korruptesten Länder Europas eingestuft. Wichtige Punkte sind auch die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Nachhaltigkeit gemäß dem Pariser Klimaabkommen. Die Spendengelder müssen transparent ausgewiesen werden.

Der Wiederaufbau, ja der Erhalt der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Existenz der Ukraine kann nicht erst mit einem Friedensschluss beginnen, der momentan in weiter Ferne liegt. Nicht einmal Verhandlungsbereitschaft für einen Waffenstillstand ist zu erkennen. Es ist legitim, sich von außen, über Verhandlungen Gedanken zu machen. Das Problem ist nur, dass Putin keine Verhandlungen anstrebt. Er setzt mit seiner Offensive im Donbass auf Zeit und die ‚Krise‘ des Westens bzw. seine ‚Ukrainemüdigkeit‘.

Die internationale Solidarität kostet absehbar einen Preis, der höher wird. Gewinnt Putin mit seiner Strategie verlieren Europa und der Westen insgesamt. Deshalb sollten wir mit den kämpfenden Ukrainern und ihrer Regierung denken in der momentanen schwierigen Patt-Situation im Juli und Mut machen durch tätige Handlungen. Dazu gehören Schützenpanzer genauso wie zivilgesellschaftliche Initiativen. Angesichts der erwünschten und solidarisch eröffneten EU-Beitrittsperspektive war das Kick-off-Meeting in Lugano, in das die ukrainische Regierung und die EU-Kommissionspräsidentin eng involviert waren, notwendig und logisch.

Das langfristige Mammutprojekt Wiederaufbau der Ukraine muss sozial, zeitlich und sachlich bestens vorbereitet werden sowie und vor allem sind solche politische Ambitionen der eigenen Regierung für die kämpfende Bevölkerung eine hoffnungsvolle Motivation, den schwierigen Alltag um die bessere Zukunft nicht aufzugeben. Ein solches internationales Arbeitstreffen, das im eigenen Land durchaus wahrgenommen worden ist, ist ein Teil davon und nicht bloße Symbolik, wie Beobachter gerne und allzu schnell abwertend sagen.


Bildnachweis: IMAGO / SNA