Zwischen Eskalation und Diplomatie

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Die Ukraine muss sich auf weitere Eskalationen einstellen. Das heißt nicht, dass parallel keine Verhandlungen möglich sind. Internationale Politik, die dem Frieden dient, braucht immer kluge Diplomatie. Vor allem dürfen die Gesprächsfäden nicht abreißen, Gespräche und Verhandlungen sind nicht dasselbe.

Die Ausgangspositionen sind im Moment klar und unversöhnlich. Die USA werden nicht ohne die Ukraine verhandeln, Putin will nicht verhandeln es sei denn einen Waffenstillstand, der ihm Vorteile verschafft. Gespräche zwischen den Verteidigungsministern Schoigu und Austin aber finden statt (wie schon früher) über “ unkontrollierbare Entwicklungen“ oder mögliche „Fehlinterpretationen“. Zwischen Atommächten ist das unbedingt notwendig. Möglicherweise können daraus auch Verhandlungskorridore entstehen, etwa für und bei der G20-Konferenz in Bali im November.

Gefährliche Entwicklungen, die unkontrollierbar werden können, gibt es genug. Denken wir nur an das Atomkraftwerk in Saporischschja oder an den riesigen Kachowka-Staudamm in der Nähe von Cherson am Strom des Dnepr. Beide Seiten werfen im Informationskrieg einander schwerste „historische Katastrophen“ (21.10.) vor im Falle ihres Eintretens. Bei einem Dammbruch wird nicht nur Cherson geflutet und mehr als 80 Ortschaften überflutet, auch die Kühlung des AKW’s Saporischschja ist in Gefahr. So können weitere Eskalationen aussehen.

Außenministerin Baerbock konnte schon am Rande der UN-Vollversammlung in New York im September keinen Termin beim russischen Außenminister Lawrow bekommen wegen einer entmilitarisierten Zone um das große AKW. Die Ukraine wirft Russland vor, den Staudamm zu verminen und möglicherweise zu sprengen, was den ukrainischen Vormarsch vor Cherson, der letzten „Stadt vor dem Sieg“ (Hodges) stoppen würde. Ein pensionierter General spricht von einem „Massenvernichtungsmittel“.

Verteidigungsminister Schoigu warnt vor einer „schmutzigen Bombe“, die radioaktives Material enthält, die Russland diskreditieren soll. Russland bringt das am 25.10. sogar vor den Sicherheitsrat. Genau eine solche Provokation zu provozieren, wirft die Ukraine wiederum Russland vor. Tatsächlich drängen Hardliner wie Generaloberst Kadyrow darauf, härtere Mittel einzusetzen und ukrainische Städte in Schutt und Asche zu legen.

Derweil wird Cherson in eine Festung umgebaut. Die Evakuierung der Zivilisten bezeichnen die einen als „Befreiung“, die anderen als „Deportation’„. Die militärische und zivile Lage an der 1100 Kilometer langen Frontlinie ist unübersichtlich. Sollen künftig Wagner-Söldner die annektierten Gebiete absichern?

Die militärische Lage und die Sprache im Informationskrieg deuten auf weitere Eskalationen hin.
Beide Seiten befinden sich in einem Stellungskrieg ähnlich wie im ersten Weltkrieg. Dieser Krieg kann noch lange dauern und möglicherweise zu weitergehenden Eskalationen führen, sollte eine angesagte Katastrophe tatsächlich eintreten oder der Krieg die Krim erreichen.

Verhandlungen wären also dringend, sind aber derzeit aussichtslos. 86% der Ukrainer sind gegen Verhandlungen mit Russland (25.10., ntv). Sie hoffen vielmehr auf ihre Soldaten als Befreier. Die ukrainische Position hat sich verständlicherweise nach 243 Tagen Krieg verhärtet. Es ist „ein falscher Pazifismus, vom ‚Frieden‘ zu reden und damit zu meinen, die Ukraine soll die Waffen niederlegen“ (Serhij Zhadan, Himmel über Charkiw).

Im Raum und in der Zeit des Krieges denkt man nicht an die Zukunft, aber man benötigt Perspektiven für den Kampf. Eine solche Perspektive ist der EU -Beitritt. Hier ist die internationale, insbesondere europäische Diplomatie seit der Konferenz in Lugano im Juli proaktiv geworden, noch bevor der Krieg endet.

Nicht weniger als ein Marshall-Plan für die Ukraine wird gegenwärtig in Berlin organisiert (siehe von der Leyen/Scholz in FAZ, 24.10., S.8). Ja, dafür ist viel „kollektives Wissen zusammenzuführen“ (Scholz). 750 Milliarden Dollar werden Stand jetzt veranschlagt, und es wird noch viel mehr werden. Aber es geht nicht ’nur‘ um Geld. Von der Leyen spricht auch von einem „Investment in demokratische Werte“. Europa insgesamt soll stärker daraus hervorgehen, so die Hoffnung.

Es handelt sich um ein Generationenprojekt, das auch mit dem ‚European Green Deal‘ verbunden werden soll. Die Gelder sollen transparent fließen, die Kontrolle über sie werden die USA und die EU wohl aufteilen. Die Korruption vor allem muss bekämpft werden. Für die deutsche Wirtschaft ist der IT-Sektor und der grüne Wasserstoff von Interesse, 200 deutsche Unternehmen sind bereits in der Ukraine tätig. 

Das Dringendste vor Winterbeginn sind jedoch Hilfen im Energiebereich. Ein Drittel der Energieversorgung ist zerstört. Das THW liefert hunderte Stromgeneratoren. Zahlreiche Städte und Kommunen sind trotz eigener Sorgen mit konkreten Hilfen in transnationaler Solidarität unterwegs für einen kalten Winter der Solidarität. Eine offene Frage bleibt, wie Russlands eingefrorene Gelder für den Wiederaufbau verwendet werden können.

Zugleich bleibt das Geschehen auf dem Schlachtfeld entscheidend in diesem Krieg bis zur Erschöpfung. Der ukrainische Außenminister verhandelt mit Israel über militärisches Knowhow, die USA wollen „noch entschlossener“ nach den jüngsten Angriffen auf Kiew „fortschrittliche Luftabwehrsysteme“ liefern (11.10). Deutschland unterstützt weiterhin die Luftabwehr, liefert aber keine Panzer.

Die Luftabwehr hat jetzt Priorität. In der deutschen Regierung ziehen nicht alle in dieselbe Richtung: die einen wollen mehr Geld für schwere Waffen, der SPD- Fraktionsvorsitzende Mützenich verlangt mehr diplomatische Initiative vom Auswärtigen Amt. Der Kanzler bleibt bei seiner Linie, während die Unruhe in den Bevölkerungen wächst. Dort sind Transparente „Diplomatie statt Krieg“ bei Demos häufiger zu sehen.

Ist der Krieg global geworden? Militärisch noch nicht, hybrid, als Informations-, Propaganda-, Energie- und Wirtschaftskrieg sehr wohl. Also könnte das möglicherweise überraschende Ende des Kriegs und die Nachkriegs-Weltordnung für das Überleben zu einer Frage werden, welches Bündnis mehr Verbündete haben wird. In diese Richtung muss die internationale Politik wirklich inter-national und nicht bloß hegemonial arbeiten. Das bessere Bündnis überzeugt und gewinnt. Es fehlen noch das Vertrauen und die Formeln für die Kooperation.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire