Zwischen Nationalismus und Postnationalismus

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Zur „schwadronierenden Klasse“, die der Ukraine von Anfang an die Kapitulation empfahl, gehörte ich nicht. Aus Überzeugung und vielleicht auch nur zufälligerweise, als Schweizer Infanterist, der – weder aus Spaß noch Vergnügen – bis zum vierzigsten Lebensjahr im regelmäßigen Militärdienst war, halte ich es nicht nur für ehrenwert, sondern für notwendig im Wortsinne, einen Verteidigungskrieg gegen einen übermächtigen Aggressor zu führen. So dachten auch mein Vater und Großvater mit vielen Anderen, als sie als einfache Soldaten an der Grenze standen.

Ist der ukrainische Widerstand gegen die Barbarei einer auch militärisch unbegreiflichen flächendeckenden Invasion in ein großes Land „unbegreiflich“? Ist er nicht vielmehr selbstevident? Braucht es dafür eine „Ideologie“? 

Ist es „Nationalismus“, der den westlichen europäischen Staaten heute fehlt, die dem europäischen „Postnationalismus“ verfallen sind? Sind deshalb die „saturierten Europäer“ nicht zum selben Widerstand fähig, wenn sie angegriffen werden? Welche Europäer sind damit gemeint? Die Osteuropäer, die Balten, die Skandinavier?

Die von Putin erzwungene Remilitarisierung der Politik betrifft heute viele Bereiche und geht über Europa hinaus. Japan beispielsweise hat seinen Verteidigungshaushalt verdoppelt, hier wegen der chinesischen und nordkoreanischen Bedrohung. Das neue Strategiepapier des Pentagon stuft die chinesische Aufrüstung langfristig für gefährlicher ein als die russische. China ist zudem Schutzmacht von Nordkorea.

Schweden, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt hat, will nach langer Zeit der Neutralität wie Finnland mit seiner langen Grenze zu Russland in das Verteidigungsbündnis der Nato eintreten. „Je fragiler die Grenzen, desto entschiedener werden sie verteidigt“(Gujer). 

Norwegen und Dänemark verstärken ihre Verteidigungsanstrengungen zum Schutze der gemeinsamen europäischen Infrastruktur in der Ostsee nach der militärischen Sabotage auf Pipelines. Der neue hybride Krieg, der alle Poren der Gesellschaft durchdringt und die Grenzen verwischt, schafft eine unsichere Welt, die insgesamt verletzlicher und schwieriger zu schützen sein wird. Der Cyberspace und der Weltraum kommen hinzu. 

Die eingangs zitierten Begriffe stammen aus dem Leitartikel von Chefredakteur Eric Gujer „Die Rückkehr des Nationalismus“ (NZZ, 3. Dez. 2022, S.1). Er spricht von einer „Mischung aus Souveränität, Identität und nationalem Zusammenhalt“, von einem „Nationalismus der Notwehr“ der Ukraine gegen den „aus der Zeit gefallenen panslawischen Imperialismus Putins“. Auch er hält den militärischen Widerstand für die „einzig mögliche Antwort.“ Ist dieser aber ein neues Phänomen? 

Selenski ist nicht der erste Protagonist eines gerechten Krieges. Zivilisten sind in der republikanischen Tradition seit Machiavelli (‚Discorsi‘) immer auch wehrfähige Bürger. Das kostet einen nötigen und einen unnötigen Preis. Schweizer sollten das wissen, wenn sie auf gewisse Tendenzen des eidgenössischen Patriotismus in der Zeit des Kalten Krieges zurückblicken – von der unwürdigen Kollision mit dem Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen bis hin zu einer Geheimarmee ohne gesetzliche Grundlagen. Dieses Widerstandsverständnis ist nicht nur militärisch im Sinne einer Milizarmee, sondern mythisch überhöht und konspirativ. 

Zwischen Patriotismus und Nationalismus sollte man unterscheiden, nicht nur aus ideen- und begriffsgeschichtlichen Gründen, sondern auch aus gegenwärtigen und aktuellen Überlegungen heraus, wenngleich man nicht einfach ‚auf der richtigen Seite der Geschichte‘ steht, wenn man statt ‚Nationalismus‘ ‚Patriotismus‘ sagt und dazu noch das obligatorische Wörtchen ‚aufgeklärt‘ voranstellt. Der gut gemeinte Patriotismus ist ja selber ein Produkt der historischen Aufklärung mit ihren verschiedenen nationalen Varianten.

