Zivilisation

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Das Verb ‚zivilisieren‘ (civiliser) steht nicht nur begriffsgeschichtlich vor dem Nomen ‚Zivilisation‘, das im französischen 18. Jahrhundert aufkommt. Es wird heute häufiger, bisweilen sogar inflationär gebraucht und ist unverdächtiger, denn es bleibt im Allgemeinen mit einer guten Absicht verbunden (den Kapitalismus zivilisieren zum Beispiel), während heute das große Wort Zivilisation gleich in den „Krieg der Zivilisationen“, den Kampf um die Kulturen, Werte und Identitäten hineingezogen wird. 

Zivilisation ist inhaltlich nicht nur nicht festgelegt, sie wird auch instrumentalisiert. Die „Rettung der Zivilisation“ kann dabei ganz Verschiedenes bedeuten, weshalb bei ihrem Gebrauch Vorsicht am Platze ist, vor allem in politischen Zusammenhängen. Der asymmetrische Gegenbegriff zur Zivilisation (Koselleck., Schmitt) ist die Barbarei. Das gilt für jede Zivilisation. Je höher und mächtiger der zivilisatorische Anspruch, desto heftiger kann der Gegensatz werden Dafür scheinen Zivilisationen besonders anfällig zu sein ( siehe nur den Gebrauch von „amerikanischer Zivilisation“ bei Trump und „russischer“ oder „eurasischer“ Zivilisation bei Putin sowie zahlreichen geopolitischen Ideologen), weshalb kultur- wie politiktheoretisch eine differenzierte Herangehensweise zu empfehlen ist.

Rund um das Mittelmeer haben wir es mit drei Zivilisationen zu tun, die der griechisch-römischen Zivilisation nachfolgen: 

– die (west-)römisch Zivilisation mit ihren späteren Verästelungen, 

– die griechisch-(ost)-römische Zivilisation und 

– die islamische Zivilisation. 

Nur die weströmische Zivilisation führte bei denkbar ungünstigen Voraussetzungen zur Renaissance des klassischen römischen Rechtsdenkens und dadurch vermittelt zum Republikanismus. Dessen Kerngedanken ist die freie und rechtlich gleiche Gesellschaft. Der oströmische Raum orientierte sich hingegen an Byzanz und dem Gottkaisertum während im Islam die politische Sphäre, soweit sie nicht theologisch im Sinne der Kalifatsidee aufgeladen war, machtpolitisch-pragmatisch verstanden wurde und nicht zum Gedanken einer auf Bürgerrechten beruhenden politischen Ordnung werden konnte. So könnte die Kurzfassung eines unverbesserlichen Eurozentristen lauten. 

Natürlich ist alles viel komplizierter und umfangreicher (Bibliotheken voll Bücher sind darüber geschrieben worden): historisch-genealogisch und global-vergleichend. Und vor allem kommt die neuere Geschichte Europas hinzu, das seinen weltpolitischen zivilisatorischen Anspruch nach dem 2. Weltkrieg in sein barbarisches Gegenteil verkehrt hatte. Der „Zivilisationszusammenbruch“ (Elias) oder „Zivilisationsbruch“ (Diner) durch den Nationalsozialismus hatte dazu geführt, und eröffnet durchaus ein neues weltpolitisches Kapitel. 

Die ‚internationale Gemeinschaft‘ sah sich nach dem 2. Weltkrieg verpflichtet, neue rechtliche Begriffe wie „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einzuführen. Es entstand eine Moralpolitik der Menschenrechte, die in der Folge philosophisch verschieden und politisch kontrovers ausgelegt wurde (siehe dazu: Kleger, Jeder nach seiner Façon: Toleranz als Streitfeld, 2012). 

Die Präambel der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen – der „wichtigsten Versammlung nach dem Letzten Abendmahl“ – formulierte normativ diese Zäsur. Und Hannah Arendt sah das „Problem des Bösen“ als das „grundlegende Problem des geistigen Lebens in Nachkriegseuropa“ (zitiert bei Paul Betts, Ruin und Erneuerung, Berlin 2022, S.7f.). 

Gerade der formbare und umstrittene Begriff der Zivilisation – „die europäischste aller Ideologien und die am höchsten geschätzte „, ermöglichte es jedoch, dem Wiederaufstieg aus den Ruinen einen Sinn zu geben, so das Thema des Buches von Betts (S. 9), das im Untertitel von der Wiedergeburt einer europäischen und nicht bloß westeuropäischen oder westlichen Zivilisation handelt. 

