Weltpolitik auf dem Bürgenstock

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Weltpolitik auf dem Bürgenstock

Die Schweiz soll am 15. und 16. Juni einen Friedensgipfel zur Ukraine durchführen. Das gaben Bundespräsidentin Viola Amherd und Bundesrat Cassis, der schweizerische ‚Außenminister‘, kürzlich in Bern bekannt.

Vorbereitet wird er schon lange, gewünscht ist er von Präsident Selenski. Der Bürgenstock oberhalb des Vierwaldstättersees, der Wiege der Eidgenossenschaft, ist ein ruhiger Ort in einer unruhigen Welt der Kriege und des großen Vorkriegs in Europa.

Der Bürgenstock ist weit mehr als ein Hotel. Er ist ein Hotelberg, der heute im Besitz des Staatsfonds von Katar ist. Geographisch gehört er zum kleinen Urkanton Nidwalden, dessen Hauptort Stans heißt.

Deutsche und israelische Politiker kannten den Ort (Heuss, Ben Gurion, Golda Meir). Dreimal hat Bundeskanzler Adenauer nach 1950 seine Sommerferien auf dem Bürgenstock verbracht (NZZ, 12. April, S.24). Von hier aus soll sein „fliegendes Kabinett Weltpolitik gemacht haben“ .

Auch an Glamour mangelte es in den 50er und 60er Jahren nicht (Audrey Hepburn, Sophia Loren u.a.). 1960, 1981 und 1995 fanden die sogenannten Bilderberg- Konferenzen statt (a.a.O.). Der Ort wurde stets eifrig genutzt für das, was man heute inflationär informelle Gespräche und Netzwerken nennt.

Die offizielle Schweiz, wie immer etwas langsamer, hat den Konferenzort erst in den 2000er Jahren entdeckt, als Friedensgespräche zum Südsudan (2002) und zu Zypern (2004) hier stattfanden. Für Sicherheitsspezialisten ist der Ort – im Unterschied zu Konferenzorten wie Davos oder Genf – geradezu ideal, da es nur eine Zufahrtsstraße und in der Nähe einen ehemaligen Militärflugplatz gibt, auf den hochrangige Gäste einfliegen können.

Zur Konferenz erwartet die Schweiz 80 bis 100 Staatschefs aus aller Welt. Ob sie ein Erfolg oder Misserfolg wird, hängt stark von den Teilnehmern ab. Schon am Beginn des Projekts wurde kritisch angemerkt, dass sich die Schweiz damit wohl übernehme. Für Russland ist die Schweiz nicht mehr neutral, für China schon, das seinerseits nicht neutral gegenüber Russland ist. Der Weg zum Frieden wird aber sicher über China laufen müssen – und die USA.

Die Rückmeldungen seien für den Bundesrat ermutigend gewesen, sie blieben nicht auf die EU und die G7 beschränkt. Man will sich breit aufstellen, vor allem der globale Süden soll einbezogen werden, so Bundesrat Cassis im Interview (SRFnews, 12. April). Man ist in Kontakt mit Indien, Brasilien, Südafrika und Saudi-Arabien.

Sind die Schweizer verrückt geworden?

Die Schweiz macht sich noch immer gut in der Vermittlerrolle, das hat Tradition. Die sogenannten „Guten Dienste“ erfolgen indessen in der Regel diskret. Die Möglichkeit des Scheiterns ist gegeben. Also gilt es die Erwartungen und Möglichkeiten richtig zu justieren. Internationale Verhandlungen sind heikel und erleiden Rückschläge. Auch darauf hat man sich einzustellen.

Die Worte des russischen Chefdiplomaten Lawrow waren bisher mehr als deutlich. Lawrow spricht von der „völlig verrückten Selenski-Formel“. In einem langen Interview mit der regimenahen Iswestija erteilt er dem Friedensplan rundheraus eine klare Absage. Dagegen sei die Friedensinitiative Chinas vom Februar 2023 positiv aufgenommen worden. Was das weiter für die Ukraine bedeutet, sagt er nicht.

Auch China blieb in seinem grundsätzlichen und vorsichtigen Positionspapier in Bezug auf Russland bisher wenig konkret. China fürchtet sich offensichtlich vor einem Zusammenbruch dieses großen Landes an seiner Grenze, mit dem es schon Konflikte hatte. Die strategische Partnerschaft zwischen Putin und Xi beruht auf der gemeinsamen Feindschaft gegen die USA.

Anders als Selenskis Formeln beruhe der chinesische Friedensplan laut Lawrow jedoch auf einer Analyse der Ursachen des Geschehens und wolle diese beseitigen (a.a.O.). Was sind diese Grundursachen? Darüber müsste man noch einmal reden können. Stattdessen unterstellt Lawrow dem Westen, Russland eine strategische Niederlage beibringen zu wollen. Er benennt die Essenz von Selenskis Friedensformel folgendermaßen: 

„Russland muss kapitulieren, Russland muss die Krim verlassen, den Donbass, Noworossija, Russland muss Entschädigungen zahlen, die russische Führung muss nach Den Haag und sich dem Tribunal ergeben, muss sich freiwillig bereit erklären, seine Waffen zu begrenzen, zumindest in den an Europa angrenzenden Gebieten“ (in Merkur.de, 1.4.2024).

