Wenn Staaten versagen, müssen Städte handeln

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Vom Bürgermeister Palermos Orlando, dem italienischen Antipoden von Innenminister Salvinis rigider Einwanderungspolitik der geschlossenen Häfen, stammen die bekannten Sätze „kein Mensch ist illegal“ und “ wer in Palermo ist, ist Palermitaner“. Im alten Hafen von Palermo legen Schiffe mit geretteten Migranten an – ein Los, das viele Städte am Mittelmeer teilen. Aus solchen gemeinsamen Herausforderungen heraus suchen Städte seit je gemeinsame Bündnisse für pragmatische menschenmögliche Lösungen, die Menschen in der Not helfen. Die europäische Migrations- und Asylpolitik ist im Sommer 2021 ein Scherbenhaufen.

Alle wissen, dass es dringend gemeinsame europäische Lösungen braucht, die aber in der EU der 27 nicht zustandekommen, während die Not der Flüchtlinge dramatisch wächst. Diese Not ist nicht aufschiebbar so wie die Lösung anderer Probleme. Seenot ist immer Seenot. Der gebotene moralische Anspruch, Menschen in der Not zu helfen, ist vorhanden. Wie aber sehen die nichtstaatlichen Handlungsmöglichkeiten aus? Und was vermögen die Städte?

Sie müssen (1.) von sich aus – bürgerschaftlich – etwas einbringen, und zum anderen (2.) bündnisfähig sein. Solidarität ist eine praktische Ethik des Könnens, inklusive Demokratie und Integration als Alltagskultur finden vor Ort statt. Es handelt sich dabei nicht, wie gerne polemisch unterstellt wird, um reine Gesinnungsethik oder politischen Moralismus, mithin um eine naive oder gar gefährliche „Willkommenskultur“, sondern um einen verantworteten längerfristigen moralisch-politischen Prozess, der nicht geschichtsphilosophisch durch vermeintliche Geschichtsziele bestimmt ist, sondern seine bürgerschaftlichen Voraussetzungen hat und kritisch begleitet werden muss. Dadurch wird die vermeintliche Dichotomie von Verantwortungsethik versus Gesinnungsethik (Max Weber) unterlaufen. 

Die selbstkritische Auseinandersetzung um die Konkretisierung der Aufgaben, die man kollektiv übernehmen will, muss möglich bleiben. Wirklichkeitssinn und Demokratie zwingen dazu. Das hat mit den Voraussetzungen zu tun, auf denen ein außerordentliches bürgerschaftliches Engagement ebenso beruht wie eine transnationale Politik der Städte, die innenpolitisch umstritten bleiben wird.

Zu diesen Voraussetzungen gehören eine aktive Zivilgesellschaft und initiative Bürgermeister, die vorangehen, sowie Ressourcen, politische Mehrheiten und Traditionen wie etwa der Geist des Potsdamer Toleranzedikts. Diese Tradition bedeutet in der Quintessenz, Flüchtlingen in der Not rechtzeitig (‚kairos‘) auch auf eigenen Wegen zu helfen.

Was man will, muss man auch können, und zu diesem Können gehört heute eine demokratische Legitimation, die auch in politisch heiklen Migrations- und Asylfragen ständig neu zu erkämpfen ist. Am 2. Oktober ging von der Feier zur deutschen Einheit eine besondere Botschaft von Potsdam aus (siehe dazu den Beitrag vom 2.10.2020), bedingt durch die dramatische Situation im Flüchtlingslager Moria. Auf den Bannern vor dem Filmmuseum standen die Namen von 194 Städten und Landkreisen, die bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen, aber bisher daran gehindert wurden. Die große Politik der Nationalstaaten im europäischen Rahmen behindert die kleine Politik der Städte, wie sie von den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern an dieser Stelle konkret und nicht nur als Absichtserklärung bekundet worden ist.

2019 bildete sich das Bündnis „Städte sichere Häfen“ auf Initiative der zivilgesellschaftlichen Bewegung „Seebrücke“ zur Seenotrettung. Es ging darum, sich auszutauschen und gemeinsam stark zu werden, um mit einer Stimme gegenüber der Bundesregierung sprechen zu können. Eine eigenständige Politik der Städte ist weder im föderalen System noch in EU-Europa vorgesehen. Auch im ‚Ausschuss der Regionen‘ als dritter Ebene spielen sie nur eine marginale Rolle, obwohl sie für die regionale Entwicklung als unterschiedliche Zentren immer von Bedeutung sind. Der Begriff der Region wird in Europa außerdem unterschiedlich verstanden, und die Problematik der Stadtregion (z.B. als Ruhrmetropole, Metropole Schweiz u.a.) ist noch kaum erkannt. Ansätze von Agglomerationspolitik als Mehrebenenpolitik gibt es ebenfalls erst seit kurzem.

