Wendepunkt des Krieges?

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Im vorangegangenen Blog sprachen wir vom strategischen „Spiel mit der Zeit“ (1.9.). Dieses spitzt sich nun zu. Nach den überraschenden Erfolgen der ukrainischen Gegenoffensive, die seit Anfang September läuft (siehe dazu die hervorragende Analyse vom 17.9.: www.republik.ch), wird das Tempo zunehmend wichtiger: 

„Tempo sei wichtig bei der Stabilisierung der befreiten Regionen, bei der Normalisierung des Lebens dort und beim Vorrücken der Truppen. Die Unterstützung aus dem Ausland müsse ebenfalls mit diesem Tempo mithalten“ (Selenskyi 20.9.). Am Mittwoch wird Selenskyi vor der UN- Generalversammlung eine Rede halten, die Russland, das sich schweren Vorwürfen ausgesetzt sieht, verhindern wollte. Lediglich sechs Staaten haben Russland darin unterstützt. Selenskyi ist zum ersten Mal auf dieser größten Bühne der Weltöffentlichkeit per Video zugeschaltet.

Kann von dieser UN-Hauptversammlung, an der 140 Staats- und Regierungschefs teilnehmen ein Signal des Friedens ausgehen? Auch der deutsche Kanzler Scholz hält dort seine erste Rede gegen den „blanken Imperialismus“ Russlands und für eine neue „Weltordnung des Respekts“. 

Anstelle von Putin wird Lawrow teilnehmen. Putin wird dennoch im Zentrum der Versammlung stehen und sie aufmischen: am Mittwoch, dem 21. September, hält er um 7 Uhr Moskauer Zeit eine Fernsehansprache an die Nation, in der er eine Teilmobilmachung von Reservisten ankündigt, die am selben Tag beginnt. 

Er braucht Soldaten, wenn er den Krieg weiterführen will, der alles andere als ’nach Plan‘ verläuft. 300.000 Reservisten sollen deshalb eingezogen werden. Die harte Rede beschuldigt zugleich den Westen mit seinen Waffenlieferungen, „den Krieg auf russisches Staatsgebiet zu übertragen“ und Russlands Souveränität „zerstören“ zu wollen. Russland (wohl nicht die Mehrheit der Russen) fühlt sich bedroht und droht seinerseits: „Wir haben sehr moderne Waffen“ und werden darauf reagieren: “ Das ist kein Bluff“. Damit meinte er die taktischen Atomwaffen. 

Das russische Militär reagiert derweil vor Ort mit verstärkten Schlägen gegen zivile Ziele, welche die widerständige Bevölkerung demoralisieren sollen. Um sie läuft ab Freitag eine Abstimmungskampagne in Luhansk und Donezk, Cherson und Saporischschja geradezu mit allen Mitteln, die bis zum 27. September entschieden, sein soll. Russland hat es eilig, Fakten zu schaffen. Die vier Provinzen kontrolliert es nicht vollumfänglich 

Bei Anschluss der Gebiete könnte offiziell von ‚Krieg‘ gegen das eigene Staatsgebiet gesprochen und letztlich die ‚Generalmobilmachung‘ ausgerufen werden. Derart würde der gescheiterten ‚Spezialoperation‘ noch einmal eine andere Wendung gegeben, während die Duma die Strafgesetze (etwa gegen die Desertion) verschärft. 

Das ist insgesamt eine neue heikle Situation, die nichts Gutes verheißt. Wie kann daraus noch ein Frieden werden, der nicht wieder in einen neuen Krieg mündet? Wird nicht durch Pseudo-Referenden der Bürgerkrieg verlängert und intensiviert? Dieser politische Weg befriedet nicht, zumal er international nicht akzeptiert wird (OSZE, USA , Europa). 

Russland geht es um einen schnellen Beitritt der Separatistengebiete Luhansk und Donezk zur russischen Föderation oder zum Imperium. Daten wurden dafür immer wieder genannt und verschoben. Die vorgesehene Volksabstimmung in Cherson wurde wegen der ukrainischen Vorstöße sogar auf den 4. November verlegt, nun findet sie Ende September statt. 