Dazu kommt nach zwei Jahren Krieg und das begründet wiederum den neuen Fanatismus Russlands, dass die neuen Gebiete nun in der Verfassung der Russischen Föderation verankert sind( Peskow). Es hat sich erledigt aus russischer Sicht aufgrund der geschlagenen Schlachten (Lawrow). Putin hat das Nation Building der Ukraine komplett unterschätzt, aber bisher nicht die Schwächen des Westens falsch eingeschätzt. Wäre die westliche Unterstützung 2023 frühzeitiger, stärker und besser erfolgt, vor dem Bau der Surowikin-Verteidigungslinie, säße wohl jetzt Russland mit am Verhandlungstisch.

Die Teilnahme an Verhandlungen könnte auch für Russland eine Chance sein, wenn es Zugeständnisse macht, weil das den Druck auf die Ukraine erhöht, seinerseits Zugeständnisse machen zu können. Die weitere Isolierung Russlands beschädigt die Zukunft des Landes, je länger, je mehr, von den wirtschaftlichen Kosten und Perspektiven nicht zu reden. Ein Russland mit dem Rücken zur Wand wäre gefährlich.

Ziel der Konferenz ist nicht ein fertiges Friedensabkommen, sondern ein konkreter Fahrplan für die Beteiligung Russlands an einem Friedensprozess (NZZ, 12. April, S.24). Das klingt realistisch, konkret und hoffnungsvoll, ist aber äußerst schwierig. Dennoch sollte man nicht sagen: aussichtslos. Endlich ein erster Schritt zum Frieden, nachdem wir uns bisher nur über den Krieg, seine Zeit, Mittel und Entscheidungen Gedanken gemacht haben, ist notwendig.

Die Methode entstammt nicht der reinen Lehre. Die Strategie der Schweiz, zuerst die USA und China einzubinden, und dann explizit vor der ganzen Welt Russland zu Friedensgesprächen einzuladen, ist klug und erhöht den Druck auf Russland, international nicht abseits zu stehen und sich zumindest zu bewegen. Es will ja auch zusammen mit den BRICS-Staaten Einfluss auf eine neue Weltordnung nehmen. Grundlage dafür muss indes die Uno-Charta sein, das wollen auch die neuen wichtigen Akteure, die nach vorne drängen.

Krieg und Frieden denken

Wir mussten wieder lernen, Krieg und Verteidigung unter heutigen Bedingungen zu denken. Diese Zeit ist noch nicht vorbei, nicht nur in Europa, auch in Asien bildet sich eine neue Nato. Jetzt können, ja müssen wir aber auch wieder vertiefter und ernsthafter damit beginnen, den Frieden unter heutigen Bedingungen zu denken. Die Friedensforschung war bisher immer Konflikt- und Friedensforschung. Das wird besonders schwierig in einem „volatilen geopolitischen Umfeld“ (Cassis).

Der Bundesrat möchte die verschiedenen Friedenspläne, die bereits auf dem Tisch liegen, in den Dialog einbeziehen, also sowohl Selenskis 10-Punkte-Plan wie Chinas 12-Punkte-Friedensplan. Zwischen beiden gibt es relevante Überschneidungen, etwa in Bezug auf Souveränität und Territorialität. Und China will sich ja als Macht der friedlichen Koexistenz international zeigen, der Beweis steht noch aus.

Zur Verdeutlichung will ich die Punkte noch einmal nennen (siehe auch frühere Blogs):

Selenskis 10 Punkte :

1. Kernkraft
2. Nahrungsmittelsicherheit
3. Energieversorgung
4. Kriegsgefangene
5. Territoriale Integrität
6. Truppenrückzug
7. Kriegstribunal und Reparationen
8. Umweltschäden
9. Sicherheitsgarantien
10. Friedensvertrag

Chinas 12 Punkte :

1. Respektierung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität
2. Abkehr von der Mentalität des Kalten Krieges
3. Feindseligkeiten beenden
4. Wiederaufnahme von Friedensgesprächen
5. Beilegung der humanitären Krise
6. Schutz von Zivilisten und Kriegsgefangenen
7. Sicherheit von Kernkraftwerken
8. Vermeiden der strategischen Risiken
9. Erleichterung der Getreideexporte
10. Beendigung einseitiger Sanktionen
11. Aufrechterhaltung der Industrie- und Lieferketten
12. Förderung des Wiederaufbaus nach Konflikten

Im Mai wird Putin nach Peking reisen, Lawrow bereitet die Reise vor, dabei geht es vor allem auch um „russlandfreundliche Friedenspläne“. China könnte dann in Erfahrung bringen, zu welchen Konzessionen Russland eventuell bereit ist. Nach solchen sieht es im Moment jedoch überhaupt nicht aus, eher nach dem Gegenteil: nämlich weitere militärische Eskalationen in der Ukraine.

