Am 19.3. bekräftigt Selenskyj ernsthaft einmal mehr, „es sei Zeit zu reden“, während der Krieg erbarmungslos fortgeführt wird. Dabei sind sowohl die Einschätzungen des Kriegsgeschehens wie der Aussichten von Verhandlungen ganz unterschiedlich.
Die einen sprechen von einem militärischen Patt, andere von der nahenden Niederlage der russischen Armee. Sie sehen nur in der Niederlage dieser und einem Machtwechsel im Kreml ein Ende des Krieges. Andere wiederum sehen Kompromissmöglichkeiten in einer freilich schwierigen und noch schwieriger umsetzbaren Verhandlungslösung (nach dem sogenannten 15 Punkte-Plan). Israel und Erdogans Türkei, die nicht nur zwischen Demokratie und Diktatur, sondern auch zwischen Putin und der EU steht, bieten sich als Vermittler an.
Die dem kämpfenden Volk und dem Land verantwortliche ukrainische Regierung will das aus nachvollziehbaren Gründen. Den Preis dafür möchte jedoch Putin bestimmen, wie er in seiner Rede zum 8. Jahrestag der Krim-Annexion (18.3.) vor seinen Anhängern des ‚Einigen Russland‘ im vollen Luzhniki-Olympiastadion deutlich machte. Der Diktator zeigte sich wieder einmal seinem Volk und lobte die heldenhaften Soldaten. Die für alle lesbare Parole in großen Lettern lautete: „Frieden ohne Nazismus“.
Insider schätzen, dass mehr als 70% der Bevölkerung Putins Krieg unterstützen. Die Sanktionen indessen sind wirksam, obwohl ‚wahre Patrioten‘ immer behaupten, dass sie den Selbstbehauptungs-Kampf noch stärken. Es gibt aber auch sichtbare Risse, und niemand kann „gegen die halbe Welt kämpfen und gewinnen“, so die Tochter des ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow (Spiegel, 17.3.).
Etwas anderes ist die Einigkeit als „Schlüssel zur Freiheit“, die der Bürgermeister von Kiew Klitschko beschwört. Auf beiden Seiten werden immer mehr Freiwillige aus dem Ausland eingesetzt. Das erinnert an die internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg, der das Vorspiel zum Faschismus war.
Die Repression in Russland gegen Andersdenkende wird derweil stärker, nicht nur rhetorisch, wo von „Verrätern“, „Fliegen, die man ausspucken muss“ und „Selbstreinigung“ die Rede ist. Zur selben Zeit werden auf dem Gefechtsfeld neue Waffen getestet wie Hyperschallraketen, und Außenminister Lawrow verkündet, dass “ die Verbindung zu China stärker wird“ (19.3.). Auf welche Seite wird sich China schlagen? Kommen die ‚besseren‘ Waffen noch? Das sind beunruhigende Fragen.
Putins Rhetorik war von Anfang an erschreckend radikal, aber radikalisiert sich auch der Krieg noch einmal, je länger er dauert? Das weiß im Moment niemand, nicht einmal die Geheimdienste, die zuverlässiger funktionieren als noch im Irakkrieg. Der Informationskrieg wird selbst immer mehr zu einem taktischen Mittel des Krieges.
Putin zerstört die Ukraine, indem absichtlich zivile Ziele angegriffen werden. Die Zerstörung der Städte kommt einem Urbizid gleich. Gleichzeitig will er den Westen beeindrucken: Er sieht sich in einem ‚zivilisatorischen‘ Verteidigungskrieg gegen den Westen – bis hin zur Barbarei? Die Krim und die Republiken im Donbass wird der Putinismus nicht mehr zurückgeben.
Wie also soll unter diesen Bedingungen ein Kompromiss überhaupt möglich sein? Beide Seiten sind nicht für Kompromisse gemacht. Neutral war die Ukraine schon 2014, als sie von Russland überfallen wurde. Leider haben auch Sicherheitsgarantien einen historisch schlechten Ruf, siehe nur das Budapester Memorandum von 1994. Weiter wollen wir gar nicht in die neuere Geschichte zurückgehen. Was also ist aus der Geschichte zu lernen, ohne Zyniker zu werden?
Der Krieg gegen die Ukraine zeigt einmal mehr, was passieren kann, wenn man Diktatoren mit
erklärten Großmachtzielen nicht rechtzeitig entgegentritt. Sie rüsten ihre Sicherheitsdienste und Armeen nicht auf, um sie nicht einzusetzen. Ihre Macht und Größe beruht ganz wesentlich auf deren Macht und Größe.
Fällt die russische Armee, fällt auch Putin, soviel ist jedenfalls sicher. In die Ecke gedrängt könnte er tatsächlich nukleare Waffen zünden, zumal wenn man die Gerassimow-Doktrin kennt, welche das Recht zur nuklearen Verteidigung vorsieht. Das macht diesen Konflikt, in den bald alle Atommächte involviert sind, in der Jetztzeit so gefährlich.
