Zeitenwende

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Der 12. Mai markiert eine Zeitenwende in Europa: das neutrale Finnland (und in seinem Gefolge wohl auch Schweden) will definitiv der Nato beitreten.

Das verkünden in einer gemeinsamen Erklärung der finnische Staatspräsident Sauli Niinistö und die Regierungschefin Sanna Marin. Sie vertreten die zwei größten Fraktionen im Parlament. Zuvor wurde einer dreimonatigen Diskussion in der Bevölkerung Raum gegeben, die definitive Entscheidung wird indessen in der Eduskunta, dem finnischen Parlament fallen. In der Bevölkerung (76%) wie im Parlament gibt es inzwischen eine breite Zustimmung, was anfangs des Jahres bei weitem noch nicht so war.

Putins Krieg ist auch deshalb ein strategischer Fehlschlag, weil er das Gegenteil von dem erreicht hat, was beabsichtigt war: nämlich die Zurückdrängung der Nato. Nun hat sich die Grenze der Nato zu Russland mit mehr als 1300 Kilometer verdoppelt, und zwar nicht als Beschluss der Nato, sondern aus freiwilliger, wohlüberlegter Entscheidung von Finnland. 

Das will etwas heißen, da Finnland eine lange konfliktreiche Geschichte mit dem übermächtigen Nachbarn hinter sich hat. Wer wüsste besser pragmatisch mit Russland umzugehen in Europa als Finnland? Land und Leute urteilen aus Erfahrung und im diachronen Vergleich. Siehe auch den Blog Von der Re-Militarisierung zu Armageddon !?.

Putin wollte die Nato in die Grenzen der 90er Jahre zurückdrängen. Die Nato war der Grund für den Georgien-Krieg (2008) wie für den Ukraine-Krieg. Nun gibt es eine Norderweiterung der Nato, alle Anrainerstaaten im Ostseeraum gehören künftig dazu. Die Nato rückt damit näher an die Grenzen Russlands heran.

Sie wird grösser und stärker, aber nicht um Russland zu bedrohen, sondern um souveräne Nationen im Bündnis vor den Bedrohungen Russlands zu schützen. Mit den bisherigen Sanktionen seit der Krim-Annexion 2014 konnte Putin leben. Nun zeigt sich für alle deutlich, dass er sich strategisch verschätzt hat. Deshalb markiert nicht nur der Überfall auf die Ukraine, der 24. Februar, sondern auch der 12. Mai eine sichtbare Zeitenwende, die das Leben von Völkern elementar betrifft.

Prompt reagiert Russland und fährt schweres Geschütz im doppelten Sinne des Wortes auf – verbal und militärisch. Peskow spricht von einer „Bedrohung für Russland“. Medwedew, ein möglicher Nachfolger Putins, warnt vor einem „direkten Konflikt zwischen der Nato und Russland mit unvorhersehbaren Folgen“. Daraus könnte ein Weltkrieg entstehen.

Ohnehin wird der Konflikt immer stärker als „Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland“ interpretiert, was auch mit den kriegsentscheidenden Waffenlieferungen zu tun hat. Am 14.5. fordert Außenminister Kuleba darüber hinaus sogar Flugzeuge. Das heißt auch: Putin wird interpretieren, wer Kriegspartei ist und wer nicht – juristische Kategorien und Exegesen hin oder her. Für Chodorkowski ist „Putin längst im Krieg mit der Nato“ (16.4. NZZ, S.22).

Inzwischen wird auch die EU als „aggressiver Akteur“ eingestuft und Lawrow spricht vom „totalen hybriden Krieg des Westens“. Diese Ausdehnung und Steigerung des Krieges hängt eng mit dem Kriegsverlauf in der Ukraine selbst zusammen. Am 9. Mai konnte Putin keinen Sieg verkünden, die Donbass-Offensive stockt, und die ukrainische Militärführung will bis Ende Jahr die eroberten Territorien wieder zurückgewinnen, einschließlich der Krim (Budanov). Kompromisse beziehungsweise ein Friedensvertrag mit Zukunft sind nicht in Sicht, immerhin spricht man wieder miteinander, selbst Austin und Schoigu, was viel ist.

Russland rüstet an der Grenze auf, in Belarus und Kaliningrad auch mit Iskander-Raketen, die mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden können und erst kürzlich bewusst öffentlichkeitswirksam getestet worden sind. Dazu kommt die verstärkte Präsenz von U-Booten in der Ostsee und Arktis. Für Finnland wie die Nato wird die Übergangszeit bis zur definitiven Mitgliedschaft kritisch. Premier Boris Johnson hat deswegen eine Kooperationspartnerschaft angeboten.

Finnland verfügt mit nur 5,5 Millionen Einwohnern über eine starke Armee, die militärisch trainiert ist und im Ernstfall 280.000 Soldatinnen und Soldaten mobilisieren kann. Es hat seine Verteidigungsausgaben seit 2014 erhöht und ist für Konflikte besser vorbereitet als die meisten Nato-Staaten. Das Land verfügt über Luftschutzbunker und einen funktionierenden Katastrophenschutz. Deutschland kann sich für seine verteidigungspolitische Zeitenwende einiges abschauen.

Finnland hat so viele Kampfpanzer wie die Bundeswehr und eine bessere Artillerie. Seit 2017 existiert ein Kompetenzzentrum gegen hybride Bedrohungen. Auch das größere Schweden, das seit 200 Jahren keinen Krieg mehr geführt hat, fühlt sich bedroht und rüstet auf. Hier sind die Vorbehalte gegenüber der Nato grösser. Beide Länder verstärken die Nato sowohl militärisch wie auch als gefestigte Demokratien politisch. Aufgrund gemeinsamer Übungen sind sie bereits als neutrale Länder Nato-kompatibel.

Die USA, Kanada und Großbritannien unterstützen deshalb als große Vorreiter mit Nachdruck den Beitritt. Einzig die Türkei Erdogans ist dagegen, weil sie die skandinavischen Länder für „Gasthäuser von Terrororganisationen“ wie der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Die Türkei unterhält zudem gute Beziehungen zu Russland. Alle 30 Nato-Staaten müssen dem Beitritt zustimmen. 

Von Bundeskanzler Scholz war es klug, die schwedische und finnische Ministerpräsidentin ins Schloss Meseberg einzuladen, zumal beide Sozialdemokratinnen sind. Möglicherweise wird Finnland östlicher in dem Sinne, dass es wegen der Bedrohungslage näher an Polen und die baltischen Staaten heranrücken wird, vielleicht erhält auch Nordeuropa insgesamt in der EU ein stärkeres Gewicht.

Wir erinnern uns an das Versprechen von Außenminister Blinken, dass die Nato jeden Zentimeter Boden verteidigen wird. Das ist eine unverrückbare rote Linie, die zu halten gefährlich werden kann gegenüber einem Gegner, dessen Staatsdoktrin eine Verschwörungstheorie ist (Kononow), die geradezu systematisch für fehlenden Realismus im Politischen wie im Militärischen sorgt.

Bildnachweis: Wilfried Pohnke auf Pixabay