Die Städte sind mithin Stiefkinder der Politik, obwohl die gesellschaftlichen Realitäten der Urbanisierung und Migration mit all ihren Problemen besonders aufdringlich sind. Man sieht und spürt sie, aber eine bewusste politische Urbanität, die dafür zivilisatorisch zuständig wäre, ist nicht nachgewachsen. Dafür gibt es Städtenetzwerke transregional und transnational (transnationaler Regionalismus, der deswegen die Nationalstaaten nicht abschafft, sondern relativiert und relationiert), die auf verschiedensten Politikfeldern produktiv sind: Klimaschutz, neue Mobilität, nachhaltiges Planen und Bauen, neue Integrationskonzepte, Prävention gegen Rassismus und Extremismus usw.

Zum größten Teil sind diese ‚policies‘ (Politiken im inhaltlichen Sinne) in den Städten und Stadtregionen entstanden, erstritten und ausprobiert worden, bis sie andernorts und auf anderen Ebenen aufgenommen worden sind. Nicht nur die regionale Entwicklung, auch die Staaten im weitesten Sinne als rechts- und sozialstaatliche Integratoren profitieren davon. Warum also wollen oder sollen sie den Städten das Leben schwer machen? Warum soll die sogenannte große Politik die kleine Politik der Städte behindern? Weil die problembewusste Urbanität ein liberales, tolerantes und solidarisches Mit- und Nebeneinander vieler Verschiedener impliziert? Weil sie inspiriert und engagiert? Weil sie Widersprüche und Konflikte ein- und nicht ausschließt? Das ist das Gegenmodell zu jeder autoritären, autokratischen oder homogenen Politik. Also darf es vielerorts zu wirkungsvollen urbanen Agenden, die den konservativen Nationalpatriotismus konkurrieren, gar nicht kommen.

Die neue internationale Allianz, die im Juni 2021 in Palermo auf der Konferenz „From the Sea to the City“ begonnen worden ist, soll Teil eines Europas von unten sein. Das deutsche Bündnis ’sichere Häfen‘, das von Potsdam aus koordiniert worden ist, bildete den Anfang. Geleitet sind solche Allianzen von einem „moralischen Pragmatismus“, so Mike Schubert, der Oberbürgermeister von Potsdam (siehe auch Potsdamer Neueste Nachrichten, 22.9.2020). Dieser ist sowohl ethisch motiviert als auch realpolitisch fundiert, indem die lokalen und europäischen Gegebenheiten berücksichtigt werden. Damit soll dem Weltbild des populistischen Nationalismus, der in Europa grassiert, etwas entgegensetzt werden. Gerade aus Lokalpatrioten können durch ihr Engagement vor Ort Weltbürger werden.

Dies ist kein praktisch-konkreter Gegensatz, sondern höchstens ein abstrakter Gegensatz wie Kosmopoliten vs. Kommunitaristen oder Liberale vs. Republikaner. Diese identitätspolitisch aufgeladenen Scheingegensätze werden in der urbanen demokratischen Praxis aufgelöst, weil Städte praktisch wie philosophisch Orte der Vermittlung sind: von Ort und Welt, Geschichten und Geschichte. Es existiert in ihnen jene grundlegend wichtige Verbindung zwischen der alltäglichen Lebenswelt und der sogenannten ‚großen Welt‘, die heute über die ‚Glokalisierung‘ läuft. An dieser Stelle spielen die Städte buchstäblich eine werkstadtspezifische Rolle, denn jede Stadt hat eigene Ansprüche und eine Agenda, die Unterschiede setzen kann.

Schubert will Menschen gewinnen, „die Menschen helfen wollen, die Seenotrettung zuerst als eine humanitäre Pflicht verstehen, für die aber die Frage der gerechten Verteilung der Aufgaben, organisierte Verfahren und gesellschaftliche Integration wichtig sind“. Kurzum:“ Es geht darum, humanitäre Beweggründe mit dem Machbaren vor Ort zu kombinieren.“ Das Internetportal HelpTo hatte schon in diese Richtung gewirkt. Ein Netzwerk der Städte soll nun darüber hinaus als „Teil des Verteilungsmechanismus in Europa für eine zügige Entlastung der Städte entlang des Mittelmeers sorgen.“ Demokratisch legitimierte Freiwilligkeit statt starre Vorgaben heißt der Weg dieses moralischen Pragmatismus. Man könnte auch von einer demokratischen Subsidiarität auf europäischer Ebene sprechen, welche auf die Solidarität der Städte baut, gleichviel ob in Polen, Italien, Spanien oder Deutschland.

Im Zuge der Konferenz in Palermo wurde das Netzwerk „International Alliance of Safe Harbours“ gegründet. 32 Städte, darunter Barcelona, Amsterdam, Bergamo, Leipzig und Greifswald, unterzeichneten eine Erklärung, in der Folgendes gefordert wurde:

– legale Einwanderungswege,
– gerechte Lastenverteilung zwischen den EU-Staaten,
– die Wahrung des Rechts auf Asyl in jedem europäischen Staat,
– Kontingente für die freiwillige Aufnahme und
– Finanzierung für die Aufnahme durch die EU.

Foto von Ahmed akacha von Pexels