Auch nach der langen Belagerung von Sarajewo 1992/93 hat es die EU überdies versäumt, auf dem Balkan eine stabile Friedensordnung zustande zu bringen. Bosnien-Herzegowina, das ehemalige Jugoslawien im Kleinen, droht der nächste Konfliktherd zu werden.
Großserbische Nationalisten drohen das fragile föderale Gebäude, 30 Jahre nach Beginn des Jugoslawienkrieges, mitten in Europa, erneut zum Einsturz zu bringen. Putin wird die großserbischen Separatisten und die ihnen Gleichgesinnten überall unterstützen.
Serbien hat sich als einziger europäischer Staat den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Präsident Vucic pflegt beste Kontakte zum Kreml, er will es aber auch mit der EU nicht verderben. Gibt die EU nun den anderen Westbalkanstaaten Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien, Kosovo und Nordmazedonien den Vorzug? Wie geht sie mit ihnen um? Betreibt die EU Integrationspolitik auch unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten? Lernt sie aus der langen Geschichte der Balkankriege?
Die EU muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken, das ist keine Frage. Deshalb hätte man den EU-Beitritt der Ukraine in der Versailler-Konferenz am 10./11. März nicht bloß ‚prozedural‘ behandeln dürfen. Die EU muss sich vielmehr „als politische Schicksalsgemeinschaft mit verstärkter sicherheitspolitischer Kooperation, wenn nötig auch im Bereich der nuklearen Rüstung “ verstehen (so die These von Ash, Cohn-Bendit, Karolewski, Leggewie in: FAZ, 18.3.).
Sie und ihre Länder müssen jetzt aufwachen und ein gemeinsamer geostrategischer Akteur werden, was zuerst bedeutet, klug und abgestimmt in die eigene Verteidigungsfähigkeit zu investieren. Eine europäische Armee ist seit langem ein Thema, aber in letzter Zeit bloße Symbolpolitik geblieben. Die EU muss aber auch den beitrittswilligen, aber nicht beitrittsfähigen Ländern etwas anbieten, nicht nur der Ukraine, sondern ebenso den genannten sechs Westbalkanstaaten, einschließlich Serbien, so der Historiker und langjährige Belgrad-Korrespondent Andreas Ernst (NZZ, 17.3., S.13).
Das heißt: „Das ‚Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten‘ muss viel grundsätzlicher gedacht werden“ (Ernst). Das scheint mir die richtige Lehre aus der gegenwärtigen Krise zu sein.
Die Amerikaner haben die verheerenden Jugoslawienkriege beendet, zuvor sind dort 140 000 Menschen gestorben! Wer vorher dieses hoffnungsvolle Land gut gekannt und geschätzt hatte, kann es heute noch nur schwer begreifen. Es gelang der EU nicht, “ in den folgenden 20 Jahren eine stabile, wachstumsträchtige Nachkriegsordnung in der Region aufzubauen“ (Ernst).
Im Kontrast dazu schritt in Osteuropa die größte EU- und NATO-Erweiterung mit relativem Wohlstand, Demokratie und Sicherheit voran, und zwar nicht als imperiales Projekt, sondern über eine demokratische Revolution gegen das imperiale Projekt der ehemaligen totalitären Sowjetunion.
Das macht seit der internationalen Konkurrenz zwischen Wilson und Lenin die Strahlkraft des atlantischen Bündnisses aus. Auch das Freiheits- und Friedensprojekt Europa muss sich wieder verstärkt in diesem Rahmen nach der brutalen Erfahrung des russischen Angriffskrieges auf das größte europäische Land verstehen.
Dabei darf der deutsche Diskurs nicht von einem Extrem ins andere verfallen: der nötige Verteidigungswille ist nicht martialisch. Deutschland muss nicht gleich über die „schlagkräftigste Armee Europas“ (Lindner) verfügen, sondern lediglich seinen Verpflichtungen der Landesverteidigung und Nato nachkommen.
Das ist nicht wenig, gemessen an den letzten Jahren. Geld allein ist nicht das Entscheidende. Auch gegenüber einer angesonnenen „Führungsrolle“ von Deutschland oder Frankreich, das außenpolitisch oft genug seine eigenen Wege ging, sollte man Abstand halten.
Wer von Waffen spricht, ist bestenfalls ein Realist, aber noch kein Bellizist. Auch wenn man nicht Pazifist ist, was kein Verdienst ist, bleibt dennoch der Nuklearpazifismus von allen Seiten das höchste verbindliche Gebot, wofür weltpolitisch alle Anstrengungen zu unternehmen sind.
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