Weltordnung?

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„Eine echte Weltordnung hat nie existiert. Was heute als Ordnung betrachtet wird, entstand vor 400 Jahren an einer Friedenskonferenz in Westfalen ohne Beteiligung oder gar Kenntnis der meisten anderen Kontinente und Zivilisationen,“, so Henry Kissinger (Weltordnung, München 2014, S.11), der bald seinen 100. Geburtstag erreicht und als Politiker wie als politischer Theoretiker der internationalen Beziehungen Gewicht hat.

Wir leben wieder in Kissingers-Welt, den wir im letzten Blog über das Weltwirtschaftsforum in Davos zitiert haben. Das ist zugleich die These des ehemaligen Deutschland- und Russland- Korrespondenten, des heutigen NZZ-Chefredaktors Eric Gujer in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises in der Frankfurter Paulskirche (22.5.). Der Ukraine-Krieg wird zweifellos mitbestimmen, wie die Welt(un)ordnung in den nächsten Jahrzehnten aussieht. Er markiert den Beginn eines offenen und unsicheren Jahrhunderts.

Die „liberale Weltordnung war nie mehr als eine Chimäre“ (NZZ, 27.5., S.14). „Der liberale Gedanke“, “ die Mixtur aus Marktwirtschaft, Menschenrechten und Massendemokratie, besass nie Weltgeltung. Stattdessen dominierte die einzige nach dem Mauerfall verbliebene Supermacht und erweckte so den Eindruck, als habe sich der liberale Gedanke in allen Himmelsrichtungen durchgesetzt.“ (a.a. O.). Man sollte sich auch bewusst sein, dass die 35 Staaten, welche die UN-Resolution gegen Russland nicht unterstützt haben, die Hälfte der Menschheit repräsentieren.

Russland und China haben die liberale Weltordnung indessen nie akzeptiert. Nach Kissinger müssen aber alle Beteiligten eine Ordnung akzeptieren können, die auf einer „balance of power“ beruht. Diese Ordnung muss zudem durchgesetzt werden können, sie beruht auf gemeinsamen Normen und nicht nur einer Rhetorik von Werten, die sich beliebig aufzählen lassen.

Zwei Begriffe sind wieder in den Vordergrund der politischen Reflexion gerückt: Geopolitik und Machtpolitik. Geopolitik beruht auf einem Zusammenhang von Territorium und Macht. Das heißt: Die Logik dahinter ist, je mehr Kontrolle über Territorium, desto mehr Macht und Einfluss. Xi und Putin scheinen definitiv so zu denken. Letzterer führt zerstörerische konventionelle Kriege und seit je, auch als ehemaliger Geheimdienstoffizier, wirkungsvolle hybride Kriege. Für seinen Informations- und Propaganda-Krieg gibt Russland viel Geld in aller Welt aus und ist nicht überall erfolglos.

Russland will die Ukraine beherrschen, und China den Pazifik. Mit welcher Macht kann und muss man diese offensichtlich aggressive Machtpolitik, die zu einer Bedrohung der Nachbarn und für den Weltfrieden wird, eindämmen? Das Problem sind die Größe, die Großideologie und das vertikale Verständnis von Macht.

Das Ziel der amerikanischen Eindämmungspolitik (Kennan) wurde mit dem Zerfall des russischen Imperiums erreicht, was im heutigen Russland, dem vom Westen bewunderten Gorbatschow, als Niederlage vorgeworfen wird. Danach gab es keine Strategie mehr gegenüber Russland, das seinen eigenen Weg suchte, während sich die USA auf China konzentrierte. Das atlantische Bündnis mit den USA und Großbritannien ist zentral und offensiv am 24. Februar 2022 wieder nach Europa zurückgekehrt., nachdem Frankreich und Deutschland die Nato vernachlässigten.

Die USA und GB wollen den Krieg in der Ukraine gegen Russland mit allen Mitteln gewinnen, ohne dass die Nato selber Kriegspartei wird, was gewiss ein schwieriger Balanceakt ist. So hat Biden bei aller entschiedenen Emotionalität und massiven Waffenlieferungen, in denen zunehmend Brisanz steckt, sowohl Flugverbotszonen wie neulich Raketen, die Russland erreichen können, abgelehnt. Die Munition der Raketenwerfer, von denen es verschiedene Typen gibt, soll nur bis 70 Kilometer gehen. 