Die Ukraine wiederum besteht darauf, dass die annektierten Gebiete nach internationalem Recht zur Ukraine gehören. Die Referenden haben für sie lediglich eine Schein-Legitimität, da sie ohne ihre Zustimmung und unter fragwürdigen Bedingungen des Kriegsrechts stattfinden. Auf diese Weise ist schon die Krim annektiert worden. 

Deutschland schickt vier Haubitzen, Mehrfachraketenwerfer und Dingos (statt Marder). Ein Ringtausch mit Slowenien über 28 Panzer ist im Gange. Ukrainische Soldaten in Isjum scherzen, dass das russische Militär in panischer Flucht mehr Waffen zurücklasse, als sie bekommen würden. Seit dem Besuch des ukrainischen Ministerpräsidenten Schmyhal in Berlin (4.9.) bettelt die Ukraine förmlich darum, deutsche Kampfpanzer und (schon länger) Schützenpanzer zu bekommen, die man für Geländegewinne benötigt. 

Außenminister Kuleba bekräftigt, dass so der Krieg schneller beendigt werden kann (11.9.). Er drückt aufs Tempo gegen die deutsche Zögerlichkeit und verlangt von Moskau nichts weniger als die „bedingungslose Kapitulation“ (12.9.). Kriege werden entweder durch ein Friedensabkommen oder durch militärischen Sieg entschieden. Letzteres ist weit häufiger. 

Oder sie bleiben ungeklärt und werden „eingefroren“ wie in Georgien oder Bergkarabach. Deutsche Leoparde und Marder wird es jedenfalls so lange nicht geben, als die USA keine Abrams liefert. Scholz bleibt entschlossen und besonnen zugleich. Präsident Biden muss in seiner Rede in New York zuerst auf die neuerliche nukleare Drohung antworten und sich mit den Nato-Partnern für das weitere Vorgehen abstimmen. Bei seinen Worten geht es „um nicht weniger als die Verhinderung eines dritten Weltkrieges“ (FAZ, 21.9., S.6). 

Das alles überlagert unter großem Zeitdruck die historische Vollversammlung der Vereinten Nationen, an der Generalsekretär Guterres zur Eröffnung davon sprach, dass die „Welt in großer Gefahr ist und gelähmt“: „Unser Planet brennt.“ Alle Krisen und Konflikte der Welt: Hunger, Überschuldung, Klimawandel werden durch den Krieg in der Ukraine aufgeladen. Guterres ist zu Recht Stolz auf die Getreidefrachter unter der blauen Flagge der Uno, bei der eine schwierige historische Reform auch des Sicherheitsrates ansteht. 

Der russische Botschafter Netschajew in Berlin warnte neulich Deutschland vor dem Überschreiten „roter Linien“, ohne genau zu sagen, was er damit meint. Putin drohte mit „gravierenden Reaktionen“, und Präsident Biden sah sich genötigt, diesen wiederum vor dem „Einsatz von Atomraketen“ zu warnen, was sich in aller Öffentlichkeit abspielte. Der 21. September hat diesen Ernst der schwierigen Lage noch einmal übertroffen. 

Ist es deshalb verwunderlich, dass viele Deutsche in der weitergehenden militärischen Unterstützung eine Eskalation befürchten? Am 21. September hat Putin unverhohlen noch einmal eskaliert nach den militärischen Erfolgen der Ukraine, die er als Angriff auf russisches Staatsgebiet werten will. Den Donbass zumindest will er als Kriegsbeute vorweisen können. 

Die Militärexperten selber geben sich auffallend zurückhaltend, wenn es um die Beurteilung einer Wende im Krieg geht, während Selenskyi neue Offensiven ankündigt. Ehrlicherweise prognostizieren sie einen möglicherweise „fürchterlich langen“ Krieg. Der mutige Handlungsoptimismus kann sich damit jedoch nicht abfinden, das ist klar. 

Weniger klar ist, wie man den „Putinismus“ besiegt? Kann ein Autokrat wie Putin, der die „russische Welt“ (Russki Mir) bewahren will und gleichzeitig zerstört, überhaupt einen Krieg verlieren? Ein Sieg der Ukraine könnte heilsam für ein künftiges Russland sein.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire