Zeit des Krieges

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Ausgerechnet an dem Tag, wo UN-Generalsekretär Guterres Kiew besucht, wird die Hauptstadt nach zwei Wochen wieder mit 5 Raketen beschossen, in der Nähe des Treffens mit Selenskyj.
Ein zynischer „Gruß aus Moskau“ mit symbolischer Bedeutung.

Die UN genauso wie die globalen Institutionen sind keine moralisch-politische Autorität mehr. Zuvor saß Guterres mit Putin am langen Tisch mit größtmöglicher Distanz wie viele Staatschefs vor ihm. Die UNO bzw. die ‚Weltgemeinschaft‘ erscheint hilflos in ihrem Vielfrontenkrieg wie seit langem, nun einmal mehr. Guterres selber räumt ein, dass „der Sicherheitsrat versagt habe.“

Vom Treffen wurde denn auch nicht viel erwartet, und es bestätigte sich, was der italienische Ministerpräsident Draghi zuvor schon undiplomatisch äußerte, dass es „keinen Sinn mehr mache, mit Putin zu sprechen.“ Damit ist ein historischer Tiefpunkt der internationalen Politik erreicht, und es fragt sich, wie es strategisch weitergehen kann. Strategisches Denken bezieht sich in einer Zeit des Krieges primär auf kriegsentscheidende militärische Operationen.

Der Ausgang des Krieges ist zurzeit offen, obwohl auch dieser Krieg – niemand weiß, wie lange er sich noch hinziehen wird – einmal mit einem Friedensvertrag enden wird. Niemand weiß zudem, was dieser enthalten wird. Das wiederum erfordert ein politisch strategisches Denken, welches über das Militärische im engeren Sinne hinausgeht.

Das ist ein Koexistenz – und Sicherheitsdenken, das weder ‚heroisch‘ noch ‚postheroisch‘ ist und jenseits der herkömmlichen (deutschen) Schemata von ’national‘ und ‚postnational‘, ‚links‘ und ‚rechts‘ liegt. „Vernetzte Sicherheit“ lautet das Schlagwort. Statt Etikettierung und Schubladisierung ist die Übung konkreter Urteilskraft, die zu Ergebnissen kommt, gefragt.

Mögliche Strategien müssen jetzt diskutiert und reflektiert werden genauso wie die Waffenlieferungen im Einzelnen. Die Bündnis- und Landesverteidigung, die in Deutschland jahrzehntelang vernachlässigt worden ist, wird nun sehr konkret. Dringlichkeit und mittelfristiger Horizont müssen mit Sachverstand zusammenkommen. Dasselbe gilt für die europäische, die Nato- und internationale Ebene. Die Defizite sind gewaltig.

Präsident Biden und die USA haben von Anfang an entschlossen die Führung bei der Unterstützung des ukrainischen Widerstands übernommen. Für sie sind Bürger und Bürgerinnen nicht naive Widerständler, sondern wehrfähige Bürger. Die USA liefern mehr Waffen als alle europäischen Staaten zusammen. Ihre Nato-Generäle wissen, wie Europa zu verteidigen wäre und können es auch (siehe Hodges u.a., Future War in Europe, München 2022).

Inzwischen vertrauen auch Schweden und Finnland mit ihrer starken Landesverteidigung auf die Bündnisverpflichtung gemäß Artikel 5. Auf internationaler Ebene indessen ist weniger klar, wie die künftige Politik aussehen könnte. Putin will am G 20-Gipfel im Herbst teilnehmen, und Scholz führte – just am Tag des Bundestagsbeschlusses zu den Waffenlieferungen – seine erste Asienreise nach Japan und nicht nach China.

Die USA glauben an den militärischen Sieg der Ukrainer. Nur er könne Putin dazu zwingen, die „brutale Invasion zu beenden, die er angefangen hat“. Biden lädt nach und beantragt am 28.4. noch einmal gigantische 33 Milliarden Dollar vom Kongress, größtenteils für Waffen. Er hat dabei eine große Mehrheit hinter sich, einzelne Republikaner würden sogar noch weitergehen und, zusammen mit Polen, auch Kampfjets, die ukrainische Piloten fliegen können, zur Verfügung stellen. 

Seit der Konferenz auf der amerikanischen Luftwaffenbasis Ramstein bei Kaiserslautern, die Verteidigungsminister Austin für 40 Nationen einberufen hatte (26.4.), verändert sich die außenpolitische Strategie dahingehend, nicht nur die ukrainische Verteidigungsfähigkeit zu ertüchtigen, sondern es Russland künftig zu verunmöglichen, solche völkerrechtswidrigen Aggressionen ausführen zu wollen. 

Man denkt mittel- bis langfristig, obwohl vieles offen ist. Auch Taiwan sieht sich inzwischen militärisch-politisch gestärkt durch das ukrainische Beispiel und zieht entsprechende Konsequenzen („Taiwan kann gegen China verteidigt werden“, in: NZZ, 23.4., S.15). Der Konflikt wird überall auf der Welt aufmerksam beobachtet und die Ausrichtung der künftigen Weltpolitik beeinflussen. Vor allem Demokratien müssen lernen, sich verteidigen zu können, was mehrere Aspekte umfasst, militärische ebenso wie solche des Zivilschutzes, der heute auch Katastrophenschutz ist. 

Die Zeit des Krieges, die unsere Kräfte absorbiert, ist auch eine Zeit der (Natur-) Katastrophen, die offensichtlich zunehmen und grösser werden. Hier entsteht eine Dienstpflicht für alle, die freilich unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Es handelt sich um einfache und elementare Angelegenheiten der Bürgerschaft. Auf keinen Fall darf man die Verteidigung der Demokratie, die im Lokalen wurzelt, einem Berufsheer überlassen. Und selbstverständlich haben auch kleinere Staaten ein Existenz- und Selbstbestimmungsrecht.

Das russische Militär kommt auch bei der zweiten Großoffensive nicht so voran wie erwartet. Sage und schreibe mehr als 1.000 russische Panzer sind bisher zerstört worden. Trotz massiver Kämpfe entlang einer langen Frontlinie von der Millionenstadt Charkiv im Norden bis Cherson im Süden gibt es zurzeit keine größeren Geländegewinne, nur Zerstörung bis zur Unbewohnbarkeit.

In Cherson wollen die Besatzer ein Referendum durchführen, wogegen es zivile Widerstände von Seiten der Bevölkerung gibt. Präsident Selenskyj ernannte schon am 6. März die ehemals fast 300 000 Einwohner zählende Stadt zur „Heldenstadt“. Eine Befreiung durch Besetzung wird es in diesen Gebieten auf Dauer nicht geben können (siehe auch ‚Ukrainian Voices‘, collected Andreas Umland, ibidem Verlag). Die russische Armee ist an der einheimischen Bevölkerung gescheitert.

Das strategisch und symbolisch wichtige Mariupol ist am 64. Tag des Krieges noch immer heftig umkämpft wie am ersten Tag. Es gibt keine Nachschubwege mehr. Alle infernalischen Waffen, außer der Atombombe, sind eingesetzt worden. Nicht einmal Guterres konnte humanitäre Fluchtkorridore für die vielen Zivilisten mit Kindern aus dieser realen Hölle im riesigen Stahlwerk 30 Meter unter der Erde, auf diplomatischem Wege erwirken. 

Die Evakuierung muss nun nach den Bedingungen von Putin durchgeführt werden. Die Soldaten, die vor kurzem noch internationalen Entsatz (‚Extraktion‘) bei CNN gefordert hatten (20.4.), müssen sich ergeben. Putin sieht sie wie IS-Terroristen in Syrien, die Zivilisten als Schutzschilder benutzten, was für die Soldaten ein Todesurteil ist.

Zudem kämpft hier auch das Asow-Regiment, das aus russischer Sicht pars pro toto für den ukrainischen ‚Nazismus‘ steht: Die Ukrainer will man „befreien, indem man sie entnazifiziert“. Die alltägliche russische Propaganda vor dem Fernsehschirm arbeitet auf Hochtouren mit Belegen dafür, die sich finden lassen.

Hier tobt mithin eine Entscheidungsschlacht und gleichermaßen ein paradigmatischer Kampf um die Wahrheit: „Die Stadt ist abgeriegelt, Informationen dringen kaum heraus. Und doch lässt sich die Frage beantworten, was an der Front wirklich geschieht“ (siehe das Dossier der ‚Zeit‘, 28.4.). Die akribische Reportage arbeitet im Team mit verschiedenen Augenzeugen, Quellen und Meinungen. Vieles und Verschiedenes wird zusammengetragen aus einer zerstörten Stadt, was auch grundsätzliche Fragen über ‚Wahrheit und Evidenz“ (Blog vom 16. März) und „Wahrheit und Lüge“ (Blog vom 30. März) aufwirft.

Die informationstechnisch und medial (vor allem über Bilder, so findet das russische Fernsehen in der Kaserne des Asow-Regiments ein Exemplar von Hitlers ‚Mein Kampf‘) mit mehr oder weniger Macht produzierte Wahrheit ist die Einordnung in ein bestimmtes Narrativ, dessen Pflege wiederum eine intellektuelle ( man sagt auch: journalistische) Aufgabe ist. 

Solche einflussreichen meinungsbildenden Prozesse im großen Stil benötigen Personal, Technik und Expertise. Das ist quasi die geistige Industrie im Hintergrund wie im Vordergrund des Krieges. Welcher Wahrheit ist man verpflichtet? Evident und kohärent muss sie mindestens sein.

Putins Krieg war von Anfang an wütend (aus Kränkungen geboren) und unverhohlen mit Drohungen verbunden, dass Staaten, die sich in die „innerrussische Angelegenheit“ der imperialen Spezialoperation einmischen, mit Konsequenzen zu rechnen haben, die sie sich in ihrer „bisherigen Geschichte nicht vorstellen konnten“.

Das waren die erschreckend unheimlichsten Worte in der Begründungsrede des Krieges, denn damit konnte nur die Drohung mit dem Atomkrieg gemeint sein, entsprechend versetzte Putin diese Streitkräfte sogleich in Alarmbereitschaft, worauf die USA gelassen routiniert reagierten. Der diplomatische Informationskanal auf dieser Ebene funktioniert bis heute, wofür auch der Raketentest und der Gefangenenaustausch sprechen. Die historische Begründung selber wiederum existierte schon länger und konnte an vielen Stellen nachgelesen werden ebenso die nukleare Einsatzdoktrin, die keine Geheimsache ist.

Die für die Stärke der ukrainischen Armee zentralen Waffenlieferungen aus dem Westen sind inzwischen nicht nur ein „legitimes Ziel“, sondern Putin droht Ende April offen mit „blitzschnellen Reaktionen“: „die Instrumente dafür haben wir“, und „die Entscheidungen seien gefallen“. 

Die militärische Situation ist im Rahmen einer beiderseitigen Preiserhöhungsstrategie nach mehr als zwei Monaten ernster geworden (siehe Blog Preiserhöhungsstrategie 14. März). Die offene Situation steht vor der Entscheidung, wenn man weiterhin in der Kriegslogik bleibt. Ein Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren könnten, ist im Moment nicht in Sicht. Am 30.4. beklagt Außenminister Lawrow die fehlende Verhandlungsbereitschaft der Ukraine und macht Washington und London dafür verantwortlich, den Krieg in die Länge zu ziehen. Keine der beiden Seiten spricht von einem Waffenstillstand.

Es handelt sich objektiv um eine Steigerung und Ausweitung des Krieges bis hin zu einem Titanenkampf zwischen Putin und Biden. Für die russische Seite wird die Ukraine von den USA nicht nur unterstützt, sondern seit 2014 auch gesteuert. Sie führt auf ukrainischem Boden einen „Stellvertreterkrieg gegen Russland“. Im größenwahnsinnigen Bewusstsein geht es dabei um die Dominanz in der Welt, die man lediglich aus imperialer Warte der Herrschaft und damit schlecht kennt.

Der entschieden-besonnene (überlegene?) Biden spricht inzwischen von einer „beunruhigenden Rhetorik“, zumal Putin sie selber noch einmal unterstreicht, indem er ausdrücklich macht, dass sie keine „Prahlerei“ sei. Auf seine Rede am 9. Mai, am Tag des großen Sieges in Moskau muss man gespannt sein.

Bildnachweis: IMAGO / NurPhoto