Am 1. Juni heisst es in einem Gastbeitrag Bidens in der ‚New York Times‘ wieder, dass nun doch MLRS-Raketensysteme geliefert werden, die in die Tiefe wirken können und entscheidend für die Feldschlacht im Donbass, dem Epizentrum der Auseinandersetzung sind. Sie werden militärische Parität schaffen. Die Wirkungen von Sanktionen sind umstritten, die von Waffen nicht. Der Ton zwischen Kreml und Washington wird wieder rauer. Moskau warnt die USA vor einer direkten Konfrontation. Die Atomstreitkräfte zeigen sich einsatzbereit.

Gujer spricht von der Behauptung liberaler Demokratien gegenüber Diktaturen als “ dem zentralen geopolitischen Thema des 21. Jahrhunderts“ (NZZ, 27.5.). Dass sich auch die liberalen Demokratien in einem „fragwürdigen Zustand“ präsentieren, wird konzediert, was sowohl innere wie äußere Gründe hat. Das gilt insbesondere für die Führungsmacht USA wie alle Welt beim Machtwechsel von Trump zu Biden gesehen hat, aber auch für GB und Frankreich mit seinem republikanischen Ersatzmonarchen. Der NZZ-Chefredaktor glaubt indessen an die „Selbstheilkräfte“ der Demokratie: „Die geduldige Diskussion mit Corona-Leugnern, Putin-Verstehern und Kapitulationspazifisten sorgt für Inklusion“ – und nachhaltige Legitimation.

Das ist zutreffend, vor allem dann, wenn eine seriöse Demokratie der Wahlen und Abstimmungen hinzukommt, selbst in Pandemie-Zeiten wie in der Schweiz. Nichts integriert mehr und besser als eine funktionierende Demokratie, das lässt sich auch nach dreißig Jahren ostdeutscher Umbrucherfahrungen deutlich feststellen. Eine solche Demokratie wird sich im Innern behaupten, aber kann sie sich auch außenpolitisch ebenso behaupten im heutigen Konzert der Mächte? Das ist die Frage.

Hier wechselt die Ebene der Diskussion: es geht nun nicht mehr primär um Demokraten, die miteinander streiten, sondern um die Kunst der Diplomatie und die Theorie des Mächtegleichgewichts – um ‚Menschen und Mächte‘ (Schmidt 1987). Henry Kissingers ‚westfälisches System‘ – 1648 nach dem dreißigjährigen Krieg – wird modifiziert angewandt auf das 21. Jahrhundert. Die Akteure sind andere: Großmächte, Staaten, Staatsführer. Es geht um die Geschichte großer Männer und Staatskunst, um Denkschulen und Eliten, um Insiderwissen und Männerfreundschaften – mithin um eine Außenpolitik, die weitgehend von der Demokratie der Bürgerinnen und Bürger abgekoppelt ist. 

Wer kann hier noch mitreden und wie? Abgesehen davon, dass Bürger keine eigenen Armeen als Schulen für Sklaven akzeptieren können, können man/frau durchaus die Perspektive von Soldatinnen (60000 sind im Einsatz!) und Soldaten Ende Mai im Donbass einnehmen, dann weiss man/frau zum Beispiel, worauf es jetzt täglich ankommt. Die Waffenlieferungen sind das Entscheidende. Am 2.6. votiert zudem eine grosse Mehrheit der Dänen in einer Volksabstimmung für eine Aufhebung des EU-Verteidigungsvorbehalts, was auch eine Folge des Ukrainekrieges ist.

Schon in der kurzen vorbildlichen Zeit der antiken athenischen Demokratie waren vor allem zwei entscheidende Politikbereiche, von denen alle stark betroffen sind, nicht in den Händen der Demokratie: Militär und Finanzen. Die Strategen und Finanzexperten von heute sind erst recht nicht die Bürger. Das merkt man auch, wenn man den Ausführungen von Henry Kissinger in seinem fast 500seitigen Wälzer über Weltordnungen folgt oder, wenn man in Deutschland noch immer, die spezielle Kompetenz von Helmut Schmidt, des ersten sozialdemokratischen Verteidigungsministers (1969-72), wertschätzt. Beide dozieren Politik – nicht ohne Fehlurteile.

Schmidt argumentierte damals über Atomkrieg und Raketen wie heute über schwere Waffen debattiert wird. Herbert Wehner hob im Bundestag nicht ohne Stolz hervor, dass Schmidt darüber auch Bücher geschrieben habe (Verteidigung und Vergeltung 1961; Strategie des Gleichgewichts 1969). Welcher Politiker der Parlamentsarmee konnte da noch mithalten? Und die Bürger: sie waren beeindruckt. Später kam noch der ‚Weltökonom‘ Schmidt hinzu. Und damit noch mehr Insider-Wissen. Kissinger und sein Freund Schmidt haben auch Bücher über China als aufstrebende Weltmacht geschrieben, als das noch kein gängiges Thema war. Sie hatten also die große Welt vom ‚Feldherrenhügel‘ aus im Blick. Schmidt hat die russische Annexion der Krim 2014 noch erlebt und sich auch dazu geäußert (ARD, 29.4. 2015).