Auch vom Patriotismus gibt es verschiedene historisch-systematische Versionen wie vom Nationalismus, überall auf der Welt und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen (militärischen, religiösen, akademischen). Als die schottische Ministerpräsidentin Sturgeon 2019 für ihren Einsatz gegen den Brexit in Potsdam den Medienpreis M100 bekam, war in der Presse vom “ Gesicht des guten Nationalismus“ die Rede – guter und schlechter Nationalismus als inklusiv demokratischer und ausgrenzend ethnischer Nationalismus. Letzterer ist noch nicht ‚extremer Nationalismus ‚(Lepsius) und schon gar nicht Nationalsozialismus ‚aus Rasse und Raum‘ (Kletzin). 

In der soziologischen Außenbetrachtung scheint die Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus ohnehin unerheblich (siehe Elias, Studien über die Deutschen 1989, S.198). Für die politische Theorie der Nation hingegen ist er erheblich, da es sich um ein historisch- politisches, stets umstrittenes Konzept handelt, das mit dem Nationalstaat verbunden ist. Davon existieren unterschiedliche Konzeptionen – Konzept und Konzeption.

Nationalstaaten wiederum sind nicht quantitativ weniger und qualitativ weniger bedeutsam geworden in unserer globalisierten Welt. Infolgedessen hat sich das Bild noch mehr differenziert und verkompliziert. Genaue Wahrnehmung und differenzierende Begriffsbildung sind also gefragt.

Der Historiker Heinrich August Winkler spricht von klassischen Nationalstaaten, die sich behaupten wie beispielsweise die USA oder Israel, und sogenannten ‚postklassischen‘ (europäischen) Nationalstaaten, die indes nicht postnational, sondern im Rahmen voranschreitender europäischer Integration supranational geworden sind. Die genaue Unterscheidung zwischen trans-, post- und supranational ist theoretisch wie praktisch folgenreich und alles andere als eine Begriffsklauberei.

Im Gegensatz zum Nationalismus wird der Patriotismus der Aufklärung und Nachaufklärung so definiert, dass er kulturelle und religiöse Vielfalt nicht abwertet und die Bürgerrechte stärkt. Er unterhält ein intern zugleich positives und kritisches, man könnte auch sagen: konstruktives Verhältnis zur Nation, das nicht immer allen genügt und deshalb im demokratischen Streit steht, der mitunter besonders heftig wird und bis zu bürgerkriegsähnlichen Spaltungen führen kann. Politische Emotionen berühren grundlegende Identitätsfragen.

In der Demokratie gilt es, Mehrheiten zu gewinnen, die sich gemäß verbindlichen Regeln durchsetzen können. Am schwierigsten ist dies zur Zeit auf dem Feld der Migrationspolitik – sowohl auf nationaler wie europäischer Ebene. Nation als ziviles und solidarisches Projekt hat es mit historisch veränderlichen Aufgaben zu tun, für welche die transnationale Kooperationsebene wichtiger geworden ist. Dagegen behauptet Gujer: „Eine europäische Migrationspolitik ist genauso Fiktion wie eine gemeinsame Verteidigungspolitik“, wofür aus der jüngsten Vergangenheit vieles spricht.

Dazu kommt das Faktum, dass im Moment wohl nur die USA militärisch wirklich verteidigungsfähig ist. Die Europäer sind auf das transatlantische Bündnis angewiesen, das aus der Atlantik-Charta des 2. Weltkrieges vom 14. August 1941 (Roosevelt, Churchill) hervorgegangen ist. Heute sieht Putins Russland dieses inzwischen größte militärische Verteidigungsbündnis der Geschichte als Aggressor, das Russland zerstören will, und sich selber im Widerstand gegen den westlichen Kolonialismus unter Führung der USA.

Die EU bleibt im Ukraine-Krieg „Statist“. Sie übernimmt aber, wie auf dem Balkan, mit der EU-Beitrittsperspektive eine riesengroße politische Verantwortung, an der sie auch scheitern kann. Wenn Russland im europäischen Parlament als „Terrorstaat“ verurteilt wird, ist dies „so pompös wie folgenlos“(Gujer), das Versprechen des Marshallplanes, so wie er in Lugano und Berlin vorbereitet wurde, ist es nicht.

