Zerrissene Welt

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Bundeskanzler Scholz’s abschließende Rede am Weltwirtschaftsforum in Davos am 26. Mai wurde mit Spannung erwartet. Kanzlerin Merkel hatte schon 11 mal dort gesprochen. Erwartet wurde von Scholz eine Stellungnahme zum Ukraine- Krieg und zum Thema des diesjährigen Forums „Geschichte am Wendepunkt“, genauer müsste man sagen: Globalisierung am Wendepunkt.

Die Devise ‚Wandel durch Handel‘ ist gescheitert, wird sie am Beispiel von China, das in Davos fehlte, noch einmal scheitern? Die Freude, nach der Pandemie wieder einmal persönlich sich austauschen zu können, wich bald einer großen Rat – und Machtlosigkeit der „Entscheider der Welt“ (NZZ, 25.5.22, S.1): „Der Westen blieb stumm“. Einige Stimmen wollen wir dennoch für die weitere Reflexion einfangen.

Um mit der akuten Forderung des Tages zu beginnen, an dem die ukrainischen Verteidiger militärisch gerade in einer „extrem schwierigen Situation“ stecken und jeder Soldat nur eines fordert: mehr schwere Waffen, sagt Scholz nichts zu weiteren und schnelleren Waffenlieferungen. Putin darf zwar nicht gewinnen, die Nato aber auch nicht zur Kriegspartei werden mit westlichen Panzerlieferungen (wie etwa dem Leopard ll). 

Auch die schwere Artillerie – Panzerhaubitzen und Gepard – kommt im Juli zu spät. Die entscheidende Artillerieschlacht findet jetzt statt, und die Geländegewinne wird Russland nicht mehr zurückgeben. Vielmehr scheint die Militärführung am Plan festzuhalten, Mykolajiw einzunehmen, um den Weg nach Odessa zu ebnen.

Auf der anderen Seite lehnt Selenskyj „territoriale Zugeständnisse an Russland entschieden ab“. „Einen Diktatfrieden“ lehnt auch Scholz entschieden ab, auch Russland lehnt in ab. Wie also kann es zu einem Frieden mit dem nuklear hochgerüsteten Russland kommen? Zu dieser Frage hat sich in Davos auch der 99-jährige Henry Kissinger als historisch erfahrener Realpolitiker geäußert (siehe ‚World Order‘ 2014). Er rät zu Kompromissen, auch die Stimme seines Freundes Helmut Schmidt, der die Krim-Annexion noch erlebt hatte, wird in deutschen Zeitungen rekonstruiert: Was hätte Schmidt gesagt? (Die Zeit 25.5.22, S.57). Es scheint gerade so, als ob den Zeitgenossen die Probleme über den Kopf wachsen.

Tagesaktuell sind wir am selben Punkt wie vor Wochen, nur mit dem Unterschied, dass im Moment Russland langsam, aber grausam vorankommt und sein Kriegsziel, die Abtrennung der Ostukraine möglicherweise erreicht. Die Region Luhansk ist am 26.5. zu 95% erobert. Russische Pässe werden großzügig verteilt, Uhrzeit und Währung werden umgestellt.

Für wen arbeitet die Zeit? Das ist im Moment schwer zu sagen. Pessimisten sagen: für Russland. Die Ukraine und Polen sind jedenfalls enttäuscht von der Zögerlichkeit der Bundesregierung. Einmal mehr entsprechen die Taten nicht den Worten. Scholz hat inzwischen die Bausteine seiner grundlegenden Argumentation zusammen, konkret wird er aber auch in Davos nicht. Immer ist alles gemeinsam abgestimmt, das Wort ‚gemeinsam‘ fällt auffällig häufig, während gleichzeitig die USA die Lieferung von Langstreckenraketen öffentlich erwägt, was eine weitere Eskalation ist.

Der Westen, insbesondere die USA und GB, sind in der Ukraine im Krieg mit Russland Das sagen führende Politiker in Moskau schon lange. Es ist offensichtlich: Die USA und Großbritannien die beiden Sieger des 2. Weltkrieges lieferten von Anfang an mehr, zum Beispiel Feldartillerie, die jetzt im Donbass noch standhält. Sie kommunizieren dies offen und blicken nur auf die Ukraine und nicht die russischen Drohungen. Der Westen hat sich über die Kriegsziele bisher nicht verständigt. Er ist einheitlich und keineswegs einheitlich zugleich.

Jeder Krieg endet mit einer diplomatischen Verhandlung. Wie wird künftig die „balance of power“ mit Russland aussehen? Die Welt zerfällt derzeit in Blöcke. Russland wird sich nach Eurasien orientieren: Indien, China, Kasachstan, Iran. In Scholz’s Rede kommen der Nahe Osten, Israel, Saudi Arabien, Iran und Libyen nicht vor. Das künftige Verhältnis zu Russland und China wird ebenfalls nicht erörtert. Was heißt da noch Systemkonkurrenten? Für die Wirtschaft ist jedenfalls ein guter Umgang mit China unumgänglich (Volkswagen, BASF u.a.).

Im zweiten Teil der Rede stellt Scholz seine multipolare und multilaterale Welt der Zukunft vor, welche die großen globalen Probleme wie Klima, Kriege, Hunger, Pandemie u.a. lösen soll: natürlich gemeinsam und kooperativ. Hier finden sich auch wichtige Gedanken wie: „Widersprüche zusammen lösen“, „Krisen nicht gegeneinander ausspielen“, „Neu-Justierungen und Jahrhundertaufgaben“, „Zivile Komplexität“.

Wirtschaftsminister Habeck spricht in Davos von vier Krisen, die miteinander verbunden sind: Energie- und Klimakrise, hohe Inflation und Lebensmittelknappheit. Er fürchtet sogar eine globale Rezession, sollte keines der Probleme gelöst werden. In der Stromversorgung ohne Kohle sieht die USA Deutschland als „the first mover“ (so Kerry in Berlin am 27. Mai). Die Allianz für Transformation der Fortschrittsregierung soll auch für andere Länder ein Vorbild sein. Scholz glaubt an den Fortschritt.

Die De-Globalisierung wäre ein „Holzweg“, lautet sein Credo. Die Globalisierung ist vielmehr neu und klug zu denken. Welche Konsequenzen zieht man aber aus ihrem bisherigen Scheitern? Große Worte, die aufhorchen ließen, sind in Davos gefallen, so zum Beispiel „Freiheit ist nicht Freihandel“ von Jens Stoltenberg, der China mit Russland auf eine Stufe stellte. An deutschem Aktivismus und gutem Willen fehlt es ebenfalls nicht.

Die multipolare Welt wird mehrere Kraftzentren haben. Mehr Staaten, die hoffentlich nicht nur Demokratien auf dem Papier sind, werden fortan ihre Rolle spielen. Das ist gut so. Es wird schwieriger, aber auch besser, sofern die nötige Solidarität und Kooperation nachwächst. Scholz erwähnt Indien und Indonesien und selbstverständlich Japan, das er bei seiner ersten Asienreise besucht hat.

Er erwähnt auch Argentinien, Mexiko und Brasilien, lateinamerikanische Länder, der „Hinterhof der USA“, der nicht autoritären Regimen überlassen werden darf. Auch afrikanische Staaten, die Scholz kürzlich besucht hat: Niger, Senegal und Südafrika, werden nicht vergessen. Neue globale Allianzen und Märkte müssen entstehen, da hat er recht.

Das Schlagwort der europäischen Souveränität (Macron 2017)) fällt natürlich auch, obwohl Europa kein Thema seiner Rede ist. Die EU wird dieses Jahr ohnehin noch ein großes Thema werden. Wo bleibt die europäische Verteidigungsarmee? Wird Macron der Taktgeber bleiben? Die EU wird osteuropäischer denken müssen. Scholz hat noch in keiner Rede so viele Staaten aus verschiedenen Kontinenten konkret erwähnt. Der Blick hat sich geweitet, zugleich wird klarer, wie vielfältiger und zerrissener die Welt geworden ist.

Dabei räumt Scholz richtiger- und ehrlicherweise ein, dass die USA die „bestimmende Macht des Westens“ sein werden. Statt Hybris in der Theorie (Hypermoral)und Ängstlichkeit in der Praxis ist politikfähiger Common sense gefragt. Am aufsteigenden China wird man ebenfalls nicht vorbeikommen. Dafür findet der Kanzler nur wenige Worte, kurz nachdem weltweit und eindringlich bekannt wurde, was man schon lange wusste: die ungeheuerliche Unterdrückung der Uiguren. „Wir können nicht wegsehen“, so lauten die dürren Worte des Kanzlers. „Deutschlands größter Handelspartner ist ein Unrechtsstaat“ (FAZ 25.5.22, S.15). Von Tibet ist schon gar nicht mehr die Rede.