Wir wollen hier nicht wiederholen, was er zu Putin und den Sanktionen gesagt hat. Putins Russland ist jedenfalls von beiden erfahrenen Realpolitikern unterschätzt worden, genauso wie die Warnungen aus osteuropäischen Ländern, auf die man herabgeschaut hat. Die demokratischen Massen- und Freiheitsbewegungen in Polen (Walesa), der Ukraine (orangene Revolution), Belarus und anderswo auf der Welt waren eher nicht im Blick zugunsten einer Theorie der internationalen Politik, in deren Zentrum die Stabilität der Großmächte stand. Von den USA spricht der Emigrant Kissinger allerdings auch als „ambivalenter Supermacht“ (S. 313 ff).

Weltordnungsversuche kennt der Historiker Kissinger verschiedene, als politischer Theoretiker bleibt er ein europäischer Geist, der die neuere Geschichte der Globalisierung seit der Staffelübergabe an die USA mitumfasst. Dabei hatten der neuen Weltmacht GB (Irak) und Frankreich (Vietnamkrieg) mit ihrem Imperialismus und Kolonialismus viel giftiges Erbe mitgegeben, das noch immer schmerzhaft wirkt. Dies belegt, dass Globalgeschichte heute notwendig und unumgänglich ist, obschon man sie schwerlich vernünftig praktizieren kann.

Wie also können sich Demokratien außenpolitisch behaupten? Gujer spricht hier bezeichnenderweise von einer großen „Grauzone“. Das heißt: Trotz Systemkonkurrenz ist Realpolitik vonnöten. Welche? Eine weitere These lautet, dass China sich nicht so eindämmen lässt wie Russland, selbst wenn man die singuläre totalitäre Innenpolitik als Maßstab nimmt, denn Russland verliert und China gewinnt. Die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, die Ärztin und ehemalige Präsidentin Chiles Michelle Bachelet, übt nach ihrer sechstägigen Reise Nachsicht mit China, das einen Propagandaerfolg erzielen konnte.

Die inzwischen zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist der größte Handelspartner Deutschlands. China will nicht nur reich sein (es ist zurecht stolz darauf, den Hunger besiegt zu haben), sondern als Nation politisch auch strategisch stark werden. Das geht einher mit einer gewaltigen Aufrüstung, die sich militärisch bewusst ‚bunkersicher‘ macht gegen einen Atomkrieg. Taiwan fehlt noch. Können die EU als einheitlicher strategischer Akteur oder andere Akteure hier außenpolitisch wirksam werden?

Die Verflechtungen mit China sind ungleich grösser und vielfältiger als die mit Russland, deren Abhängigkeiten schwer genug wiegen, wenn Energie zu einer Waffe wird. Gujer empfiehlt in diesem Fall einen nüchternen, geduldigen und gelassenen Zugang zur Außenpolitik, die Probleme löst und nicht ideologisch als „terribles simplificateurs“ welche schafft: „Diplomatie als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“. Laut Gujer wäre es Hybris, gleichzeitig gegen Russland und China Front zu machen, was aber Biden mit seinen historischen Versprechen in Polen und Tokio explizit getan hat.

Ist er „senil“, wie gewisse Zeitungen schreiben. Ist der Westen schwach in den Augen von Xi? Beides stimmt nicht. Sicherlich ist nicht jede Kooperation ein Appeasement. Letzterer Vorwurf kann den beiden Siegern des 2.Weltkrieges USA und GB ohnehin nicht gemacht werden. Beim Irak-Krieg war es sogar ein falsches Argument von Bush und Blair, ebenfalls mit verheerenden Auswirkungen. 

Mit historischen Analogien ist deshalb in der politischen Theorie vorsichtig umzugehen, sie muss vielmehr mit historischen Kenntnissen Fall für Fall, Ereignis für Ereignis mit Wissen und Austausch konkrete Urteilskraft entwickeln. Die Welt ist nicht nur unsicherer und gefährlicher geworden, sondern auch unbekannter und in ihrer Hyperkonnektivität schwerer durchschaubar.

Bildnachweis: IMAGO / VCG