Wozu Staaten? Der ‚gute Staat‘ und seine Funktionen

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Viele Jahre hat man die 3-Elemente-Lehre des Staates nach Georg Jellineks einflussreicher Allgemeiner Staatslehre (1900) repetiert. Danach besteht der Staat aus:

1. einem Staatsgebiet,
2. dem Staatsvolk (äquivalent zu Nation) und
3. als souveräne Staatsgewalt.

Diese Definition ist eingängig geworden, obwohl alle tragenden Elemente in einem Umbruch sind und heute niemand mehr so einfach sagen kann, was einen Staat ausmacht. Dabei ist ständig und überall von ihm die Rede. Können wir dieses Gerede noch präzisieren und für eine theoretisch-politische Diskussion fruchtbar machen?

Nehmen wir zuerst das Staatsgebiet als Bezugsraum für das Recht. Da fällt einem sofort die
Supranationalisierung des Rechts als Gegentendenz ein, in der globalisierten Wirtschaft sind es die grossen transnationalen Unternehmen und bei der Landesverteidigung etwa das Militärbündnis der Nato. Dazu kommen die organisierte Kriminalität und die Migration, welche grenzüberschreitende Phänomene sind und den Bedeutungsverlust von Staatsgrenzen dokumentieren, was nicht heißt, dass Grenzen keine Rolle mehr spielen.

Damit verbunden sind innere und äußere Souveränitätsverluste, dem historisch und systematisch ersten Kernelement neuzeitlicher Staatlichkeit (Bodin, Hobbes), die aus dem Absolutismus erwachsen ist. Heute ist die umstrittene Souveränität verflochten zu denken. Als weitere Kernmerkmale in der Geschichte des modernen Staates, welche die alten nicht überflüssig machen, kommen die Verfassung (Rechts- und Verfassungsstaat) sowie die Wohlfahrt (Leistungsstaat) hinzu, letztere als besonders voraussetzungsreiche, selbstverständlich gewordene Leistung.

Außerdem verändern die Migration und die Transnationalisierung der Staatsbürgerschaft ( zum Beispiel durch das kommunale Wahlrecht für EU-Bürger) die Struktur und die Zusammensetzung des Staatsvolkes. Diese Entwicklungen sind bekannt und schon vielfach im Detail beschrieben worden, so dass als spannende Frage für uns eigentlich nur übrigbleibt: Wozu überhaupt noch Staaten in einer objektiv zunehmend überstaatlichen gesellschaftlichen und politischen Welt? Welche Strukturen, Funktionen und Aufgaben bleiben dem Staat? (Siehe dazu Peter Saladin, Bern 1995).

Vergessen wir aber neben und über den Staaten die ‚Staatengemeinschaften‘ (internationale und supranationale Organisationen) nicht. Sie bestehen, was keineswegs trivial ist, aus funktionierenden Staaten. Wie es eine dichte Vernetzung und (oft problematische) Verflechtung von staatlichen und supranationalen Aufgaben gibt (etwa in der EU), so gibt es im Innern föderaler Staaten eine dichte Verflechtung von gliedstaatlichen und gesamtstaatlichen Aufgaben (Verhandlungsdemokratie und kooperativer Staat). Föderalismus ist kompliziert, aber auch bürgernah.

Dabei gehören Wirtschaft und Umwelt meist weitgehend in die Bundesdomäne, während Bildung, Kultur und Gesundheit Aufgaben der 16 Bundesländer oder 26 Kantone bleiben. Dieser Föderalismus hat Vor- und Nachteile, wie wir alle in der Pandemiekrise gerade wieder deutlich erfahren haben. Wir sehen an dieser Stelle auch, dass es selbst in Europa ganz unterschiedliche Staatstypen und Staatsvorstellungen gibt, die eine starke historische Pfadabhängigkeit aufweisen, worauf wir hier nicht eingehen können.

Was uns stattdessen beschäftigt ist die normative Frage, ob es Kriterien für die Aufgabenverteilung von Staaten und Staatengemeinschaften gibt. Saladin (1995) schlägt
vier Kriterien vor, mit denen man fruchtbar arbeiten kann:

1. Vertrautheit
2. Betroffenheit
3. Zwischenstaatliche Gerechtigkeit
4. Integrationskraft

1., 2. und 4. haben viel mit demokratischer Subsidiarität zu tun, die wiederum auf den bürgerschaftlichen Solidaritäten jeweils kleinerer politischer Handlungseinheiten beruht, seien es Kommunen, Städte oder Städtebündnisse, Regionen, Nationen oder die EU. Politische (Staats-) Aufgaben sollten in dieser Sicht politischer Theorie am besten von der Einheit bzw. der Ebene wahrgenommen werden, die mit den Umständen und Gegebenheiten der jeweiligen Probleme am meisten vertraut und von den Regulierungen am stärksten betroffen ist (1. und 2.).