Wie soll die neue multipolare Welt gleichwohl regelbasiert sein können? Welche Rolle spielen welche Werte? Wie werden sie als Normen durchgesetzt? Wie kann zum Beispiel eine Diplomatie der Rüstungskontrolle vorankommen? Wie ist das Verhältnis von Interessen und Werten, Moral und Politik in der Realpolitik? Was heißt kluge Macht?

Die USA versucht derweil durch neue multilaterale Allianzen mit Japan, Südkorea und Australien den Einfluss Chinas einzudämmen. Im Unterschied zur Nachkriegsstrategie geschieht dies nicht über internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Weltbank, wo man mittlerweile die Macht mit China teilen muss, sondern über die Strategie des „Plurilateralismus“ (NZZ, 27.5.22). 

Diese Allianzen häufen sich: T 12, Chipallianz, IPEF. Die beiden wichtigsten Partner Bidens sind Südkorea und Japan. China wird vorgeworfen, die Spannungen bewusst strategisch im Gebiet zu erhöhen. Mit der „Verpflichtung“ Bidens, Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs beizustehen, provoziert er China an empfindlichster Stelle. Das bisherige Konzept der „strategischen Ambiguität“ hat ausgedient (NZZ, 25.5.22), was auch eine Zeitenwende ist.

China sieht seine Ein-China-Politik, wonach Macau, Hongkong und Taiwan zu chinesischem Staatsgebiet gehören, herausgefordert. Hier kommt es für Biden an der Seite des japanischen Ministerpräsidenten Kishida auf jedes Wort (auf Nachfrage) an und auf jeden Zentimeter Boden wie bei der Nato in Europa, während Sanktionen gegen Nordkoreas Raketenprogramm von Russland und China im Sicherheitsrat blockiert werden. Auch Japan erhöht wieder sein Verteidigungsbudget. All das spielt sich in der Jetztzeit mit großer Geschwindigkeit ab, während bei uns der Fokus gebannt auf der Ukraine liegt, wo es ebenfalls buchstäblich auf jeden Tag in einer Zeit des Krieges ankommt.

China und Taiwan beobachten den Ukraine-Krieg und das Verhalten der USA und Russlands in diesem Konflikt sehr genau und ziehen ihre Schlussfolgerungen. Hat Biden aus dem Ukraine-Konflikt gelernt, wie wichtig Abschreckung ist? Und was lernt Taiwan von der Ukraine? Bereitet es sich besser auf die asymmetrische Kriegführung vor: „Im Ernstfall wie ein Stachelschwein“ (FAZ, 24.5., S.3).

Bidens Bekenntnis vom 23.5.22 in Tokio wiegt schwer, ebenso schwer wie sein Bekenntnis in Polen. Es wird in Zukunft um zweierlei ernsthaft gehen müssen, was beides für sich schwierig genug ist: Abschreckung und präventive Diplomatie. Ein Umgang mit China muss gefunden werden. Und die Stachelschweine und Igel auf der Welt sollen leben und sich hoffentlich weiter vermehren.

Bei der realen wissenschaftlich-technologischen Entwicklungsdynamik mit ihren unvorhersehbaren Sprüngen wird die Rüstungskontrolle zur Überlebensfrage der Menschheit: „Die Atomgefahr macht Rüstungskontrolle nötig“. Dazu braucht es China, das „argwöhnt, sein weiterer Aufstieg solle durch Rüstungskontrolle behindert werden“ (NZZ, 14.5.22, S.5). Rüstungskontrolle ist heute schwieriger als während des Kalten Krieges. In den letzten Jahren hat der mangelnde Fortschritt bei der Abrüstung zum „Atomwaffenverbotsvertrag“ geführt, der von 60 Staaten ratifiziert worden ist (siehe NZZ, a.a.O.). Sind die russischen Atomdrohungen ein Grund, ihn zu unterzeichnen? 

Für die Nato nicht. Es existieren mithin zwei gegenläufige Trends: mehr Abrüstung und mehr glaubwürdige Abschreckung. Es muss aber auch dringend mehr Raum für Rüstungskontrolle geben, wenn die Welt nicht noch gefährlicher werden soll, als sie ohnehin schon ist. Schwierige Wege der Transparenz, Deeskalation und Risikominderung aufgrund von mehr Wissen und Austausch sind deshalb in dieser zerrissenen Welt zu gehen und abzusichern.

Bildnachweis: IMAGO / Xinhua