Die Folgelasten jedenfalls, soviel ist sicher, für den Wiederaufbau der Ukraine werden in jeder Hinsicht gewaltig sein, abgesehen von der schwierigen Frage, wie eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands noch möglich sein kann. Auf die EU und ihre Mitgliedstaaten kommen in Zukunft große Aufgaben, die politisch kontrovers sein werden. Umso wichtiger ist es, mit den Worten vorsichtig umzugehen und die zentralen politischen Begriffe seriös und genau zu verwenden, so dass sie diskussionsfähig werden.

Gujers etwas schematische Argumentation geht dahin, dass der Geltungsbereich des Postnationalen innerhalb der EU beschränkt ist und man sich also vom ukrainischen Nationalismus nicht anstecken lassen darf. Denn: Für die Ukraine ist der Nationalismus ein Gegengift, für die EU jedoch „Paradox und Provokation zugleich“. Das ist seine systematische Hauptthese. Meint er mit „Rückkehr des Nationalismus“ de Gaulles „Europa der Vaterländer“? Und was bedeutet das heute in politisch anderen Zeiten?

Zurecht wird an die Jugoslawien- (1991-95) und früheren Balkan-Kriege des 20. Jahrhunderts (1912/13) erinnert und damit an den schlechten aggressiven Nationalismus, der die eigene Ethnie überhöht und der mitten in Europa noch in den 90er Jahren (nach 1989) in Gestalt des großserbischen Nationalismus zur langen Belagerung Sarajevos (der längsten im 20. Jahrhundert!) und zum Massaker von Srebrenica 1995 geführt hat.

Was war aus der multikulturellen europäischen Stadt und dem vorbildlichen Vielvölkerstaat geworden, so schnell und so grausam, unter Menschen, die vor kurzem noch zusammengearbeitet hatten!? Realistische Zyniker konnten darauf hinweisen und sagen: „das ist Europa!“ Gujer liest diese Kriege als Gegenbild zum Ukraine-Krieg, wobei er sich über den „Ersatz-Patriotismus“ der Deutschen mit den blaugelben Fahnen wundert. An dieser Stelle kommen richtige und falsche Beobachtungen zusammen.

Schon 2015 konnte man junge Menschen in der Flüchtlingshilfe (HelpTo) kennenlernen, die diesen Dienst ausdrücklich als „patriotisch“ verstanden (im Sinne von: wir schaffen es). Genauso 2022 wieder. Warum sollten nicht auch Deutsche gute Patrioten sein können, ohne deswegen komisch angeschaut zu werden. In meiner Heimatstadt Zürich wehten auf der Quaibrücke in diesem Sommer an beiden Enden und auf beiden Seiten erstmals die Fahnen der Ukraine. 

Ist das Nationalismus oder ein Zuwachs an Solidarität und Vielfalt? Es ist überwiegend Letzteres, was die Nationen verändert und zugleich als transnationale Nationen stärkt ebenso wie die Individuen als Staatsbürger. Nationalismus kann sich selbst verändern, erneuern und modernisieren und muss nicht zwangsläufig Rückfall ins Hässliche bedeuten.

„Wie kann man Selenski feiern und Viktor Orban verdammen?“ Ja, das kann man, wenn man die angemessenen Messlatten anlegt: Bei Selenski die transparente und motivierende Einigung in diesem gerechten Krieg gegen einen vermeintlich übermächtigen Feind unter großen Opfern und ohne Defätismus. Deswegen muss nicht jeder Vorschlag des großen Kommunikators richtig sein. 

Bei Orban sind es die Kriterien eines demokratischen Rechtsstaates gemäß der EU als Rechtsgemeinschaft (Einheit in Vielfalt). Deswegen muss nicht jeder seiner Sätze über die EU falsch sein. Gujers Vergleich, auch wenn er ’strukturell‘ gemeint ist, ist abwegig und führt sachlich nicht weiter.

Zudem sollte es nicht ums Feiern und Verdammen gehen, sondern eher ums Staunen und Wundern. Worüber man sich wundert, ist immer aufschlussreich. Bürgerglaube mit Perspektive kennt lebensweltlich kein Limit, und Enthusiasmus ist nicht Fanatismus. Wieso muss alles, was den Ukrainer/innen jetzt Zusammenhalt und Stärke gibt, Nationalismus sein? Nur Ideologen sehen überall Ideologie.

Bildnachweis: Dušan Cvetanović auf Pixabay