Putin hat einmal mehr einen neuen Armeegeneral für den Krieg gegen die Ukraine eingesetzt: den 55-Jährigen Sergej Surowikin, der für rücksichtslose Härte aus dem Tschetschenien- und Syrienkrieg bekannt ist. Er trägt den Spitznamen „General Armageddon“.
Das passt zur Einschätzung des amerikanischen Präsidenten Biden, dass die Lage noch nie so ernst gewesen sei wie seit der Kuba-Krise 1962, als die Welt nahe an einer nuklearen Katastrophe vorbeigeschrammt ist. Biden spricht aus persönlicher und politischer Lebenserfahrung, was ebenso ernst zu nehmen ist wie Putins Drohungen mit atomaren Waffen.
Dabei ist nicht gleich an strategische Atomwaffen und Interkontinentalraketen zu denken, was häufig auf großen Bildern assoziativ aufscheint, selbst in seriösen Blättern, und bekannt ist unter dem schrecklichen Titel „Gleichgewicht des Schreckens“. Das ist weder verantwortbar für keine Seite, noch sind Vorbereitungen dazu gegenwärtig zu beobachten. Eher geht es um den Einsatz von sogenannt taktischen Atomwaffen, über welche Russland reichlich verfügt und die von verschiedenen Orten und Waffensystemen, etwa auch aus U-Booten, abgeschossen werden können.
Sie werden auf dem Gefechtsfeld eingesetzt und wirken zerstörerisch über Explosion und Verstrahlung (NZZ, 8.10., S.2). Die Experten sind der Ansicht, dass sie keine militärischen Vorteile bringen würden, sondern vielmehr überaus starke konventionelle Antworten der Nato nach sich ziehen, die kriegsentscheidend werden (vgl. Blog vom 4. 12.). Lediglich die reine Drohung und Erpressung im Rahmen der psychologischen Kriegsführung mit ihnen kann wirksam sein.
Die Lehre aus der Kuba-Krise lautet schlicht: „entschieden und besonnen zu antworten“ (so der Historiker Winkler, 10.10., Tagesspiegel, S.6), was einfacher gesagt als getan ist. Von Biden lässt sich das von Anfang an sagen. Seine Linie, die Nato aus dem aktiven Kriegsgeschehen herauszuhalten und einen dritten Weltkrieg zu verhindern, war bisher konsequent und konsistent, ebenso die anhaltend starke Unterstützung von Ukraines Widerstandswillen gegen den Aggressor.
Seine persönliche öffentliche Verurteilung von Putin als Kriegsverbrecher ist verständlich, wenngleich sie der Diplomatie nicht förderlich sein mag. Was von Lawrows neuesten Angeboten für Gespräche auf höchster Ebene zu halten ist, weiß man nicht. Nicht alle diplomatischen Kanäle sind jedoch versiegt. Wer macht (wieder) den Anfang? Auch Kanzler Scholz hat bislang bei allen Meinungsverschiedenheiten und Zögerlichkeiten entschieden reagiert. Kann er einen Anfang machen? Die Natoisierung Europas ist unterdessen weiter fortgeschritten.
Generalsekretär Stoltenberg beurteilt die neuerliche Eskalation durch und nach der Annexion zurecht für so groß wie noch nie. Nach der Sabotage auf die Pipelines – ein Akt hybrider Kriegsführung – hat die Nato die Streitkräfte in der Nord- und Ostsee verdoppelt! CNN führt derweil die Nachrichten unter dem einordnenden Obertitel „Escalation on war“. Auch Taiwan orientiert sich am Beispiel des Ukrainekrieges. Weiterhin sind die Raketentests Nordkoreas gegen Japan präsent, und die brutale Unterdrückung des Volksaufstands im Iran ist im Gange. Das ist (zu-)viel auf einmal für die Weltmacht USA.
Der Krieg ist in Russland wie in den USA im eigenen Land bei der Bevölkerung angekommen. Insofern ist der realistische Rahmen weiter zu spannen. Es geht auch um die Bausteine einer künftigen Weltordnung: Weltkrieg und Weltwirtschaft hängen zusammen. Das Schlimmste steht erst noch bevor, so die Prognose des IWF am 11. 10..
Die Abhängigkeit von Energie ist überall groß. Die Energiefrage wird zur Achillesferse der modernen urbanen Zivilisation. Der starke deutsche Staat leistet sich dabei einen „Doppel- vielleicht bald einen Dreifachwumms“. Politisch ist ein neuer Streit über die Atomkraft entbrannt. Deutschland befindet sich in einer “ schweren Energiekrise, die sich immer mehr zu einer Wirtschafts- und Sozialkrise auswächst“ (Habeck 12. 10.). Hauptgrund sind die gestoppten Gaslieferungen aus Russland.
Die weitere Entwicklung in der EU ist ungewiss und unsicher. Sollte sich der Brexit positiv für Großbritannien auswirken, könnte das den Reformdruck auf die EU erhöhen, sollte sich hingegen Frankreich durchsetzen, ist eher eine längere Phase der wirtschaftlichen und geopolitischen Stagnation zu erwarten. Trotz dem großartigen Gipfel Macrons von Prag mit 44 Regierungschefs ((EPG) als „Zeichen gegen Russland“ ist die EU nicht wirklich geeint und politisch schwach, es sei nur auf die Rolle der Türkei und die polnische Schelte Deutschlands verwiesen. Die Kritik an Macron und Scholz blieb, aus unterschiedlichen Gründen, nicht aus.
Russland erweist sich militärisch schwächer als gedacht. Der Westen setzt deshalb auf einen ‚Siegfrieden‘. Chinas Unterstützung Russlands ist nur halbherzig, es hat selber große Probleme mit dem zu geringen wirtschaftlichen Wachstum und der demographischen Langzeitentwicklung. China könnte daher versucht sein, das außenpolitisch durch militärische Aktionen zu kompensieren, woran seine Führung unter Xi ganz zielstrebig offensichtlich arbeitet.
Das russische Beispiel spricht allerdings eher dagegen. So oder so hat das Ende des Ukraine-Konflikts, bei dem China jetzt (sozusagen kurz vor dem Weltkrieg!) zur Deeskalation aufruft, seine Auswirkungen auf die neue Weltordnung, bei der alles auf eine Konfrontation zwischen den Mächten USA und China hinausläuft und ebenso die Atomwaffen eine zentrale Rolle spielen werden.
Mit Terroristen verhandelt man nicht!
Der russische Gegenschlag auf dutzende Städte als Rache nach dem Anschlag auf die symbolträchtige Krimbrücke war kalkuliert zerstörerisch – kurz vor dem Winter. Bei eigenen militärischen Rückschlägen wird dafür die Bevölkerung und ihre zivile Infrastruktur terrorisiert. Der ukrainische Außenminister Kubela bezeichnete Putin, der persönlich dazu den Befehl erteilte, als „Terroristen“.
Und mit Terroristen will man nicht verhandeln, allenfalls mit einem Nachfolger von Putin (so Selenski im ZDF-Interview am 12.10., wo er sagte, dass „Europa Angst vor Russland hat“). Putin wiederum wirft dem ‚Kiewer Regime‘ „Terrorismus“ auch auf Pipelines vor und sieht sich als Opfer in seiner Rede in der ‚ Energiewoche‘ in Moskau am 12. Oktober, in der er Europa Gaslieferungen anbietet. ‚Faschismus ‚gegen ‚Faschismus‘, ‚Terrorismus ‚gegen ‚Terrorismus‘ stehen einander scheinbar gegenüber – eine verrückte kategoriale Welt, bei der die Geheimdienste ihr bewusstes Verwirrspiel verrichten – Aufklärung um der riskanten Verwirrung willen ‚hinter den Linien‘.
Dazu passt, dass der Tschetschenenführer Kadyrow zum Generaloberst befördert worden ist. Darüber steht nur noch „Marschall Putin“, der den militärkritischen Hardlinern in den eigenen Reihen nachgibt. Wie ist das einzuschätzen? Als Verzweiflungstat? Eher als Indiz, dass der fürchterliche Krieg noch länger dauern wird. Und es ist nicht klar, wer hier wie zu welcher Lösung finden kann. Wir sind als Politikwissenschaftler nur ratlose, ohnmächtige und weitgehend unkundige Zuschauer.
Bei allen Problemen, kann Russland tatsächlich noch viele Rekruten ins Feld führen – die „willenlos willige Selbstzerstörung Russlands“ geht weiter (Sonja Margolina, NZZ, 11.10., S.14). Auf der anderen Seite werden effektive Luftabwehrsysteme wie die amerikanischen ‚Patriots‘ für die ukrainischen Städte überlebenswichtig. Deutschland hat vier Iris-T-Systeme geliefert.
Für die Bevölkerung in den zerstörten Städten und Dörfern beginnt ein brutaler Winter. Die Flüchtlinge werden zunehmen, und die Kommunen bei uns müssen sich darauf einstellen. Eine weitere Bewährungsprobe wie 2015 steht bevor, soviel ist sicher.
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