Es hilft, “ im Schatten einer viel größeren Krise als heute“(!) zu zeigen, wie und warum der alte und viel geschmähte Glaube an die Zivilisation dabei half, Europas Erbe zu kartieren, zu erhalten und seine Identitätskrise besser zu verstehen“. “ Bis Ende der Vierzigerjahre war Europa in einem Zeitalter der Spaltung und Entkolonialisierung ein vorrangiges Testgelände für den „Prozess der Re -Zivilisation“ geworden“ (S.36). 

Bei allem Versagen der Zivilisation heute wie jüngst in Afghanistan: der Zivilisationsbegriff ist wandelbar, das macht Betts Buch verhalten optimistisch deutlich. Es bezieht die UN-Charta ebenso ein wie den tätigen „Weltzivilisationbegriff“ der Unesco (zum Beispiel gegen die Zerstörung der syrischen Stadt Palmyra durch den Islamischen Staat, der dem Westen den Krieg erklärte), die Entkolonialisierung ebenso wie die osteuropäischen Bewegungen, die 1989 möglich gemacht haben. 

Auf dieser breiten Basis von Kultur- und Politikgeschichte sollten wir bleiben, um die geistigen Perspektiven von Zivilisation, wovon es nicht zu viel, sondern zu wenig gibt, lebendig zu erhalten und die politischen Ereignisse heutiger Tage nicht zu verfehlen. Einige wenige Punkte aus dem Buch will ich dafür herausgreifen. 

Bei den Nürnberger Prozessen (1945/46) tritt erstmals „die Zivilisation“ als Anklägerin auf (Jackson). Sogar souveräne Staaten und ihre loyale Rechtsbefolgung können nun auf die Anklagebank gesetzt werden. Die Verteidigung der europäischen Zivilisation vor dem Hitlerfaschismus kompensierte für die Alliierten das Fehlen von Rechtsnormen. Neben die neuartige justizielle Aufarbeitung durch das ‚überpositive‘ Recht, bei der Fotos und Filme eine wichtige Zeugenschaft übernahmen, trat die ‚Reeducation‘, in die viel investiert wurde und von den Amerikanern und Sowjets in ihren Besatzungszonen verschieden betrieben wurde. Sie hat bis heute ihre Wirkungen, Prägungen und Vorurteile hinterlassen. 

Die bislang europazentrische Auffassung von Zivilisation und Fortschritt erlebten einen angloamerikanischen Neuanfang, obschon das christliche Fundament nicht übersehen werden sollte. Der amerikanische Historiker Betts spricht sogar davon, dass die Religion (die irdische Religion des Kommunismus darf man einbeziehen, H.K.) den Kalten Krieg „formte“. Dafür ist die Verknüpfung von Christentum und amerikanischer Politik ein starker Beleg. Hierbei geht es auch darum, die gefährdete ‚christliche Zivilisation‘ zu verteidigen (Truman, Eisenhower, Dulles). Ausgerechnet der vormalige militärische Oberbefehlshaber Eisenhower spricht von spirituellen Waffen als den wichtigsten Ressourcen. 

Protestantismus und Katholizismus lieferten die Sprache der transnationalen Solidarität als Werte- und Kampfgemeinschaft und der traditionellen Zivilisierungsmission. Der Protestant Eisenhower spricht sogar von Kreuzzug, und die katholischen Adenauer, de Gaspari, Schuman verstanden die europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Bollwerk ausdrücklich auch gegen die „materialistische Lebensauffassung“ (!) des Marxismus und Kommunismus. 

Auch ‚Materialismus‘ kann man philosophisch unterschiedlich verstehen. Adenauer ging es um die „Verteidigung des Abendlandes“. Die rasche Restaurierung zerstörter Kirchen und Dome (Aachen und Köln) manifestierte dies. Symbolischer Höhepunkt war die Umarmung von de Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims im Juli 1962. Seitdem kann man mit Fug und Recht von einer europäischen politischen Freundschaft zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland sprechen, die freilich auch – zivilgesellschaftlich im besten Sinne – durch zahlreiche Städtepartnerschaften angebahnt worden ist. 

Der Schauprozess gegen Kardinal Mindszenty in Ungarn , der 1948 verhaftet wurde, war ein weltweit aufwühlendes Medienereignis in der damaligen Welt, welches zu heftigen Reaktionen führte. In diesem Zusammenhang werden in den 40er und 50er Jahren die Menschenrechte, die in der Würde der menschlichen Person zentriert sind, zum „dezidiert christlichen Projekt“(S.170): „Der Aufbau der Menschenrechte war eng mit dem Aufbau eines christdemokratischen Westeuropa verbunden.“ (S.171). „Die Rede von den Menschenrechten durchdrang die westliche Verurteilung des Mindszenty-Prozesses“ (S.172). 

Kurz zuvor war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit ihren 30 Artikeln verabschiedet worden (1948). Die Europäische Menschenrechtskommission weicht davon bezeichnenderweise ab. Für den Europarat sind die Religionsfreiheit und die christliche Zivilisation die Eckpfeiler der Menschenrechte (S.175). Betts schreibt darüber ein eigenes aufschlussreiches Kapitel, ebenso über die Wiederentdeckung des Abendlandes (Karl der Große, Papst Gregor). Die demokratische Linke war nicht sonderlich erfreut über diesen konservativen Tenor des Europarats, dem sie ideenpolitisch nicht viel entgegenzusetzen hatte. 

Doch die Vision eines internationalen Friedens verschwand auch im Kalten Krieg nicht. Zwei Konvergenzbereiche gab und gibt es: die unbewältigten Naturwissenschaften zum einen und die Menschenrechte zum anderen (S.205). Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 führte ein neues Zeitalter, das Atomzeitalter herbei. Dieser Epochenbruch ist kein schnelllebiger Trend oder ein Modethema, sondern ernst und persistent. Die verdrängte Apokalypse ist mit dem Ukraine-Krieg und der Klimakrise im Bewusstsein unserer Gegenwart wiedergekehrt. 

Die damals intensiv diskutierten Lösungsvorschläge einer ‚Weltregierung‘ – Hobbes‘ Weltstaat oder Kants föderative Weltrepublik – haben sich indessen erledigt. Dagegen kann von einer teilweisen „Zivilisierung des Krieges“ trotz Rückschlägen mitten in Europa (Sarajewo, Srebrenica, Ukraine-Krieg) durch die Genfer Konvention im August 1949, die Zivilisten universell schützen soll, gesprochen werden. Heute vergessen: Die sowjetische Delegation hat sich dafür besonders stark eingesetzt (S.216). Hier wird eine Grenze zur Barbarei markiert, die gegenwärtig ebenfalls wieder überschritten wird. 

Zur Zivilisation gehört die materielle Zivilisation hinzu. Der Materialismus ist eine Voraussetzung auch des Postmaterialismus, und der Alltag der Vielen ist politisch höchstrelevant. Schon in den 50er Jahren kritisierten viele Intellektuelle den American way of life als ‚Kulturimperialismus‘, was in den 60er Jahren auch in Europa zur neulinken Konsumkritik führte, die heute im Zeichen der ökologischen Krise und Kritik eine ernsthaftere Dimension gewonnen hat, wenn es wirklich um teilen, sparen und verzichten geht. 

Tatsächlich gelang es jedoch der neuartigen Massengesellschaft als ‚Konsumgesellschaft‘ der individuellen Freiheit, USA und Westeuropa noch stärker zu verbinden – neben dem Kulturellen und Militärischen. Der Einfluss der amerikanischen Medien kommt hinzu. Dieser mächtige und gehaltvolle Trend hat sich nach 1989 noch einmal verstärkt. Es gelang der Idee der westlichen Zivilisation, einen demokratisierenden Ausdruck zu finden. Die neuen europäischen Revolutionen stehen im Zeichen demokratischer Legitimität. 

Der französische Ethnologe Lévi-Strauss sah die differentia specifica der modernen urbanen Zivilisation bei der Energiefrage und in der unbehausten Behaustheit der Entwicklung posteuropäischer Megacities. Demgegenüber erscheint das alte Europa heute geradezu wie ein Museum, das die Nostalgie des Urbanen, Regionalen und Dörflichen pflegt: der Fortschritt und die Historisierung/Musealisierung ( Ritter, Lübbe). Aber EU- Europa hat auch Feinde und falsche Freunde. Mit der politischen Europaidee muss man sich deshalb auch weiterhin seriös und differenziert beschäftigen. 

Weltweit trumpfen gegenwärtig – ganz und gar unzivil – die fanatischen Verteidiger ‚ihrer Zivilisation‘ bis hin zur Weltkriegsdrohung wieder auf. Dagegen müssen wir von überallher und auf verschiedenen Ebenen die vielfältigen Zivilisationspotentiale einer lernfähigen Demokratie verteidigen können (Kleger 1993).

Bild von Andrea Lamberti auf Pixabay