„Wir träumten von nichts als Aufklärung“ (Mendelssohn 1784)

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Das 18. Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Aufklärung allenfalls spricht man noch von Frühaufklärung im 17. Jahrhundert. Das ist die historische Aufklärung, die Aufklärung als Epoche, der wir in Wissenschaft, Literatur und Politik viel verdanken, zum Beispiel die Bürgerrechte.

Prozesse der Aufklärung indessen gab und gibt es in allen Epochen, selbst Aufklärung über Aufklärung. Die Aufklärung ist vielfältig. Im Nachhinein spricht man auch von einer „Berliner Aufklärung“, der Mendelssohn (1729-1786) zugehörte. Er gilt darüber hinaus als wichtiger Vertreter der jüdischen Aufklärung, Haskala genannt. Ihre Anhänger, die Maskilim, betonten Elemente, die dem Judentum und dem Christentum gemeinsam waren.

Das Jüdische Museum (der zerbrochene Davidstern von Libeskind) in Berlin bietet am passenden Ort in Kreuzberg, in der Nähe des „Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platzes“, bis zum 11. September eine umfassende Ausstellung über sein Leben und Wirken in Berlin. Schon als 14- Jähriger erreichte Mendelssohn durch das Hallesche Tor diese Stadt von Dessau aus, um die Talmudschule von David Fränkel zu besuchen. Er wollte lernen und arbeiten.

Mendelssohn setzt auf Bildung, weltliches Wissen, Austausch, Übersetzung, Mitdenken und Gespräch. Seine großen Themen sind keineswegs abgehakt. In Vielem ist er ein Wegbereiter, so bei den Minderheitenrechten oder der Trennung von Staat und Religion, wo er sich differenziert mit den Argumenten von Hobbes und Locke auseinandersetzt. Die restriktiven preußischen Judengesetze lassen eine gleichberechtigte Teilhabe nicht zu. Was bedeutet Integration? Welche Dimensionen hat sie? Und wann führt sie zur Aufgabe kultureller Identität?

Viele Fragen Mendelssohns sind noch unsere Fragen. Man muss ihn nicht künstlich aktualisieren, viele Spuren der Aufklärung führen vielmehr direkt ins Heute und die Jetztzeit. Sie sind als Anknüpfungspunkte wieder aufzunehmen, auch für ein modernes Toleranzedikt als Stadtgespräch seit 2008 in Potsdam.

Was kann man/frau durch Bildung erreichen? Wie gehen wir mit den Illusionen und Realitäten der Chancengleichheit um? Welche alten und neuen Toleranzthemen gibt es im Mit- und Gegeneinander einer Stadtgesellschaft? Eine anlassbezogene Aufklärung ist nicht nur aktuell, sondern notwendig.

Mendelssohn verbindet als gesetzestreuer Jude (Halacha) Tradition und Aufklärung, die sich nicht prinzipiell ausschließen. Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) ermuntert ihn zum Schreiben und Publizieren. In „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ (1767) argumentiert er für die Toleranz unter den Religionen. Die Religionstoleranz, die sich in einer globalen Welt noch ausgeweitet und vervielfältigt hat, ist sein großes Thema.

In „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“ (1783) versucht er, die jüdische Religion mit der Aufklärungsphilosophie in Übereinstimmung zu bringen. Das ist ein systematisch heikles Thema für jede Religion und jede Aufklärung, die es nur im Plural gibt. Es ist in der langen Zwischenzeit mit zunehmender Differenzierung und Pluralisierung weder philosophisch noch politisch einfacher geworden, im Gegenteil. Denn was heißt Religion? Und was heißt Aufklärung heute – nach einer Geschichte der Dialektik der Aufklärung?

Moses Mendelssohn wurde vom ‚toleranten‘ Friedrich ll., der 1740 die Herrschaft übernahm, nicht toleriert. Er bekam keinen Zugang zur Tafelrunde und wurde ohne Begründung von der Akademie ausgeschlossen. Einerseits handelt es sich bei Friedrich dem Großen um eine bemerkenswert radikale Aufklärung innerhalb Europas, einschließlich der französischen Materialisten im Garten von Sanssouci. Andererseits ist es eine bemerkenswert intolerante Aufklärung, nicht nur Mendelssohn, sondern auch Rousseau gegenüber. 

Bei der Toleranz hatte Friedrich vor allem die Konfessionsstreitigkeiten unter den Christen im Auge. Umso bedeutsamer für die Geistesgeschichte wurden Lessing, der die muslimische Welt mit umfasste, und Mendelssohn für die jüdische Aufklärung. „Jeder nach seiner Façon“ bleibt dennoch der beste Satz aus der preußischen Ecke, er muss nur verallgemeinert werden (Kleger 2012). Aber man sieht: auch die Aufklärung hat ein Toleranzproblem. Allein die Berufung auf die großen Worte und Werte löst noch keine Probleme weder konkrete noch systematische.

Die Aufklärung muss nicht neu erfunden werden. Sie besteht im Wesentlichen aus zwei hauptsächlichen Bestandteilen: Aus Wissen und Haltung. Selberdenken ist ihr Motto, wir fügen hinzu: heute mit allen Hilfsmitteln (Tools und Skills, Fakten, Modelle und Theorien), eingebettet in eine moralische Verfasstheit. Wissenschaftsfeindschaft vergiftet diese Haltung, die elementare Methoden wie Falsifikationismus (Popper) und Fallibilismus (Peirce) berücksichtigt.

Mut und Liebe zur Wahrheit sind vorausgesetzt, Ehrlichkeit und Redlichkeit ebenso. Das ist eine Bodenhaftigkeit verbunden mit Weitblick. Mündigkeit gelingt darüber hinaus nur, wenn wir uns auf reale Gespräche einlassen, mit Rede und Gegenrede. Die kämpferische Toleranz der Demokratie beziehungsweise der Demokraten und Demokratinnen ist und bleibt die prekäre Aufgabe, um die man sich als mündiges Subjekt allerdings bemühen muss.

Aufklärung ist nicht institutionell garantiert, auch in einer Demokratie nicht. Die hasserfüllten Debatten um Covid und Maßnahmen dagegen haben gezeigt, in wie vielen verschiedenen Welten wir gleichzeitig leben. Trotz großen Investitionen in Bildung und 50 Jahren Bildungsexpansion können wir nicht von einer gemeinsamen wissenschaftlich untermauerten Vernunft ausgehen. 

Zu viele lassen sich von Verschwörungstheorien und Fake News überzeugen. Auch die Propaganda bzw. die Gegenaufklärung hat dazugelernt, und die Indifferenz der Nicht-Aufklärung darf in einer liberalen Gesellschaft nicht unterschätzt werden. Demokratie und Aufklärung müssen deshalb in einer offenen Gesellschaft zusammenspannen und ein heterogenes Bündnis – den aktiven Konsens der Demokraten – schließen, was wiederum Toleranz voraussetzt.

Foto: Moses Mendelssohn Stiftung, Berlin, https://www.moses-mendelssohn-stiftung.de