Russland begründet sie damit, dass es selber bedroht ist, nach den erfolgreichen Angriffen auf seine Ölraffinerien. Auch die legendäre Schwarzmeerflotte muss sich inzwischen verstecken vor den ferngesteuerten Seedrohnen, welche die Ukraine erfunden hat. „Wir stehen bis zum Ende“.

Der Ukraine, die im Krieg nicht nur erfolglos ist, und den Mythos der russischen Armee buchstäblich zerstört hat (Putin: „Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen“), droht derweil im Inneren ein langsames Ausbluten, nachdem der amerikanische Kongress bereits 8 Monate die nötigen Ukrainehilfen blockiert, was ein schändliches Verhalten einzelner republikanischer Politiker ist. 

Die Europäer können die schnelle und entschiedene Ausfallbürgschaft für die USA nicht übernehmen. Für die Ukraine, die an der Front schrittweise zurückweichen muss, sind Luftabwehr und Munition im Moment am dringlichsten. Die verschiedenen Zeitebenen von Krieg und Frieden müssen wir stets beachten.

Russland ist militärisch in der Offensive, auch gegenüber der zweitgrößten Stadt Charkiv. Was wir sehen, sind zerstörte Wohnhäuser und erste Familien, die evakuiert werden, möglicherweise droht wieder eine militärische Einkesselung. Ein Großteil aller Wärmekraftwerke sind bereits zerstört.

Der IAEA- Chef Rafael Grossi warnt zudem vor Angriffen auf das AKW Saporischja, beide Parteien geben sich wechselseitig die Schuld. Der Krieg geht unvermindert in aller Härte weiter und bedroht das Überleben der ganzen Ukraine.

Aber auch die Friedensdiplomatie im Hintergrund arbeitet weiter. Inzwischen hat auch die Türkei eine Friedensinitiative lanciert, nach welcher der Krieg mehr als ein Jahrzehnt eingefroren werden soll. Die USA und Russland verpflichten sich, keine Atomwaffen einzusetzen. 2040 soll die Ukraine in einem Referendum über ihren weiteren außenpolitischen Kurs entscheiden, bis dahin soll sie nicht der Nato beitreten. Gleichzeitig sollen in den besetzten Gebieten Referenden unter internationaler Kontrolle stattfinden.

Möglicherweise wollen Putin und Lawrow eine eigene Friedenskonferenz mit Erdogan, der ein Hasardeur ist und Gegenleistungen fordern wird, organisieren, wenn genügend Verbündete kommen. Die Weltpolitik auf dem Bürgenstock schmeckt ihnen deshalb nicht, weil die Ukraine Fähigkeiten zur internationalen Politik entwickelt hat, genauso wie Mariupol am Asowschen Meer Fähigkeiten zur eigenen Stadtentwicklung. Die russische Politik und Diplomatie dagegen ist offensichtlich nur noch zur Destruktion fähig und orientiert sich an der Vergangenheit und nicht an der Zukunft.

Ein Strohhalm

Zumindest gibt es einen Funken Hoffnung, so der treffende Kommentar von Georg Häsler (in NZZ, 12. April, S.15) : „Im Kern geht es darum, ohne Russland die Prinzipien für einen umfassenden, dauerhaften und gerechten Frieden festzulegen.“ Das scheint unmöglich, verhandelt indes werden Möglichkeiten unter Ländern, die wenig gemeinsam haben. Bei der ersten Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Juli 1973 war das auch so.

Der ‚amerikanische Metternich‘ Henry Kissinger hatte dazu eingeladen. Der fehlt heute. Immerhin wird es vielleicht der Anfang eines neuen Wiener Kongresses, auch ohne den großen Metternich. Am Ende sind es ohnehin nicht große internationale Konferenzen, die alles entscheiden, sondern starke verteidigungsfähige regionale Akteure wie Finnland, Schweden, die Balten, Polen, Tschechen u.a.

Die Bürgenstock-Konferenz kann zumindest zu einem Versuch werden, „Standards für den Austausch zwischen den Großmächten neu auszuhandeln“. Es ist ein Versuch, „die Überreste der regelbasierten Sicherheitsordnung zu reanimieren, die mit dem russischen Überfall auf die Ukraine in eine existenzielle Krise geraten ist.

„Maximal entsteht ein Format für eine minimale Entspannung“ (so Häsler a.a.O.). Sehr viel wäre tatsächlich schon erreicht, wenn dies für die chinesisch-amerikanische Konkurrenz zustande käme.

Bildnachweis: IMAGO / alimdi