Dadurch entstehen die bekannten Probleme der Betroffenheits-Demokratie, wie wir sie deutlich beim heftigen Streit um die Atommüll-Standorte erlebt haben. Wer trägt hier die Verantwortung für die letzte Entscheidung? Solide Staatstheorie ist nötig, wenn „der Staat das Subjekt der Verantwortung für die langfristigen Nebenfolgen menschlicher Handlungen ist“ (Spaemann 1979). Das gilt ganz besonders in der epochalen Transformation unserer energiefressenden Zivilisation, mithin in der Energie- und Verkehrswende. 

Wichtig ist dabei auch die Vorsicht und die Rücksicht darauf, den Staaten diejenigen Aufgaben zu belassen, ohne die sie an Integrationskraft einbüßen. Denn Staaten sind nicht nur Garanten für Freiheit und Ordnung, was selbstverständlich scheint, aber unendlich viel ist, wenngleich sie auch hier Aufgaben an internationale Organisationen abgeben. Verfassungs-, Rechts- und Sozialstaaten sind zudem Integratoren (4.), was gerade heute zusätzlich noch einmal viel ist, wo Gemeinsinn und Gemeinwohl zu erodieren drohen (siehe z. B. Robert Putnam 2020).

Saladin plädiert als Jurist und Staatsrechtler einerseits dafür, möglichst viele grenzüberschreitende Aufgaben auf die transnationale Ebene zu verschieben, andererseits aber auch dafür, solche Aufgaben den Staaten vorzubehalten, die mit „Werten“ besetzt sind. Was heißt das? An dieser Stelle zählt er auf, was für die nationale Identität konstitutiv wirken kann: Privat- und Strafrecht, den Umgang mit Migranten, Gerichtsorganisation, Bildung, Kultur, Heimat- und Naturschutz. Die Verfassung und ihre Werte wären hier noch besonders zu erwähnen.

Saladin ist sich bewusst, dass die nationale Ebene an Aufgabensubstanz verliert, andererseits gibt es hier aber auch Politikfelder wie die Migrationspolitik, die zunehmend polarisieren und einen populistischen Nationalismus befördern, zumal dann, wenn sie mit Sicherheitspolitik konfundiert werden. Insofern spielen Entnationalisierung und Renationalisierung gleichermaßen, so paradox sich das anhört, eine große Rolle. Gleichzeitig weist die Aufgabenteilung zwischen nationaler und internationaler Ebene Ähnlichkeiten mit der innerstaatlichen föderalen Arbeitsteilung auf.

Die politischen Realitäten sind also kompliziert und müssen differenziert zur Kenntnis genommen werden. Eine neuerliche Aufklärung mit Wirklichkeitssinn ist nötig. Wo bleibt hier der Staat im großen Singular? Ganz offensichtlich verschwindet er ja nicht. Braucht es noch ein zusätzliches Begründungskonzept für ihn? Als wichtigste und zugleich besonders anspruchsvolle Prinzipien bleiben Legitimität und Integration, die zudem miteinander verschränkt sind.

Denn was heißt demokratische Legitimität noch unter Bedingungen von mehreren Ebenen der Politik und des Rechts? Wie baut sich eine Mehrebenen-Demokratie auf? Sicherlich stärkt die verbesserte Legitimität staatlichen Handelns die „Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Heimat“ (Saladin), in der jeder ohne Angst leben kann, aber die Stiftung und Aufrechterhaltung solcher Heimaten geht darin nicht auf. Das wäre politischer Rationalismus ohne politische Emotionen (Zivilreligion), die in der politischen Theorie notorisch unterschätzt werden. 

Hier bringt Saladin schließlich seine Idee der „kulturellen Staatspersönlichkeit“ ins Spiel, mit der ich wenig anfangen kann, obschon in der Hobbes-Tradition der Staat im Unterschied zur Regierung eine „Persönlichkeit“ im Großen ist (siehe Quentin Skinner, Berlin 2017). Die Integrator-Rolle des Staates ist in meinen Augen schon anspruchsvoll genug, da sie ein Verständnis von ziviler Komplexität in der politischen Theorie erfordert, das viel zu selten ist. Zum Schluss bleibt die Frage, ob Jellineks Grundbegriffe ‚Gebiet‘, ‚Volk‘ und ‚Souveränität‘ durch die Begriffe ‚Heimat‘, ‚Integration‘ und ‚Legitimität‘ abgelöst werden können.